Ich kann mich an die Farbe des Himmels erinnern, die irgendwo zwischen Ocker und Grün lag. Begleitet oder verursacht von einem immer heftiger werdenden, prasselnden Starkregen. Dann wurde das Geräusch dumpfer, tiefer, grollend. Schließlich kam die Flut, die unsere Straße vibrierend und donnernd in ein reißendes Flussbett verwandelte und das Straßenpflaster wie Dominosteine mit sich riss. Sirene, Stromausfall, Stille, geradezu schnittfeste, triefend nasse Luft. 1981 war das, und diesmal kam das Wasser nicht wie in den vielen hundert Jahren zuvor von der nahen Saale, in deren Auen und ehemaligen Flutlagen unser Dorf zu weiten Teilen liegt, sondern völlig unverhofft von der anderen Seite, von den Hügeln her. Es war eine Mischung aus Flutwelle und Murgang, was da die Hänge und Straßen hinab ins Dorf stürzte, Straßen wegwusch, eine ganze Wohnsiedlung wie beim Domino Haus für Haus, Stockwerk für Stockwerk unter Wasser und Schlamm begrub und den Fluthelfern eine eher unfreiwillige Vesper in Form von Wurstkonserven bescherte, welche auf einer weit entfernten Wiese auf meterdickem Schlamm am Ende ihrer kilometerlangen Reise aus den Kellern der Anwohner zur Ruhe kamen.
Es war gar nicht die Zeit für eine Flut. Solche kamen zuverlässig im Frühjahr mit der Schneeschmelze, und wir Kinder waren daran gewöhnt, gelegentlich die Heuwiesen bis zur Saale mit Waschzubern und selbstgebauten Flößen unsicher zu machen. Diese Flut war anders, diese Flut stürzte vom Himmel. Der Wasseranteil war nicht zu verhindern gewesen, zumal wir Kinder damals zwar viel hüpften, aber noch keine Ahnung hatten, dass es dadurch einen Klimawandel zu verhindern gelte. Das Wasser war nicht das Problem, sondern der Schlamm, den es als Nahrung und Wirkungsverstärker fand. Die Felder trugen nur spärlich Kulturen und das Regenwasser verband sich leicht mit der lockeren, ungeschützten Krume. Die in diesem Jahr fälschlicherweise bergauf angelegten Furchen auf einigen der Felder (der Schlendrian “volkseigener” Landwirtschaft ließ grüßen) taten ihr übriges und boten der Emulsion aus Erde und Wasser kaum Widerstand, sondern perfekte Rutschbahn. Eins kam zum anderen und das Unheil, welches Berge von Schlamm und Modergeruch aber auch tagelangen Schulausfall in unser Dorf brachte, nahm seinen Lauf.
Naturphänomene und Menschenkatastrophen
Die Menschheit hat gelernt, mit dem in Perioden verlaufenden „Normalzustand“ der Natur zurechtzukommen. Jahreszeiten sind kein Problem für uns, auch wenn Frühling, Sommer, Herbst und Winter als sprichwörtliche Hauptfeinde des Sozialismus in der DDR galten. Das hatte nämlich Gründe, die nicht in der Natur, sondern in der Natur des Sozialismus zu suchen sind. Doch Tag und Nacht haben wir für gewöhnlich im Griff, ebenso langzeitliche Klimaveränderungen, an die sich die Menschheit stets gut anpassen konnte. Niemand wurde in der letzten Eiszeit vom heranrollenden Eispanzer überrascht, niemand ist überrascht vom Spiel der Gezeiten. Doch immer wieder schaffen es kurzfristige Extreme der Natur, unsere Zuversicht zu erschüttern und die Modelle von zahmen, zuverlässigen, berechenbaren Naturphänomenen samt unseren Bauwerken und Vorsichtsmaßnahmen zum Einsturz zu bringen. Unsere Vorwarnsysteme werden zwar besser und auch die Wetterlage, die im Juli 2021 weite Gebiete Westeuropas überflutet hat, kam nicht ohne Warnung. Doch mit den technischen Möglichkeiten wächst auch die Zuversicht, dass alles schon nicht so schlimm kommen werde. Bei uns doch nicht! Wir haben doch gelernt, sind einsichtig, rücksichtsvoll mit der Natur, lieben reine Luft und sauberes Wasser, schützen das Klima und beschweren uns über das Wetter. Bilder von Fluten kommen gefälligst aus Drittweltländern, nicht aus Rheinland-Pfalz oder NRW!
