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Quo vadis eth­nisch plurale Gesell­schaft: Pro­jekt­staat oder Par­al­lel­ge­sell­schaft? (+Videos)

Die eth­nisch plurale Gesell­schaft ist (auch) in west­lichen Staaten innerhalb und außerhalb der EU Rea­lität. Die Anwe­senheit eth­ni­scher – oft auch: kul­tu­reller – Min­der­heiten in Gesell­schaften mit einer eth­ni­schen, gewöhnlich domi­nanten, Mehrheit ist keine neue Ent­wicklung, ist schon lange Rea­lität, wie schon der Verweis auf “alte” eth­nische Min­der­heiten wie z.B. die Sorben in Deutschland oder Sinti und Roma in Deutschland und in anderen Staaten zeigt.

Die eth­nisch plurale Gesell­schaft der neueren Zeit ist aber durch die alten Kon­zepten von eth­ni­scher Mehrheit und eth­ni­scher Min­derheit oder eth­ni­schen Min­der­heiten nicht mehr ange­messen zu beschreiben. Als Produkt der besonders während der letzten Jahr­zehnte stark beför­derten Libe­ra­li­sierung und Glo­ba­li­sierung des Ver­kehrs von Waren, Kapital und Men­schen umfasst die aktuelle eth­nisch plurale Gesell­schaft eine sehr große Anzahl von Men­schen ver­schie­denster Her­kunft, ver­schie­denster kul­tu­reller Prägung (am besten mit dem Fach­be­griff der “Enkul­tu­ration” bezeichnet) und damit zumindest teil­weise ver­schie­dener Nor­ma­li­täts­vor­stel­lungen, ver­schie­denster reli­giöser Zuge­hö­rig­keiten oder Nei­gungen etc., deren Moti­vation zur Migration und deren Pläne oder Absichten mit Bezug auf den Zielort sehr ver­schieden sein können.  Dem­entspre­chend hat sich auch die Dis­kussion über den gesell­schaft­lichen oder spe­ziell: poli­ti­schen Umgang mit eth­ni­schem Plu­ra­lismus verändert:

“Während man in den 70er Jahren hierbei [bei der Dis­kussion um das Ver­hältnis zu den ver­schie­denen Zuwan­de­rer­gruppen] als Schlüs­selwort über ‘Inte­gration’ [vor­rangig der Zuwan­derer in die Mehr­heits­ge­sell­schaft samt ihrer Nor­ma­li­täts­vor­stel­lungen und dem­entspre­chend als normal ange­se­henen Ver­haltens- und Ver­fah­rens­weisen] stritt, steht heute vielfach das Wort von der ‘multi-kul­tu­rellen’ Gesell­schaft im Mit­tel­punkt der Auseinandersetzung”,

so hielt Friedrich Heckmann bereits im Jahr 1992 in seinem Buch über “Eth­nische Min­der­heiten, Volk und Nation” (auf Seite 237) fest. Und tat­sächlich gilt Vielen heut­zutage die eth­nisch plurale Gesell­schaft quasi-auto­ma­tisch als eine mul­ti­kul­tu­relle Gesell­schaft. So ist z.B. Ben­jamin Barber (1999: 18) der Auf­fassung, dass “mul­ti­kul­turell” nahezu alle Gesell­schaften seien, weil in allen Gesell­schaften ab einer bestimmten Ent­wick­lungs­stufe mehrere Kul­turen neben­ein­ander (!) existierten.

Diese Auf­fassung ist m.E. falsch: Eth­nisch plurale Gesell­schaften müssen kei­neswegs mul­ti­kul­tu­relle Gesell­schaften in diesem Sinn sein; es gab und gibt Gesell­schaften, in denen auf eth­nische Min­der­heiten dahin­gehend Druck aus­geübt wurde, sich der Mehr­heits­ge­sell­schaft (aber nicht unbe­dingt der eth­ni­schen Mehrheit) anzu­passen, also nicht einfach “neben” anderen eth­ni­schen Gruppen zu exis­tieren, und tat­sächlich dürfte dies im Verlauf der Mensch­heits­ge­sichte der Nor­malfall gewesen sein. Mit der Rede von der “mul­ti­kul­tu­rellen” Gesell­schaft (also tat­sächlich: der eth­nisch plu­ralen Gesell­schaft) sind oft bestimmte und durchaus ver­schiedene Vor­stel­lungen darüber ver­bunden, wie eine “mul­ti­kul­tu­relle” Gesell­schaft aus­sieht oder aus­sehen sollte. Es behindert deshalb die Dis­kussion um den Umgang mit eth­ni­schem Plu­ra­lismus in einer Gesell­schaft, wenn man diese soziale Tat­sache verbal (und viel­leicht einer ganz bestimmten Auf­fassung von “mul­ti­kul­tu­reller” Gesell­schaft) mit “mul­ti­kul­tu­reller” Gesell­schaft gleichsetzt.

