Der Sozia­lismus ist weder unaus­weichlich noch wis­sen­schaftlich oder “ethisch höher­stehend” — er ist eine Art Religion

Der Sozia­lismus erhält seine besondere Attrak­ti­vität daher, dass er ethische, poli­tische und wirt­schafts­po­li­tische For­de­rungen hat: Die „unmo­ra­lische” kapi­ta­lis­tische Wirt­schaft soll not­wen­di­ger­weise durch eine sozia­lis­tische Gesell­schafts­ordnung ersetzt werden, die höheren sitt­lichen Ansprüchen genügt.

Unent­rinn­barkeit des Sozialismus

Die quasi „wirt­schaft­liche Herr­schaft“ der Über- und Unter­ordnung in der kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­weise soll genos­sen­schaft­lichen Ord­nungen weichen. Nur so gäbe es wahre Demo­kratie. Zugleich aber ver­spricht der Sozia­lismus, die scheinbar irra­tionale Pri­vat­wirt­schafts­ordnung, die anar­chische Pro­fit­wirt­schaft, durch eine „ver­nünf­tigere“, weil nach ein­heit­lichen Gesichts­punkten geleitete Plan­wirt­schaft zu ersetzen.

Der Sozia­lismus erscheint damit als ein Ziel, dem wir zuzu­streben haben, weil es sittlich und weil es ver­nünftig ist. Es gilt, die Wider­stände zu besiegen, die Unver­stand und böser Wille seinem Kommen ent­ge­gen­setzen. (Ludwig von Mises, Die Gemein­wirt­schaft, S. 250)

Neben dieser geschickten vor­ge­schützten Ver­bindung von Ethik und Ratio­na­lität im Sozia­lismus wird von seinen Ver­treten behauptet, dass die sozia­lis­tische Gesell­schaft ein not­wen­diges Ziel und den End­punkt der geschicht­lichen Ent­wicklung bedeute.

Eine dunkle Macht, der wir uns nicht zu ent­ziehen ver­mögen, führt die Menschheit stu­fen­weise zu höheren Formen des gesell­schaft­lichen und sitt­lichen Daseins. Die Geschichte ist ein fort­schrei­tender Läu­te­rungs­prozess, an dessen Ende der Sozia­lismus als Voll­kom­menheit steht. (S. 250)

„Wis­sen­schaft­licher Sozia­lismus“ rekla­miert für sich, dass der Sozia­lismus „ein unent­rinn­bares und natur­not­wen­diges Ergebnis der im gesell­schaft­lichen Leben wir­kenden Kräfte (ist).“ Darin besteht der Grund­ge­danke des evo­lu­tio­nis­ti­schen Sozia­lismus, der sich in seiner mar­xis­ti­schen Form das Etikett „wis­sen­schaftlich“ ange­hängt hat. (S. 251)

Das auf dieser These beru­hende Denk­ge­bäude nennt sich „mate­ria­lis­tische Geschichts­auf­fassung“. Es bezeichnet zunächst eine bestimmte Methodik der geschichts­so­zio­lo­gi­schen For­schung, um die gesell­schaft­liche Gesamt­struktur der jewei­ligen Epoche zu bestimmen. Als sozio­lo­gische Lehre beinhaltet die mate­ria­lis­tische Geschichts­auf­fassung die Vor­stellung, dass die sozialen Klassen und der Klas­sen­kampf die bestim­menden his­to­ri­schen Wirk­kräfte seien. Schließlich ist aber auch die mar­xis­tische Geschichts­auf­fassung eine Fort­schritts­theorie und als solche „eine Lehre über die Bestimmung des Men­schen­ge­schlechts, über Sinn und Wesen, Zweck und Ziel des mensch­lichen Lebens.“ (S. 251)

Indem der Sozia­lismus gleichsam „wis­sen­schaftlich“ als unent­rinnbar bestimmt wird, ent­faltet diese These ihre prak­tische Wirk­samkeit dadurch, dass alle Gegner des Sozia­lismus als Reak­tionäre dastehen und sie es dem­entspre­chend ver­dienen, gebrand­markt zu werden.

