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Stein­meiers Rede an die Nation: „Cha­risma einer Scheibe Graubrot in der Spüle“? (+Video)

Die Europäer sind tief ver­un­si­chert. Nur allzu deutlich nimmt die Mög­lichkeit eines Dritten Welt­kriegs Gestalt an. Manche blenden das kom­plett aus und blaffen sofort über den „bösen Putin“ herum und winken ab, wenn man fragt, ob denn ein Dritter Welt­krieg die bessere Lösung sei, als die Pro­bleme zu lösen. Doch die Stimmen in der Politik, die eine diplo­ma­tische Lösung fordern, werden leiser. Die meisten Leute quer durch Europa, fürchten diese ganz bewusste Eska­lation. Egal mit wem man spricht, fast alle schauen sich erst um, ob sie „was sagen können“ und drücken dann, wenn die Luft rein ist, ihre Besorgnis darüber aus, was da auf uns zu kommt.

Sehr viele schütteln den Kopf: Wir wollten doch nie wieder Krieg?! Schon gar nicht gegen Russland! Wir waren doch alle über­zeugt, dass wir Men­schen gelernt haben, dass Krieg keine Lösung ist! Wie konnte es soweit kommen?!

In diese Situation hinein hält Bun­des­prä­sident Stein­meier seine Rede zur Nation. Den eta­blierten Medien fällt der Part, wo er Putin/Russland beschuldigt und ver­ur­teilt, teil­weise zu lasch aus. Herr Stein­meier steht in dem Ruf, schon immer sehr freundlich Russland gegenüber ein­ge­stellt zu sein. Er muss Abbitte tun in dieser poli­tisch auf­ge­heizten Stimmung gegen Putin und Russland. Und so übt er sich in Reue: „Der 24. Februar war auch mein Scheitern“.

Eigentlich weiß er es besser. Eigentlich weiß auch er, dass seit dem Euro­maidan im wider­stän­digen Don­bass­becken die Zivil­be­völ­kerung unter einer vor­geb­lichen „Anti­terror-Ope­ration“ extrem gelitten hat. Fast täglich gab es irgendwo Artil­lerie- oder Bom­ben­an­griffe, Spreng­stoff­an­schläge und tote Kinder durch die Kiewer Truppen. Aber das darf man nicht mehr sagen. Das wird ent­schlossen unter den Teppich gekehrt. Viel­leicht wird so etwas bald unter Strafe stehen.

Eigentlich weiß auch Prä­sident Stein­meier, dass es hier um die Vor­macht­stellung in der Welt geht und gna­denlos um Geo­po­litik. Aber das kann er nicht erklären, will es auch nicht, und es ist jetzt nicht seine Aufgabe. Seine Mission: So gut es geht die Deut­schen auf Kriegs­zeiten ein­zu­stimmen, auf Ent­beh­rungen, auf Not, Frieren, Strom­ausfall, mas­sen­hafte Fir­men­pleiten, Nah­rungs­mit­tel­mangel, bre­chende Lie­fer­ketten, Verarmung.

Eine Pflicht­übung. Nichts, als eine Not­wen­digkeit, der er sich unter­ziehen muss. Er müht sich ab. Ein großer, mit­rei­ßender Redner war er nie. Nur, als er von seinen Erleb­nissen im Kriegs­gebiet der Ukraine berichtet, schimmern Gefühle durch und selbst Erlebtes. Selbst dann, wenn er von „Epo­chen­wandel“ spricht und dass für Deutschland eine „Epoche im Gegenwind“ beginne … ange­messen epochal ist seine Rede nicht. Die Aus­sichten sind düs­terer als nur trüb. Soviel macht er klar. Er spricht von Krieg, Gewalt und Flucht, wirt­schaft­lichen Ver­wer­fungen (auch Not und Ver­elendung genannt). Das ist eine nüch­terne Auf­zählung, eine „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede ist es nicht. Statt­dessen spricht er von „indi­vi­du­ellen Anstren­gungen“. Die Kritik, dass er eine allzu büro­kra­tische Rede gehalten habe, ist nicht falsch..

Dafür wird er teil­weise heftig ange­gangen:

„Der Prä­sident hatte mit dem All­zweck­appell geendet, ‚alles zu stärken, was uns ver­bindet‘. Nun guckt Frank-Walter Stein­meier einer­seits zufrieden, ande­rer­seits lauernd ins Publikum. Höf­liches Klat­schen, na gut, aber warum steht keiner auf. Endlich erbarmen sich Men­schen an der Seite und erheben sich. Immerhin standing ova­tions, wenn auch pro­tes­tan­tisch kühl. Ist nun der neue Bun­des­prä­sident geboren, der mehr als Mahnen und Besorgtsein im Pro­gramm hat? Eher nicht.“

Ich bin weit davon ent­fernt, ein Fan von Bun­des­prä­sident Stein­meier zu sein. Doch Sätze wie diese lassen einem die Haare zu Berge stehen:

„Stein­meiers Total­ausfall ist ein Desaster, denn dieses Deutschland dürstet gerade nach rhe­to­ri­scher Richtung, sucht förmlich einen Leuchtturm, Zuspruch, Hoffnung und Iden­tität. Men­schen wollen nicht für nichts leiden, aber so muss es sich für sie anfühlen. Pola­ri­sierte, ver­ängs­tigte und auf­ge­riebene Bürger bräuchten jemanden, der poli­tische Führung wenigstens simu­liert, Ziele aus­macht, das Durch­halten zur Mission erhebt.“