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Wer die “mul­ti­kul­tu­relle” Gesell­schaft nicht einfach mit (jeder Art von) eth­nisch plu­raler Gesell­schaft gleich­setzt, dürfte unter “mul­ti­kul­tu­reller” Gesell­schaft wohl das ver­stehen, was gemeinhin als ein­fäl­tiger Gesell­schafts­entwurf ange­sehen wird, aber dennoch (oder gerade deshalb) bestimmte Men­schen emo­tional stark anspricht: Es ist die uto­pische (oder dys­to­pische, je nachdem) Vor­stellung von einer Gesell­schaft, die an uni­ver­salen Men­schen­rechten (samt uni­ver­saler Frei­zü­gigkeit) ori­en­tiert ist und niemand von irgend­etwas aus Gründen seiner Her­kunft, seiner Religion, seiner Haut­farbe etc. aus­ge­schlossen ist oder aus­ge­schlossen werden kann und in der alle in umfas­sender Gleichheit kon­fliktfrei, wenn nicht glücklich und zufrieden, leben. Dies ist die Variante von “mul­ti­kul­tu­reller” Gesell­schaft der, so könnte man sagen: Über­zeu­gungs­täter in den Reihen u.a. der Grünen und der Gewerkschaften.

Diese Vor­stellung ist aus ver­schie­denen Gründen ein­fältig, aber vor allem deshalb, weil das fried­liche Zusam­men­leben von Men­schen aus sehr vielen anderen Gründen als z.B. Vor­ur­teilen gegen Men­schen mit anderer Haut­farbe oder Kon­flikten zwi­schen Anhängern ver­schie­dener Reli­gionen gestört sein kann und die Zwangs­gleich­stellung von Men­schen mit soge­nannten geschützten Merk­malen (Haut­farbe, Geschlecht, sexuelle Ori­en­tierung etc.) durch einen über­grif­figen, wenn nicht tota­li­tären Staat, daher kein fried­liches Zusammen- (oder nur Neben­ein­an­derher-) Leben der Men­schen in der Gesell­schaft wird schaffen kann (aber durchaus Anlass für Revolten von Bürgern gegen den Staat sein kann).

Petrus Han (2000: 337–338) hat ein anderes Argument gegen die Vor­stellung von der “mul­ti­kul­tu­rellen” Gesell­schaft vor­ge­bracht, dessen Kern seine Kritik am der Vor­stellung zugrun­de­lie­genden Kul­tur­be­griff ist:

“Die Idee der mul­ti­kul­tu­rellen Gesell­schaft hat das fried­liche Zusam­men­leben der Men­schen unter­schied­licher Kul­turen zum Ziel. Indem sie jedoch von einer Fiktion der Unver­än­der­barkeit natio­naler und kul­tu­reller Iden­ti­täten ausgeht und deren Kon­ser­vierung als zwingend not­wendig sug­ge­riert, führt sie kon­tra­pro­duktive Aus­wir­kungen herbei, weil dadurch indirekt die Unter­schiede und Gegen­sätze zwi­schen den Kul­turen ver­stärkt werden. Sie erinnert Men­schen an ihre kul­tu­relle Her­kunft und ver­hindert dadurch unvor­ein­ge­nommene soziale Inter­ak­tionen … Die Idee der mul­ti­kul­tu­rellen Gesell­schaft fördert sug­gestiv eth­nische Grenz­zie­hungen und bewusste Fremd­heits­er­fah­rungen zwi­schen den Men­schen. Sie ver­anlaßt, eigene und fremde Kul­turen zu ver­gleichen …, abzu­grenzen und eth­no­zen­trisch zu bewerten. Sie fördert in ihrer Kon­se­quenz die Eth­ni­sierung der Gesellschaft”,

(wobei unter “Eth­ni­sierung” die (Wieder-)Relevantsetzung bzw. Mobi­li­sierung von eth­ni­scher Iden­tität zu ver­stehen ist.)

