Die Frage nach dem Grund, warum wir durch die frĂĽhÂzeitige FremdÂbeÂtreuung eine lieÂbeÂvolle Bindung an unsere Kinder aufs Spiel setzen, hat mich seit langem beschäftigt. MĂĽssten unsere Babys und KleinÂkinder nicht den tief verÂwurÂzelten, natĂĽrÂlichen Impuls in uns aktiÂvieren, sie nahe bei uns haben zu wollen und ihnen Schutz und bedinÂgungslose Liebe zu geben? Das BedĂĽrfnis der Mutter nach Nähe zu ihrem Kind ist, wie beschrieben, eine KonÂstante des menschÂlichen Verhaltens.
Und doch wird die Trennung von Mutter und Kind als eine selbstÂverÂständÂliche HandÂlungsÂmögÂlichkeit gesehen. Vielfach wird es als SenÂtiÂmenÂtaÂlität abgetan, wenn eine Mutter Bedenken äuĂźert, schon KleinstÂkinder einer Gruppe anzuÂverÂtrauen, in der sie nicht die IntenÂsität von Nähe erfahren, die in der Mutter-Kind-Beziehung möglich ist.

Das aufÂstreÂbende BĂĽrÂgertum ĂĽbernahm diese neue Gewohnheit. Der enerÂgische ErzieÂhungsstil war AusÂdruck und damit auch Symbol poliÂtiÂscher, kulÂtuÂreller und wirtÂschaftÂlicher VerÂänÂderung. Kinder hatten sich vom ersten Tag an in die erwachsene Welt der Pflichten einÂzuÂordnen, sie hatten so »pfleÂgeÂleicht« wie möglich zu sein.
Nach und nach gaben auch ArbeiÂteÂrinnen ihre Kinder weg, oft zur NachÂbarin, wo sie vielfach mit Mehlbrei und Wasser, »zu Tode« ernährt wurden. Die FinÂdelÂhäuser quollen ĂĽber, es fehlte nicht nur die MutÂterÂbrust, sondern auch die lieÂbeÂvolle Zuwendung. Die indusÂtrielle, RevoÂlution benöÂtigte immer mehr ArbeitsÂkräfte, fĂĽr das Stillen blieb keine Zeit. 1866 gab es das erste NestlĂ©-BabyÂnahÂrungsÂprodukt, und damit schienen alle ProÂbleme endÂgĂĽltig gelöst.
Schon lange vorher war es unĂĽblich geworden, dass Eltern und KleinstÂkinder gemeinsam in einem Bett schliefen. Bereits im MitÂtelÂalter setzte sich die körÂperÂliche Distanz der Eltern zum Säugling durch. Damals preÂdigte die Kirche, dass die Kinder wegen der hohen SterÂberate durch ErstiÂckung und ErdrĂĽcken nicht im Elternbett schlafen sollten. Das war zwar eine Behauptung, die nicht zutraf, sondern AusÂdruck kirchÂlicher KörÂperÂfeindÂlichkeit, InzestÂbeÂfĂĽrchÂtungen einÂgeÂschlossen. Doch sie konnte sich bis zum heuÂtigen Tag beharrlich halten.
Das sogeÂnannte Co-Sleeping, also das gemeinsame Schlafen von Eltern und Kind, ist alles andere als gefährlich fĂĽr das Baby, das Gegenteil ist der Fall. Durch StuÂdiÂenÂverÂsuche mit Nacht- und WärÂmeÂkaÂmeras wurde belegt: MĂĽtter merken im Schlaf instinktiv, wenn mit ihren Kindern etwas nicht stimmt, wenn es zum BeiÂspiel zu warm wird oder die Gefahr eines plötzÂlichen KindsÂtodes entÂsteht. Ohne es selbst zu bemerken, stupsen MĂĽtter in solchen SituaÂtionen unbeÂwusst die Kleinen an, was die LuftÂzirÂkuÂlation sofort verändert.
Die einzige AusÂnahme, in der zum gemeinÂsamen NachtÂschlaf abgeÂraten wird, ist dann gegeben, wenn Eltern Nikotin, Drogen oder Alkohol zu sich genommen haben. In allen anderen Fällen gilt, dass das gemeinsame Schlafen einen besonders effekÂtiven Schutz fĂĽr das Baby bedeutet. Nicht zufällig ist in KulÂturen, in denen Kind und Eltern heute noch zusammen in einem Bett schlafen, die Rate des plötzÂlichen KindsÂtodes viel niedÂriger als bei uns.
