Vera Lengsfeld: Der Angriff auf die Lebenswelt

Der ver­häng­nis­vollste Satz der Phi­lo­so­phie­ge­schichte wurde von Karl Marx for­mu­liert: „Die Phi­lo­sophen haben die Welt nur ver­schieden inter­pre­tiert, es kommt darauf an, sie zu ver­ändern.“ Das haben Heer­scharen von Phi­lo­sophen, Poli­tiker und Kul­tur­schaf­fende als Weckruf begriffen und sind seitdem dabei, die Welt aus­ein­an­der­zu­nehmen, so dass kein Stein auf dem anderen bleiben soll.

Im tota­li­tären 20. Jahr­hundert hat das bereits zu Kata­strophen geführt, die weit über ein­hundert Mil­lionen Tote gekostet haben. Wer in der kurzen Zeit nach der Fried­lichen Revo­lution 1989/90 geglaubt hat, dass die Menschheit daraus gelernt hat und alles dafür tut, dass der tota­litäre Schoß, aus dem das Kroch, unfruchtbar gemacht wird, sieht sich getäuscht. Was die Möch­tegern-Welt­ver­än­derer betrifft, so haben sie tat­sächlich aus dem Ver­schwinden der bis an die Zähne atomar bewaff­neten poli­ti­schen Klasse gelernt, wie man sich unan­greifbar macht, indem man sich von der Welt und ihren Rea­li­täten total emanzipiert.

Als Bertold Brecht in einem Gedicht nach dem Arbei­ter­auf­stand des 17. Juni 1953 dem SED-Regime vor­schlug, sich doch ein neues Volk zu schaffen, war das ein absurd schei­nender Gedanke. Dass sich ein paar Jahr­zehnte später die Möch­tegern-Trans­for­ma­toren des „Great Reset“ genau daran machen, wäre dem Kom­mu­nisten Brecht nicht in seien schlimmsten Alp­träumen ein­ge­fallen. Die Welt, allen voran die west­liche, ist bereits in einem Maße dekon­struiert, dass ihr in Jahr­hun­derten gewach­sener Bestand nur noch als Skelett vor­handen ist. Ob dieses Skelett wieder mit Fleisch und Blut gefüllt werden kann, ist die drin­gendste Frage unserer Zeit. Warum wird sie nicht viel lauter und nach­drück­licher gestellt?

Das unter­sucht der Phi­losoph Michael Esders in seinem neuen Buch „Ohne Bestand – Angriff auf die Lebenswelt“, das in der Edition Son­derwege bei Manu­scriptum erschienen ist.

Die „Neue Nor­ma­lität“, die zu Beginn des Corona-Regimes pro­pa­giert wurde und von der es kein Zurück geben soll, ist im Kern „Der zunehmend mit offenem Visier geführte Angriff auf die Frei­heits­rechte, den Rerchts­staat und seine Insti­tu­tionen, die Gewal­ten­teilung, das Bil­dungs­wesen, die Freiheit der Wis­sen­schaften, der Wirt­schaft und den Mit­tel­stand, sowie die Familie…“. Es handelt sich nicht um ein plötzlich über uns her­ein­bre­chendes Phä­nomen, sondern um den vor­läu­figen Höhe­punkt einer jahr­zehn­te­langen Ent­wicklung. Der Kern ist, dass es die von den 68ern erfolg­reich unter­wan­derten Insti­tu­tionen sind, die als Treiber fungieren.

Enders unter­sucht diese Ent­wicklung in allen wesent­lichen Punkten sehr hell­sichtig. Das Buch ist leider in einem etwas schwer les­baren Phi­lo­so­phen­deutsch geschrieben, aber die Mühe, sich ein­zu­lesen, lohnt sich, denn der Erkennt­nis­gewinn ist enorm. Enders fügt die vielen Teile zu einem stim­migen Gesamtbild. Das ist sein großes Ver­dienst, denn man muss erst einmal genau wissen, womit man es zu tun hat, ehe man in der Lage ist, Hand­lungs­op­tionen zu ent­werfen. Wie gut, dass es noch Phi­lo­sophen gibt, die das Inter­pre­tieren nicht ver­lernt haben.