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Dies schriebt Han vor 24 Jahren (Han 2000: 337), und wir sind heute in der Lage, in der Rück­schau fest­zu­stellen, dass er Recht hatte: Wir leben in Gesell­schaften, in denen eth­nische Iden­tität zunehmend öffentlich insze­niert und als relevant für die Gesamt­ge­sell­schaft gesetzt wird, wie erkennbar wird, wenn z.B. in Städten (wie z.B. in London) die Straßen mit “Ramadan”-Schmuck aus­ge­stattet werden. Gleich­zeitig findet das christ­liche Fest Ostern kei­nerlei Wür­digung, womit eth­nische Iden­tität als kon­kur­rierend mit anderen eth­ni­schen Iden­ti­täten oder gar als Null­sum­men­spiel, in dem es nur Gewinner und Ver­lierer geben kann, insze­niert wird. Dies wirkt sicher nicht frie­dens­för­dernd, sei es hin­sichtlich des Friedens zwi­schen Mus­limen und Christen oder Ange­hö­rigen anderer Reli­gionen (oder Athe­isten) oder sei es hin­sichtlich des Friedens zwi­schen Bürgern und einer Ver­waltung, die solches erlaubt und ermög­licht, gar aus Steu­er­mitteln aller Bürger finan­ziell fördert.

Die­selbe Insze­nierung von eth­ni­scher Idenität (oder hier: Zuge­hö­rigkeit) findet man z.B. in der Wer­be­branche. So kommen u.a. in den abend­lichen Wer­be­blöcken von Fern­seh­sendern kaum mehr und oft über­haupt keine weißen Men­schen mehr vor, obwohl ihre Zuschauer (weit) mehr­heitlich weiße Men­schen sind. Ihnen soll offenbar die Bot­schaft ver­mittelt werden, dass sie – trotz der demo­gra­phi­schen Rea­lität, die nach wie vor, außer in bestimmten Stadteilen bestimmter Städte, anders aus­sieht – eine demo­gra­phische Min­derheit im Land dar­stellen würden oder zumindest eine “Min­derheit” in dem Sinn, dass ihre Bedürf­nisse und Wünsche, ja, sogar ihre Präsenz, irrelevant sind und dem­entspre­chend keine Beachtung finden – oder zu finden brauchen, da ihnen aktuell ja auch ver­mittelt werden soll, dass sie ohnehin auf­grund ihrer weißen Haut­farbe “pri­vi­le­giert” seien (von wem und in welcher Hin­sicht auch immer) und es ihnen ganz gut täte, als Bürger sozu­sagen in die zweite Reihe (oder noch weiter nach hinten) gestellt zu werden. Auch dies aktua­li­siert ständig die Bedeutung von Haut­farbe oder Her­kunft und führt – mehr oder weniger subtil – eine Rang­folge der Wer­tigkeit bestimmter Haut­farben oder eth­ni­scher Zuge­hö­rig­keiten ein (und dann sind wir noch nicht bei der Analyse der Wer­be­spots selbst, die teil­weise die Schwelle zur Abwertung oder Ver­al­berung weißer Men­schen über­schreitet). In jedem Fall werden Haut­farbe oder eth­ni­scher Her­kunft auf diese Weise fort­laufend als bedeutsam gesetzt und Zuschauern sug­ge­riert, sie seien in der Rea­lität bedeutsam oder sollten für sie bedeutsam sein. Was damit erreicht wird, ist eine weitere Eth­ni­sierung der Gesell­schaft, in deren Zug Haut­farbe oder eth­nische Her­kunft ver­mutlich auch bei solchen Men­schen, für die Haut­farbe oder Her­kunft bislang keine oder keinen nen­nens­werte Bedeutung hatte, Relevanz erhält.

Wenn Weiße in Werbung vor­kommen, dann häufig in einer absto­ßenden und ent­mensch­lichten Weise.