Wenig anderes hat die Ver­breitung der sozia­lis­ti­schen Ideen mehr gefördert als der Glaube an die Unent­rinn­barkeit des Sozia­lismus, denn auch viele Gegner des Sozia­lismus stehen im Bann dieser Lehre und fühlen sich durch sie im Wider­stand gelähmt. Der Gebildete fürchtet, unmodern zu erscheinen, wenn er sich nicht vom „sozia­lis­ti­schen“ Geist beseelt zeigt, denn nun sei das Zeit­alter des Sozia­lismus, des „vierten Standes“ ange­brochen; und da wäre reak­tionär, wer noch am Libe­ra­lismus fest­halte. Jede Errun­gen­schaft des sozia­lis­ti­schen Gedankens, die uns der sozia­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­weise naher­bringt, wird als Fort­schritt gewertet, jede Maß­nahme zum Schutze des Sonder- bzw. Pri­vat­ei­gentums gilt als Rück­schritt. (S. 252)

Heils­er­wartung

Auch wenn der Gedanke der Not­wen­digkeit bestimmter geschicht­licher Ent­wick­lungen im Kern meta­phy­sisch ist, da er über die Erfahrung und über das Erfahrbare hin­ausgeht, fas­zi­niert er die Men­schen bis in die heutige Zeit. Nur Wenige können sich dem Bann des Chi­li­asmus, also der Heils­er­wartung, ent­ziehen, der in den reli­giösen Lehren zuhause ist. Die sichtbare Wie­der­kunft Christi soll ein tau­send­jäh­riges irdi­sches Reich des Heils errichten. Zwar von der Kirche als Ket­zerei ver­dammt, lebt der Chi­li­asmus als reli­giöse und poli­tische, vor allem aber als wirt­schafts­po­li­tische Revo­lu­ti­onsidee immer wieder auf. Der Mar­xismus ist ganz in diese Lehre der Heils­er­wartung ein­ge­bettet, die durch die Jahr­hun­derte mit immer neu erwa­chender Kraft schreitet und in gerader Linie zum phi­lo­so­phi­schen Chi­li­asmus führt. Die jüdisch-christ­liche Heils­er­wartung wurde von den Ratio­na­listen des 18. Jahr­hun­derts in das irdische Heils­ge­schehen als Revo­lution umgedeutet.

Die phi­lo­so­phische anthro­po­zen­trische Ent­wick­lungs-Meta­physik gleicht im Wesen der reli­giösen in jeder Beziehung. Die merk­würdige Mischung von eksta­tisch aus­schwei­fender Phan­tasie und all­täg­licher Nüch­ternheit und grob mate­ria­lis­ti­schem Inhalt ihrer Heils­ver­kündung hat sie mit den ältesten mes­sia­ni­schen Pro­phe­zei­ungen gemein. (S. 255)

Soweit es sich beim „wis­sen­schaft­lichen” Sozia­lismus um meta­phy­sische Heils­ver­kün­digung handelt, wird es ver­geblich bleiben, sich mit dieser Lehre wis­sen­schaftlich auseinanderzusetzen.

Gegen mys­tische Glau­bens­sätze kämpft man mit den Mitteln der Ver­nunft ver­gebens an. Fana­tiker kann man nicht belehren. (S. 258)

Im Gegensatz hierzu kann eine fried­liche sozia­lis­tische Gesell­schaft nicht als wahr gedacht werden, denn Sozia­lismus erfordert erzwungene Kon­trolle über die Pro­duk­ti­ons­mittel in den Händen der Obrigkeit, also des Staates, und damit Herr­schaft. Und Herr­schaft und Frieden können nicht gleich­zeitig bestehen. Denn Herr­schaft ist der Einsatz von Drohung, Zwang, und letztlich Gewalt, um die Handlung eines anderen zu bewirken oder an seinen Besitz zu gelangen, wohin­gegen Frieden gerade die Abwe­senheit von Drohung, Zwang und Gewalt ist.

Aller­dings geht der Mar­xismus noch über den tra­di­tio­nellen Chi­li­asmus hinaus. Die mar­xis­tische Lehre ver­bleibt nicht in der Meta­physik, sondern zielt seiner Zeit gemäß darauf ab, diese Vor­stellung rational zu begründen, auch wenn dies, wie wir gesehen haben, weder theo­re­tisch noch empi­risch möglich ist.

Die anti­li­be­ralen Ideen des Sozia­lismus richten sich gegen das System des Frei­handels und des Son­der­ei­gentums. Es wird behauptet, dass die Ver­kehrs­wirt­schaft anti­sozial sei und indi­vi­dua­lis­tisch und dass sie den sozialen Körper „ato­mi­siere“. Tat­sächlich aber ist es so, dass der markt­wirt­schaft­liche Verkehr nicht auf­lösend wirkt, sondern verbindend.

