Der Priester Roger Matassoli hat ein hohes Alter von 91 Jahren erreicht und während eines langen Lebens unter dem Schutz der katholischen Kirche wie ein Wolf unter seinen Schäfchen gewildert. „Zahlreiche“ Jungen soll er zwischen 1960 und 2000 missbraucht haben. Mehrere seiner damaligen Opfer, die heute erwachsen sind, haben sich geoutet.
Die Schwester eines seiner Opfer sagte dem Sender France TV „Tout le monde le savait“, alle haben es gewusst. Ihre Brüder Jacques und Paul gingen in den Katechismusunterricht bei Pfarrer Matassoli. Jacques ist mittlerweile gestorben. Seine Schwester Colette wird jetzt für ihre Brüder vor Gericht aussagen. Sie weiß einiges, denn der Abt war sehr gesellig. Er kam selbstsicher und gern zum Essen zur Familie und fühlte sich offenbar überall wohl und sicher bei seinen Taten. Schon damals kursierten Gerüchte in Agnetz und Umgebung, dass Matassoli 1967 versetzt worden war, weil er in seiner alten Gemeinde in Clermont kleine Jungens unsittlich berührt hatte. Colette fragte ihren jüngeren Bruder Paul, ob der Abt denn auch ihn belästigt hat. „Er erzählte mir, dass er im Haus des Abtes nackt geduscht habe und dass Matassoli auch nackt gewesen sei“. Daraufhin wandte sie sich an ihren älteren Bruder Jacques, der damals bereits 22 Jahre alt war. „Jacques war geistig retardiert und schweigsam. Er war ein zurückhaltender Junge. Er brach nicht in Tränen aus.“ Aber Jacques erzählte ihr, was er erlebt hat. Auch er war mit dem Abt in der Dusche. Er musste sich nackt auf des Priesters Bett legen. Es wurden Fotos gemacht, der Abt masturbierte vor den Jungen und berührte sie.
Colette berichtet, dass der Missbrauch an Jacques schon im Alter von sechs Jahren begann und erst endete, als Jacques 15 wurde. Die beiden Brüder waren nur zwei unter vielen, doch in dem Dorf herrschte eine Art „Omerta“. Niemand im Umfeld der Opfer wagte es, über Vorfälle und Namen zu reden, nur Gerüchte machten hinter vorgehaltener Hand die Runde. „Ich frage mich, wie er den Gläubigen, die zur Messe kamen, überhaupt in die Augen sehen konnte“, wundert sich Colette heute noch. Ihre Familie gehört zu den wenigen, die den Abt zur Rede stellten: „Mein Vater und Jacques gingen zu Matassoli, dass er seine Taten gesteht und den Missbrauch zugibt, den er meinem Bruder angetan hat. Das war ein wichtiger Moment für die ganze Familie.“ Doch der Priester stritt alles rundheraus ab und behauptete einfach, dass Jacques in seiner geistigen Einfalt lediglich wüste Geschichten erfinde.
Die Missbräuche gingen weiter, das Schweigen auch. „Roger Matassoli hatte Charisma“ erinnert sich Colette, ein lächelnder, freundlicher, moderner Mann sei er gewesen, im Gegensatz zu den eher altmodischen Leuten im Dorf. Ihre Brüder Paul und Jacques erzählten, Matassoli habe schon Cola und Orangina im Kühlschrank gehabt, als niemand in Agnetz wusste, was das war. Auf dem Dachboden hatte er eine große, elektrische Modelleisenbahnanlage, mit der er die Jungen aus dem Städtchen erfolgreich anlockte.
Doch trotz der Vielzahl der Fälle und obwohl die Taten des Priesters bekannt waren, musste er sich nie einem juristischen Verfahren oder einer innerkirchlichen Untersuchung, geschweige denn Bestrafung stellen. Aber auch die weltlichen Autoritäten stellten sich schützend vor den pädophilen Priester. Colettes Schwester trug die Angelegenheit mit ihren beiden Brüdern dem Stadtrat vor. „Redet nicht darüber, sonst haben wir keinen Priester in der Gemeinde“ war die Antwort. Colette ist heute noch schockiert: „Diejenigen, die die Kinder hätten beschützen müssen, haben den Priester beschützt. Der Priester wusste, wie man Menschen manipuliert und so haben wir nichts mehr gesagt. Und er hat ja auch eine Menge Sachen sehr gut gemacht.“
Sogar flehentliche Briefe an das Bistum mit der Bitte um Hilfe gehen verloren. Das müsse 2010 beim Amtswechsel zwischen zwei Bischöfen geschehen sein, sagt heute der amtierende Bischof von Beauvais, Jacques Benoit-Gonnin. Und auch, als ein anderes Opfer Matassolis, Jean Paul, den Bischof 2010 auf die ausgeprägte Pädophilie des Priesters aufmerksam macht, geschieht nichts.