Dennoch wird im Rhythmus von zwei, drei Jahren regelÂmäßig die Behauptung aufÂgeÂstellt, es sei gefährlich, wenn kleine Kinder im Bett der Eltern schliefen. Nach einigen Recherchen entÂdeckte ich einen der Urheber einer solchen Warnung. Es hanÂdelte sich um einen aufÂstreÂbenden MöbelÂherÂsteller, der anscheinend seinen Erfolg im Verkauf von KinÂderÂbetten sah. Man könnte schmunzeln darĂĽber, wären die Folgen nicht so fatal.
Wenn wir die Geschichte des famiÂliären ZusamÂmenÂlebens betrachten, fällt also auf, dass die räumÂliche und damit auch emoÂtionale Distanz zwiÂschen Eltern und Kindern immer stärker wurde. Selbst MediÂziner fielen in den Tenor ein, als Louis Pasteur auf die AnsteÂckungsÂgefahr durch Mikroben hinwies. Ein eigenes KinÂderÂzimmer wurde fortan als wichtige VorÂausÂsetzung fĂĽr die Gesundheit des SäugÂlings angesehen.
So gibt es bis zum Anfang des 20. JahrÂhunÂderts zahlÂreiche EinÂzelÂentÂwickÂlungen, die Kinder immer weiter von ihren Eltern entfernten.
Was viele nicht wissen: Unsere distanÂzierte Haltung zu unseren Kindern steht auch in einem direkten ZusamÂmenhang mit einem der dunÂkelsten Kapitel der deutÂschen Geschichte, dem Dritten Reich. Die TheoÂreÂtiker des NatioÂnalÂsoÂziaÂlismus erkannten frĂĽh, dass die Frage der KinÂderÂerÂziehung höchste poliÂtische Relevanz hatte. Das beschränkte sich nicht auf die erwĂĽnschte SteiÂgerung der GeburÂtenrate, die sich in der AusÂzeichnung mit dem »MutÂterÂkreuz-Orden« fĂĽr Frauen mit vielen Kindern ausÂdrĂĽckte. Es betraf vielmehr die konÂseÂquente EinÂflussÂnahme auf den vormals priÂvaten, famiÂliären Bereich von Geburt, MutÂterÂschaft und SäugÂlingsÂpflege. Es ging nicht nur darum, »dem FĂĽhrer Kinder zu schenken«, sondern die Kinder so frĂĽh wie möglich nach den MaĂźÂgaben des natioÂnalÂsoÂziaÂlisÂtiÂschen MenÂschenÂbilds zu formen.

Das begann damit, dass im Nazi-Staat die bereits zu Anfang des 20. JahrÂhunÂderts erprobten und rouÂtiÂneÂmäßig einÂgeÂsetzten schmerzÂstilÂlenden MediÂkaÂmente während der Geburt nicht mehr verÂwendet werden durften. Der GeburtsÂschmerz sei eine TapÂferÂkeitsÂprobe, so die neue LehrÂmeinung. Die GebäÂrende wurde zur SolÂdatin auf dem Schlachtfeld stiÂliÂsiert, und so komÂmenÂtierte denn auch der natioÂnalÂsoÂziaÂlisÂtische GynäÂkologe Walter Stoeckel die acht SchwanÂgerÂschaften seiner Frau: »Sieben Geburten und eine FehlÂgeburt sind sieben GesundÂheitsÂschlachten und eine Manöveranstrengung.«
Die ForÂderung, Frauen mĂĽssten den GeburtsÂschmerz ausÂhalten, hatte aber auch noch einen anderen HinÂterÂgrund: Auf diese Weise wurde die Mutter-Kind-Beziehung von vornÂherein negativ geprägt. Heute weiĂź man, dass eine massive Ablehnung des NeuÂgeÂboÂrenen durch den erlitÂtenen Schmerz während einer Geburt möglich ist, bis hin zu VerÂnachÂläsÂsigung und MissÂhandlung. Das wurde bewusst in Kauf genommen, um ȟberÂtriebene MutÂterÂgeÂfĂĽhle« von Beginn an zu unterÂbinden. Um das zu unterÂstĂĽtzen, wurde eine vierÂundÂzwanÂzigÂstĂĽndige Trennung von Mutter und Kind nach der Geburt proÂpaÂgiert, der natĂĽrÂliche Impuls nach Nähe zwangsÂweise unterdrĂĽckt.