Erst die Arbeits­teilung lässt gesell­schaft­liche Bindung ent­stehen, sie ist das Soziale schlechthin … Wer durch den Klas­sen­kampf die gesell­schaft­liche Arbeits­teilung im Innern eines Volkes zu zer­stören sucht, ist anti­sozial. (S. 282)

Obgleich die sozio-öko­no­mische Theorie des Libe­ra­lismus wohl zum ersten Mal in der Geschichte Ein­sicht in die Gesetze gesell­schaft­licher Ent­wicklung erlangt hat und wir heute wissen, worauf der Kul­tur­fort­schritt beruht, sind mit den mili­ta­ris­tisch-natio­na­lis­ti­schen Ideo­logien und mit der sozia­lis­tisch-kom­mu­nis­ti­schen Lehre Feinde der zivi­li­sa­to­ri­schen Ent­wicklung auf­ge­treten, deren Ideen gesell­schafts­auf­lösend wirken. Diese Theorien nennen sich zwar sozial, aber beide wirken des­or­ga­ni­sierend und anti­sozial. (S. 281)

Der Untergang der libe­ralen Gesell­schaft auf der Basis der markt­wirt­schaftlich gesteu­erten Arbeits­teilung würde eine Welt­ka­ta­strophe dar­stellen, die sich mit nichts, was die uns bekannte Geschichte enthält, auch nur im Ent­fern­testen ver­gleichen lässt. Kein Volk bliebe von ihr ver­schont. Wer sollte die zer­störte Welt wieder auf­bauen? (S. 282)

Die hoch­pro­duktive arbeits­teilige Pro­duk­ti­ons­weise, die im Libe­ra­lismus und Kapi­ta­lismus ihre bisher größte Ent­faltung erlebt hat, war stets gefährdet und ist es auch heute noch. Kul­tur­feind­liche Ten­denzen erwachsen in der Gesell­schaft selbst. Eine Zivi­li­sation wächst, solange es ihr gelingt, die kul­tur­feind­lichen Ten­denzen zurück­zu­weisen. Schafft die Zivi­li­sation dies nicht, wird sie schließlich früher oder später ihr Schicksal ereilen und sie wird dem Geist der Zer­setzung erliegen. (S. 281)

Die mar­xis­tische Heils­er­wartung wird noch absurder, wenn man bedenkt, dass sie durch die Aus­tragung des Klas­sen­kampfes ver­wirk­licht werden soll. In der Marx­schen Theorie wird „Klasse“ zu einem poli­ti­schen Kampf­be­griff. Als Theorie des Klas­sen­kampfes hat sie eine gewaltige, bis heute andau­ernde Wirkung ent­facht, obwohl öko­no­misch betrachtet es diesem Konzept ganz und gar an Sub­stanz mangelt.

Je mehr der liberale Gedanke ver­blasste, desto starker wurde die Anzie­hungs­kraft der mar­xis­ti­schen Ver­heißung. Dieses Ver­sprechen aber beruht auf einem Fehl­urteil. Die frühen Sozia­listen glaubten, dass es in der klas­sen­losen eigen­tums­losen Zukunfts­ge­sell­schaft eine höhere Pro­duk­ti­vität als in der auf Son­der­ei­gentum beru­henden Gesell­schaft gebe. Diese These hat sich sowohl aus theo­re­ti­scher wir empi­ri­scher Sicht als voll­kommen falsch erwiesen.

Nur wenige Jahre nach dem kom­mu­nis­ti­schen Umsturz im Oktober 1917 musste der Sowjet­führer Lenin zugeben:

Die Dik­tatur des Pro­le­ta­riats in Russland hat größere Opfer, grö­ßeres Elend und größere Mühen mit sich gebracht, als es je in der Geschichte bekannt war … Wir müssen sie ver­teilen, um die Macht des Pro­le­ta­riats zu bewahren. Das ist unser ein­ziges Prinzip. (Lenin, 1921)

Die Sowjet­union ist am 26. Dezember 1991 zusam­men­ge­brochen. Sowjet­kom­mu­nismus war Ver­waltung des Mangels und ist nicht annä­hernd an das her­an­ge­kommen, was die Sozia­listen einst ver­sprachen. Im Gegenteil: Der Kom­mu­nismus brachte Not und Tod. Die sowje­tische Wirt­schaft exis­tierte im Wesent­lichen als Kriegs­wirt­schaft, also als Kom­mando- und Befehls­wirt­schaft. Der Sowjet­kom­mu­nismus war ein unnö­tiges Expe­riment. Schon 1920 hatte Ludwig von Mises in seinem Aufsatz zur „Die Wirt­schafts­rechnung im sozia­lis­ti­schen Gemein­wesen“ den Nachweis erbracht, dass ohne Preise, frei Märkte und ohne Pri­vat­ei­gentum an den Pro­duk­ti­ons­mitteln eine rationale Wirt­schafts­lenkung nicht möglich ist.