Wie bitte? Uns sind die Sport­hal­len­reden mit Durch­hal­te­pa­rolen einer gewissen Macht­clique aus dem Geschichts­un­ter­richt noch sehr präsent. Brauchen wir jetzt Reden, die das Durch­halten zur Mission erheben? Nein. Brauchen wir Dem­agogen, die uns in ver­bit­terte Aggression reden, die uns einen Wel­ten­brand wün­schen lassen? Nein. Men­schen wollen grund­sätzlich über­haupt nicht leiden. Ja, manchmal muss man durch­halten. Das ist nicht schön, aber bis­weilen unab­wendbar. Das Leiden aber zur „hehren und hei­ligen Pflicht“ für – ja, was eigentlich? — hoch­zu­sti­li­sieren ist fatal. „Frieren für die Freiheit“, das hat schon Herr Ex-Bun­des­prä­sident Gauck ver­sucht, uns schmackhaft zu machen. Am besten fasst es der Autor, Herr Wie­duwilt selbst zusammen: „Als Trost­redner in der Pal­lia­tiv­station würde man ihn ohne Honorar vor die Tür setzen und am gleichen Tag die Schlösser austauschen.“

Treffer. Genau das sollte nämlich Herr Prä­sident Stein­meier tun: Der Pal­lia­tiv­station Europa ein­reden, dass das alles einen höheren Sinn habe und keiner dürfe bei diesem epo­chalen Schicksal bei­seite stehen. Der Unter­schied zwi­schen Europa und der Pal­lia­tiv­station ist nur der, dass die Tod­kranken in der Pal­lia­tiv­station keine andere Mög­lichkeit mehr haben und es ein Gna­denakt ist, ihnen die Angst vor dem Tod zu nehmen, so dass sie auf ihr aus­weg­loses Ende see­lisch vor­be­reitet sind. Europa aber könnte sehr wohl mit klei­neren Schrammen noch über­leben und damit auch der Ukraine auf bessere Weise helfen, indem man eine diplo­ma­tische Lösung sucht, mit der jeder leben kann. Der sich anbah­nende Untergang Europas ist eben nicht aus­weglos – und daher ist es kein unaus­weich­liches Schicksal, mit Hurra hinein zu rennen. Und: Deutschland ist so ziemlich das letzte Land, was ein mora­li­sches Recht hat, mit Russland Krieg anzu­fangen. Auch nicht für die Bestre­bungen der USA, Welt­macht Nummer eins zu bleiben. Vielen ist es nämlich sehr wohl klar, dass die USA – genauer: deren poli­tische Führung – Europa und vor allem Deutschland dabei als Bau­ern­opfer benutzt.

Das Gemäkel daran, dass Prä­sident Stein­meier keine „mit­rei­ßende Rede für die Geschichts­bücher“ abge­liefert hat, ist ober­flächlich und unwichtig. Die Show mag nicht gut genug gewesen sein. Aber darum sollte es eigentlich über­haupt nicht gehen. Mit­rei­ßende Moti­va­ti­ons­reden in solchen Situa­tionen sind immer dazu da, Leute in eine Situation hinein zu mani­pu­lieren und zu treiben, die sie bei kühlem Ver­stand gemieden hätten, wie der Teufel das Weih­wasser. Und diese jetzige Situation, in die uns unsere Regie­renden gebracht haben, haben ganz allein sie zu ver­ant­worten und somit alles, was daraus ent­stehen wird. Dem bekannt-schlechten Redner und miesen Rhe­to­riker Stein­meier vor­zu­werfen, er habe dieses giftige Paket nicht ver­lo­ckend genug ange­priesen, ist — mit Verlaub — scheinheilig.

Die Tat­sache, dass weder Bun­des­kanzler Olaf Scholz, noch Bun­des­tags­prä­si­dentin Bärbel Bas, noch irgendein ein Minister anwesend waren, spricht schon Bände.

Über­flüssig war aller­dings die Ermahnung des Herrn Bun­des­prä­si­denten, die „Neu­fünf­länder“ nicht im Stich zu lassen und „Ost­deutschland nicht erneut zum Benach­tei­ligten der Indus­trie­wende machen“. Die unbe­strittene Benach­tei­ligung der Länder im Ostern der Bun­des­re­publik war aber nicht das Ver­schulden der Bürger im Westen, sondern der Politik, die die Betriebs­stätten der alten „neuen Bun­des­länder“ sys­te­ma­tisch aus­ge­saugt und benach­teiligt haben. Die Ermah­nungen ergingen an die fal­schen Adres­saten. Auch das weiß Herr Prä­sident Steinmeier.

Die neue „Indus­trie­wende“ wird uns alle gleichweg scheren, die „Ossis“ werden aber sehr wahr­scheinlich die fin­di­geren und resi­li­en­teren Deut­schen sein. Da werden alte Tugenden, Struk­turen und Kennt­nisse der „gelernten DDRler“ wieder zur Anwendung kommen und die Wessis täten gut daran, das zu lernen.

Wenn schon eine Bun­des­prä­si­den­tenrede zur Ein­stimmung auf harte Jahre, Krieg, Not und Ver­elendung in Europa, dann lieber so eine, als eine schmet­ternd dem­ago­gisch-feurige Hymne an den gemein­samen Untergang als Wei­he­opfer für ima­ginäre „west­liche Freiheit und Tugenden“.

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