Die draÂmaÂtiÂschen Folgen dieser Trennung sind heute hinÂreiÂchend erforscht, doch auch schon in den zwanÂziger Jahren hatten MediÂziner ErkenntÂnisse darĂĽber gewonnen, die nun bewusst in Kauf genommen, sogar begrĂĽĂźt wurden. Eine emoÂtionale Bindung der Mutter an ihr Kind, das sogeÂnannte Bonding, wird besonders mit der Erfahrung körÂperÂlicher Nähe zwiÂschen Mutter und NeuÂgeÂboÂrenem nach der Geburt gefördert. Frauen, die von ihren NeuÂgeÂboÂrenen getrennt werden, kann es längere Zeit schwerÂfallen, einÂfĂĽhlsam auf ihr Kind zu reagieren und eine innige Beziehung zu ihm zu entwickeln.
Den NatioÂnalÂsoÂziaÂlisten war das nur recht. Stand schon das GeburtsÂgeÂschehen unter der Leitidee, allzu groĂźe GefĂĽhle gar nicht erst entÂstehen zu lassen, setzte man dieses Denken mit den VorÂgaben zur SäugÂlingsÂpflege fort. In “Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind” legte Johanna Haarer, ĂĽberÂzeugte NatioÂnalÂsoÂziaÂlistin und Autorin von mehÂreren ErzieÂhungsÂbĂĽÂchern, eine umfasÂsende Anleitung vor, wie MĂĽtter mit ihren Kindern umgehen sollten. Das schaurige Werk der MĂĽnchner Ă„rztin mit ihren entÂsetzÂlichen EmpÂfehÂlungen erschien erstmals 1934 und wurde bis zum Ende des Krieges mehr als eine halbe Million Mal verÂkauft. 1936 kam “Unsere kleinen Kinder” auf den Markt, ebenÂfalls ein BestÂseller. Es wurde das GrundÂlaÂgenwerk der »ReichsÂmĂĽtÂterÂschulung« und galt als wegweisend.
Zwei Gedanken prägten Johanna Haarers BĂĽcher: die phyÂsische Trennung von Mutter und Kind und die emoÂtionale Distanz.
EinÂdringlich warnte sie vor einem ȆbermaĂź an Liebe« und empfahl, den Säugling einzig zum Stillen in den Arm zu nehmen. Mit anderen Worten: Wenn das Baby schreit, lautete die Devise: »Schreien lassen«; »Liebe Mutter, werde hart«, gab Haarer zu verÂstehen. »Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bette herÂausÂzuÂnehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem SchoĂź zu halten.« Das Stillen war allein zu festÂgeÂlegten Zeiten erlaubt und sollte so rasch und nĂĽchtern wie möglich erfolgen, da es ohnehin jeder Frau »auf die Nerven gehe«. Denn »sonst geht ein endÂloser KuhÂhandel mit den kleinen PlaÂgeÂgeistern los«.
PlaÂgeÂgeister? Die Schriften der Johanna Haarer degraÂdieren Kinder sysÂteÂmaÂtisch zu widerÂspensÂtigen StöÂrenÂfrieden, die man besser nicht zu nah an sich herÂanÂlässt. »Kleine NichtsÂnutze« nennt sie den NachÂwuchs, Erziehung ist fĂĽr sie der Kampf gegen den Willen des Kindes, alle eleÂmenÂtaren menschÂlichen GefĂĽhle werden als »AffenÂliebe« einÂgeÂstuft. ZärtÂlichÂkeiten waren verpönt, KĂĽsse wurden mit dem Hinweis auf »TuberÂkelÂbaÂzillen« als GesundÂheitsÂrisiko einÂgeÂstuft. Generell empÂfiehlt sie »das UnterÂlassen jeder unnöÂtigen BeschäfÂtigung« mit dem Kind. »Pflege und Wartung« seien disÂzipliniert durchÂzuÂfĂĽhren – eine Wortwahl, die eher an Autos erinnert als an den Umgang mit Kindern.