Hätten die Sozia­listen die Argu­men­tation von Mises beachtet, wären sie auch vor den Folgen der Kol­lek­ti­vierung der Land­wirt­schaft gewarnt worden. Der Holo­domor zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jahr­hun­derts mit seinen Mil­lionen von Toten war die Kon­se­quenz dieses sozia­lis­ti­schen Irrtums, von der Auf­hebung der Eigen­tums­rechte und der Betriebs­aus­weitung eine höhere Pro­duk­ti­vität zu erwarten.

Markt­wirt­schaft­liche Volksabstimmung

Die poli­tische Pro­pa­ganda der Mar­xisten besteht in der Ver­breitung des Glau­bens­be­kennt­nisses, der Sozia­lismus sei sowohl pro­duk­tiver als auch sittlich höher­stehend und dass er mit Sicherheit kommen wird. In all diesen Punkten ist der Sozia­lismus prak­tisch gescheitert und theo­re­tisch widerlegt worden.

Was die Sozia­listen in abs­trakter Weise ihrem uto­pi­schen Ide­al­modell zusprechen, geschieht in der kapi­ta­lis­ti­schen Praxis. In der Markt­wirt­schaft findet die demo­kra­tische Abstimmung tag­täglich statt.

Der Herr der Pro­duktion ist der Kon­sument. Die Volks­wirt­schaft ist, unter diesem Gesichts­winkel betrachtet, eine Demo­kratie, in der jeder Pfennig einen Stimm­zettel dar­stellt. Sie ist eine Demo­kratie mit jederzeit wider­ruf­lichem impe­ra­tivem Mandat der Beauf­tragten. (S. 412)

Der freie Wett­bewerb sorgt dafür, dass sich die Pro­duktion nach den Wün­schen der Ver­braucher richtet. Fehlt die Befrie­digung der Kun­den­wünsche, wird die Pro­duktion unren­tabel. Unter­nehmer, die bei dieser Aufgabe ver­sagen, werden von der Kon­kurrenz über­flügelt. Die aus Sicht der Kon­su­menten unfä­higen Unter­nehmer ver­lieren das Eigentum an den Pro­duk­ti­ons­mitteln und diese gelangen in die Hände jener, die besser imstande sind, die Pro­duktion im Sinne der Kunden zu leiten. Kapi­ta­lismus bedeutet Verbraucherdemokratie.

Sozia­lismus hin­gegen bedeutet Pro­du­zen­ten­dik­tatur, selbst dann, wenn darüber abge­stimmt wird, wer die Pro­duktion leitet, weil die Durch­führung und die Finan­zierung der Pro­duktion erzwungen werden. Der Kon­sument in der Markt­wirt­schaft kann Angebote der Pro­du­zenten schadlos ablehnen. Er wird nicht gezwungen, eine bestimmte Pro­duktion zu finan­zieren, von der er sich keinen Vorteil verspricht.

Demo­kratie ohne Libe­ra­lismus bedeutet, dass nurmehr das Mehr­heits­prinzip übrig­bleibt, aber der andere wesent­liche Inhalt, für den der Begriff „Demo­kratie“ auch steht, geht ver­loren, nämlich Selbst­be­stimmung und Selbst­ver­waltung im Gegensatz zu Fremd­be­stimmung und Fremdverwaltung.

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Dies ist der vierte Teil der Arti­kel­reihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemein­wirt­schaft. Unter­su­chungen über den Sozia­lismus“. Den dritten Teil finden Sie hier.

Dr. Antony P. Mueller ist habi­li­tierter Wirt­schafts­wis­sen­schaftler der Uni­ver­sität Erlangen-Nürnberg und Pro­fessor der Volks­wirt­schafts­lehre an der bra­si­lia­ni­schen Bun­des­uni­ver­sität UFS (www.ufs.br). Vor kurzem erschien sein Buch „Kapi­ta­lismus, Sozia­lismus und Anarchie: Chancen einer Gesell­schafts­ordnung jen­seits von Staat und Politik“ . Kontakt: antonymueller@gmail.com


Quelle: misesde.org