Seit Juli 2018 haben sich drei Opfer des Priesters mit Beschuldigungen gegen Matassoli an die Staatsanwaltschaft in Beauvais gewandt. Ebenfalls erfolglos, denn die Taten sind verjährt. Heute würde er anders handeln, sagt der Bischof. Er habe nicht gewusst, dass es mehrere Opfer gegeben hat, und er sei heute sehr verärgert. Aber damals lag ihm nur die Aussage dieses einen Opfers vor und die Versicherung Matassolis, dass das alles nicht stimme, und es gebe ja nur diese einzige Aussage. Angeblich will der Bischof schon 2009 den belasteten Priester aus dem Amt entfernt haben wollen. Davon hat nur niemand etwas mitbekommen.
Ein ganzes, langes Leben lang kam der „Gottesmann“ so mit all seinen Verbrechen ungestraft davon.
Bis zum 4. November 2019. Der pensionierte Roger Matassoli lebte zurückgezogen in seinem Haus in Agnetz im Departement Oise. Der 19jährige Alexandre dringt in das alte, düstere Ziegelhaus von Roger Matassoli ein. Dort muss er den 91jährigen Priester brutal angegriffen und getötet haben. Die Autopsie stellte deutliche Spuren von harten Schlägen gegen Gesicht, Schädel und Bauch des Priesters fest. Die Todesursache sei Ersticken. Eine Szene, wie aus einem Horrorfilm: Alexandre hat dem alten Pfarrer ein Kruzifix die Kehle hinunter gerammt.
Der Täter war anschließend mit dem Auto des Geistlichen auf der Flucht. Erst Anfang Dezember 2019 konnte die Polizei ihn fassen. Nach der Festnahme wurde der junge Mann allerdings wegen seines psychischen Zustandes sofort in ein Krankenhaus eingeliefert. Er hatte einen Selbstmordversuch unternommen.
Alexandre V. wurde am 26. Dezember wegen Folter, Mord, „Akten der Barbarei“, Diebstahl, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Fahrens ohne Führerschein angeklagt. Er beruft sich auf sein Schweigerecht und gibt an, an den Tag und die Tat keinerlei Erinnerung zu haben.
Seine Anwältin, Madame Caty Richard verlangt, den jungen Mann am heutigen 8. Januar in eine Psychiatrische Klinik verlegen zu lassen. Der junge Mann sei seelisch schwer geschädigt. Er sei regelmäßig bei dem Priester zu Hause gewesen und habe dort gegen Geld „Hausarbeiten in unangemessener Kleidung“ geleistet.
Damit wurde erkennbar, wo das Motiv des Täters lag. Und tatsächlich offenbarte sich sehr schnell, dass hinter diesem Horrormord eine geradezu unfassbare Familientragödie zum Vorschein kommt.
Nicht nur der 19jährige Alexandre war jahrelang ein Missbrauchsopfer des Priesters gewesen. Das allein reicht schon aus, um schwere, seelische Störungen zu verursachen. Doch Auslöser der Tat war, dass Alexandre erfahren hatte, dass auch schon sein Vater Stephane in seiner Jugend zum Opfer des geistlichen Kinderschänders geworden war. Und dass Alexandres Großvater sich aus Verzweiflung das Leben genommen hatte, nachdem er erfahren hatte, dass Stephane sexuell missbraucht worden war. Drei Generationen, die durch die Schandtaten eines pädophilen, aber augenscheinlich unantastbaren Priesters vernichtet worden sind.
„Dieser Mann hat eine ganze Familie geschreddert“ sagte Vater Stephane der Zeitung „Le Parisien“. Der Teenager ertrug den Missbrauch jahrelang, der Vater wagte nicht, dagegen vorzugehen, weil er wie jeder andere wusste, dass es sinnlos sein würde, die Decke des Schweigens zu zerreißen. Als Alexandre das ganze Ausmaß des Leids dreier Generationen erfuhr, explodierte er in einem Ausbruch von Wut und Rache. Welch ein grauenhaftes, symbolträchtiges Bild: Der alte Priester — und Kinderschänder über Generationen — erstickt an einem in die Luftröhre gerammten Kruzifix.
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