Dazu kommt, dass der Mensch einfach nicht davon lassen kann, sich in Gebiete auszubreiten, in denen langfristig nicht nur die Natur, sondern auch die eigene Statistik gegen ihn ist, weil die Verlockung in Form von fruchtbaren Böden oder angenehmer Umgebung einfach zu groß ist. Wir siedeln in von Lawinen und Murgängen bedrohten Bergtälern und an den Hängen aktiver Vulkane. Der Mensch baut Urlaubsparadiese an flachen Stränden mitten in der Tornado-Alley oder errichtet Dörfer in ehemaligen Flussbetten, Überschwemmungsgebieten und schönen Seeufern. Wir glauben, die Natur „im Griff“ zu haben und wenn längere Zeit nichts passiert, verfestigt sich dieser Glaube an dieses nicht existente Gesetz der Serie. Zur Entlastung der Menschheit sei angeführt, dass die Entscheidungen, hier oder dort die Gefahr für gering zu halten und Siedlungen zu errichten, oft Jahrhunderte zurückliegt. Für Altenahr, eine der am heftigsten von Tiefdruckgebiet „Bernd“ gebeutelten Gemeinden, war es nach 1804 und 1910 nun schon das dritte verheerende Hochwasser nach einem Starkregen. Auch hier gilt: das ist keine wirkliche Serie, selbst wenn der Abstand von immer etwa 100 Jahren unseren Verstand geradezu einlädt, das nächste Unwetter im Jahr 2121 zu vermuten. Es kann schon nächste Woche so weit sein. Oder nie wieder. Die Flut jedoch dem Klimawandel in die Schuhe zu schieben, ist so faktenfern wie politisch kalkuliert verlogen.
Die Natur ist was sie ist, sie verhandelt nicht und belohnt weder überlegene Moral noch lautes Topfschlagen. Die Natur hat auch keine Rechnung mit uns offen und ist nicht auf Rache aus. Man muss einfach mit ihr leben und sollte zum eigenen Schutz immer einen „Plan B“, einen Ausweg, einen Fluchtweg parat haben für den Fall, dass Naturphänomene mal nicht innerhalb der erwart- und modellierbaren Grenzen ablaufen. Mit Regen, Ebbe und Flut kommen wir klar, erst bei Starkregen und Springflut stellt sich die Frage nach dem helfenden, koordinierenden Staat mit all seinen Ressourcen. Doch der ist mittlerweile eher mit leichtgewichtigen Themen wie dem imaginären Rassismus, Genderei, Quoten oder der Verteidigung des trägen Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks beschäftigt, während das Kerngeschäft innere Sicherheit, wo es dickere Bretter zu bohren gälte, immer mehr dem Schlendrian zum Opfer fällt.
Dass beispielsweise Altenahr teilweise in einem alten Flussbett oder Flutgebiet der Ahr liegt, ist eine Tatsache. Die immer wieder dort vorkommenden Flutkatastrophen haben eine Ursache darin. Daran wird sich nicht viel ändern lassen, auch wenn das Bewusstsein für solche Bedrohungen schon seit einiger Zeit erwacht ist und stümperhaftes Eingreifen des Menschen in Wasserläufe von Flüssen und Bächen heute mehr und mehr zurückgebaut wird. Gegen das Wasser des Starkregens waren die Bewohner der betroffenen Gebiete heute so machtlos wie die Mitbewohner meines Dorfes von 41 Jahren. Vergessen wir auch nicht die vielen kurzsichtigen Eingriffe in die Natur – seien es unterirdisch in Röhren abfließende Bäche, große versiegelte Flächen oder falsch gepflügte Äcker – und die Tatsache, dass die vom Wasser vernichteten Werte seitdem mit dem allgemeinen Wohlstand gestiegen sind.
Die materiellen Schäden mögen ruinös und individuell kaum zu ertragen sein. Dass jedoch im Deutschland des Jahres 2021, das sich für den Musterknaben der Weltrettung und leuchtendes Beispiel der Fernstenliebe hält, fast 200 Menschen bei einem Unwetter ums Leben kommen mussten, weil rechtzeitige Warnungen nicht ernst genommen oder nicht weitergeleitet wurden, macht mich fassungslos. Ein Land, dessen Regierung 2° Erderwärmung in hundert Jahren verhindern will und dabei die Warnung vor 200 Liter pro Quadratmeter für den nächsten Tag ignoriert, hat vor allem eines: ein ernstes Problem mit der Realität.
Quelle: unbesorgt.de
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