Alle kindÂlichen BedĂĽrfÂnisse nach GeborÂgenheit und Nähe werden als Tyrannei bewertet, im Zentrum der Mutter-Kind-Beziehung stand fĂĽr Haarer das PosÂtulat, das Kind zur »SelbÂstänÂdigkeit« zu erziehen. Was damit wahrhaft gemeint war, ist klar: Es ging darum, binÂdungslose Kinder herÂanÂzuÂziehen, die sich frĂĽh in das natioÂnalÂsoÂziaÂlisÂtische ErzieÂhungsÂsystem inteÂgrieren lieĂźen. SolÂdaÂtische Tugenden wie DisÂziplin und Gehorsam wurden den Kindern vom ersten Schrei an abgeÂfordert, das BereitÂstellen von NachÂwuchs, der sich mĂĽhelos in das System einÂgliedern lieĂź, war oberstes Gebot. Der NS-PädÂagoge K.F. Sturm schwärmte denn auch von jungen MenÂschen, die die Erfahrung des »deutschÂgeÂmeinÂschaftÂlichen Lebens« machten, und ReichsÂmiÂnister Wilhelm Frick forÂderte die »gliedÂhafte EinÂordnung« ins »VolksÂganze«. »Der PriÂvatÂmensch exisÂtiert nicht mehr, er ist begraben.«
AU — das klingt heute erschreÂckend, die poliÂtiÂschen Folgen sind bekannt. Und so ist es kaum zu verÂstehen, dass Johanna Haarers Werke nach dem Krieg nicht etwa in VerÂgesÂsenheit gerieten, sondern seit den fĂĽnfÂziger Jahren zahlÂreiche NeuÂaufÂlagen erlebten. Rund 1,2 MilÂlionen dieser BĂĽcher sind ĂĽber den LadenÂtisch gegangen.

Die GeringÂschätzung der Bindung, die Ablehnung der »kleinen PlaÂgeÂgeister« und »NichtsÂnutze« mit ihrem Wunsch nach mĂĽtÂterÂlicher Nähe und AufÂmerkÂsamkeit hat also eine unheilÂvolle TraÂdition in Deutschland, die sich im System der DDR fast nahtlos fortÂsetzte. Kinder wurden letztlich als »Sand im Getriebe« gesehen, als StörÂfaktor im wirtÂschaftÂlichen Geschehen, und die frĂĽhe FremdÂbeÂtreuung hatte ĂĽberdies den Vorteil, sie von vornÂherein der priÂvaten Obhut zu entÂziehen und sie auf die staatÂliche IdeoÂlogie einzustimmen.
Auch wenn heute vorÂderÂgrĂĽndig keine Gedanken dieser Art mit der ForÂderung nach frĂĽÂhester FremdÂbeÂtreuung von Kindern verÂbunden sind, so muss man die VorÂrangÂstellung der BerufsÂtäÂtigkeit vor den emoÂtioÂnalen BedĂĽrfÂnissen dennoch als ideoÂloÂgische EinÂflussÂnahme bezeichnen: Die ökoÂnoÂmiÂschen AnforÂdeÂrungen stehen heute im VerÂdacht, den Rang einer WeltÂanÂschauung und LebensÂeinÂstellung einÂgeÂnommen zu haben. Wir sollen »opferÂbereit« sein wie die MĂĽtter im NatioÂnalÂsoÂziaÂlismus, wir sollen unsere GefĂĽhle unterÂdrĂĽcken, uns von ihnen befreien, um ohne SehnÂsĂĽchte und ohne schlechtes Gewissen unserer ErwerbsÂtäÂtigkeit nachzugehen.
Bei der Frage von Babykrippen und BetreuÂungsÂeinÂrichÂtungen gilt daher nicht ohne Grund das Motto: »Je frĂĽher, desto besser. Wer sich bindet, ist schwach; wer sich mögÂlichst nĂĽchtern verhält und BinÂdungen verÂmeidet, ist am ehesten in der Lage, sein Kind fröhlich lächelnd in fremde Hände zu geben.« In EinÂrichÂtungen, wo es verÂsorgt, aber, ganz beÂstimmt nicht auf den Arm genommen und mit ZärtÂlichÂkeiten bedacht wird. Johanna Haarer wäre zufrieden.
Auszug aus dem BestÂseller Das Eva-Prinzip von Eva Herman, erschienen 2006
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