Warum wird der Haupt­an­griff der Trans­for­mierer auf den gewach­senen Bestand und unseres west­lichen Lebens­mo­dells geführt und warum gibt es so wenig Wider­stand dagegen?

Der Bestand einer Gesell­schaft ist über Jahr­hun­derte gewachsen. Er ist eine kul­tu­relle Prägung, die Vor­ver­ständnis und Vor­ver­stän­digung erreicht hat, auf der Ver­trauen und Insti­tu­tionen ruhen. In einer Gesell­schaft mit intaktem Bestand muss nicht jeden Tag das Zusam­men­leben neu ver­handelt werden, wie es Ex-Kanz­lerin Merkels Staats­se­kre­tärin Aydan Özoguz forderte.

Ver­trauen und Gemeinsinn sind die Quelle der „tra­genden homo­ge­ni­täts­ver­bür­genden Kraft“ auf die laut Ernst Wolfgang Böcken­förde der frei­heit­liche, säkulare Staat ange­wiesen ist. Wie sehr dieser Gemeinsinn schon dekon­struiert wurde, beweisen die stän­digen Beschwö­rungen des „gesell­schaft­lichen Zusam­men­halts“ in den mei­nungs­ma­chenden Medien. Sie gleichen fatal den Appellen an die „sozia­lis­tische Men­schen­ge­mein­schaft“ in der DDR.

Das es noch einen intakten Kern an Gemeinsinn gibt, bewies die Kata­strophe im Ahrtal, wo die Bür­ger­schaft mit viel Enga­gement das totale Ver­sagen der staat­lichen Insti­tu­tionen ersetzte und Schlim­meres verhinderte.

Das Corona-Regime ist eine Art Gene­ral­probe gewesen, wie weit die Trans­for­mierer „die goldene Gele­genheit“ (Charles III) nutzen konnten, ihre grund­stür­zenden Ände­rungen global durch­zu­setzen. Dafür erwies sich die Erzählung, eines ganz neuen, höchst­ge­fähr­lichen Virus, der die Menschheit mit Aus­sterben bedroht, als für die Dauer nicht geeignet. Zu stark waren die welt­weiten Ein­sprüche. Prak­tisch alle Argu­mente gegen die „Corona-Maß­nahmen“ waren schon in den ersten drei Monaten da und haben sich alle bewahr­heitet. Im Augen­blick haben die Trans­for­mierer alle Hände voll zu tun, eine Auf­ar­beitung der Corona-Politik zu verhindern.

Schon während des Corona-Regimes gab es laut­starke Stimmen, z.B. von Luisa Neu­bauer, dass die Corona-Maß­nahmen auf den Kli­ma­schutz ange­wandt werden müssten. Zu befürchten ist, dass genau dies ver­sucht werden könnte. Ob die Aus­ein­an­der­setzung wieder zugunsten der Kri­tiker aus­gehen würde, ist eine offenen Frage.

Am Ende seiner Analyse widmet sich Esders leider nur kurz der Frage, was ein wirk­samer Wider­stand gegen die Trans­for­mierer sein könnte.

Es ist das Ein­fache, das gar nicht so schwer zu machen ist: Die Sprache vor dem Gendern schützen, sich an Sprach­verbote nicht halten, die Familie schützen, den kul­tu­rellen Bestand ver­tei­digen, reale, nicht nur vir­tuelle Kon­takte pflegen, eigene Netz­werke auf­bauen, immer wieder Rechts­staat­lichkeit einfordern.

Die Geschichte lehrt, dass keine Dik­tatur ewig dauert, es liegt an uns, sich unsere Leben nicht aus der Hand nehmen zu lassen.

Michael Esders: Ohne Bestand: Angriff auf die Lebenswelt


Vera Lengsfeld — Erst­ver­öf­fent­li­chung auf dem Blog der Autorin www.vera-lengsfeld.de