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Dies sind nur zwei Bei­spiele für Pro­zesse, die die (weitere) Eth­ni­sierung einer Gesell­schaft vor­an­treiben, und wenn diese erst einmal eta­bliert ist, ist es schwierig, sie wieder abzu­bauen. Es ist deshalb bezeichnend, dass wir seit relativ Kurzem nun auch kon­fron­tiert sind mit den Ver­zweif­lungs­taten von Regie­rungen und Ver­wal­tungen, die ange­sichts der ein­ge­tre­tenen Eth­ni­sierung “ihrer” Gesell­schaften Frieden nur noch mit Hilfe von Hassrede- und ähn­lichen Gesetzen erhalten zu können glauben – sie sind m.E. das deut­lichste und end­gültige Ein­ge­ständnis des Schei­terns der “mul­ti­kul­tu­rellen” Gesell­schaft. Dass Hass­reden-Gesetz­gebung eben­falls zum Scheitern ver­ur­teilt ist, ist schon deshalb der Fall, weil die ent­spre­chenden Gesetze (ebenso wie die Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­stellen in Deutschland) darauf abzielen, bestimmte Gruppen mit soge­nannten geschützten Merk­malen, aber nicht andere, davon abzu­halten, ihre Bedürf­nisse und Ansprüche zu for­mu­lieren. Hassrede ist also ein Problem oder kein Problem, je nachdem, auf wen sie sich bezieht, so dass die Setzung einer Rang­folge der Wer­tigkeit bestimmter Haut­farben oder eth­ni­scher Zuge­hö­rig­keiten, die auch in der Wer­be­branche zu beob­achten ist, in der Rechts­praxis repro­du­ziert wird – kein Rezept, zum Erhalt oder zur Schaffung eines fried­lichen Zusammen- (oder Nebeneinanderher-)Lebens!

Was statt der “mul­ti­kul­tu­rellen” Gesell­schaft durch poli­ti­schen Willen und Ori­en­tierung an Ideo­logie statt Rea­lität und Prag­ma­tismus geschaffen wurde, ist also eine eth­ni­sierte Gesell­schaft, in der eth­nische Her­kunft, Haut­farbe, kul­tu­relle Gewohn­heiten, reli­giöser Glauben u.a.m. statt in ihrer gesell­schaft­lichen Bedeutung rela­ti­viert worden zu sein, zu einer neuen Bedeutung und Wich­tigkeit ver­holfen wurde. Und dies ist nicht nur und nicht vor allem im Bereich indi­vi­du­eller Ein­stel­lungen der Fall, die derzeit gerne – wahr­scheinlich wegen des ver­meint­lichen Abschre­ckungs­po­ten­zials des Wortes aber dennoch his­to­risch wie sachlich völlig unan­ge­messen – als “Ras­sismus” bezeichnet werden.

Es ist vor allem – und mit weit gefähr­li­cheren Folgen – auf der gesell­schaft­lichen Ebene der Fall. Im Zuge des neuen “ethnic revival”, d.h. einer Wie­der­be­lebung allen Ethnischen/Kulturellen, erfolgte eine eth­nische Mobi­li­sierung in ver­schie­denen Formen, besonders in der Form des Kom­mu­na­lismus, im Zuge dessen eth­nische Gruppen ver­suchen, die Ange­le­gen­heiten der Gemeinden, in denen sie die Mehrheit aus­machen oder zumindest eine große Min­derheit, in eigenen Ein­rich­tungen zu regeln. Dagegen ist solange nichts ein­zu­wenden, solange es nicht in Kon­kurrenz tritt zu den Grund­prin­zipien des bestehenden Rechts­staates samt der Werte, auf denen er basiert, denn wenn Kom­mu­na­lismus in Kon­kurrenz zu den Werten, auf denen bestehende rechts­staat­liche Regeln basieren, und letztlich zu den rechts­staat­lichen Regeln selbst tritt, dann besteht die Gefahr, dass sich eine eth­nische Min­derheit den Staat – zunächst teil­weise – aneignet bzw. die rechts­staat­lichen Regeln zunehmend rela­ti­viert und letztlich und mit großer Wahr­schein­lichkeit zuun­gunsten anderer oder aller anderen eth­ni­schen Gruppen aus­höhlt. In der Praxis ist aller­dings fraglich, wie weit Kom­mu­na­lismus gehen kann, ohne genau dies zu tun.

So gibt es z.B. im Ver­ei­nigten König­reich den “Islamic Sharia Council” (ISC), was man etwa mit “Isla­mi­scher Rechtsrat” über­setzen könnte, der im Jahr 1982 ein­ge­richtet wurde,

“… to solve the matri­monial pro­blems of Muslims living in the United Kingdom in the light of Islamic law. The Council com­prises of members from all of the major schools of Islamic legal thought … and is widely accepted as an aut­ho­ri­tative body with regards to Islamic law”,

d.h.

“… um die ehe­lichen Pro­bleme der im Ver­ei­nigten König­reich lebenden Muslime im Lichte des isla­mi­schen Rechts zu lösen. Der Rat besteht aus Mit­gliedern aller großen Schulen des isla­mi­schen Rechts­ge­dankens … und wird weithin als ein maß­geb­liches Gremium in Bezug auf das isla­mische Recht akzeptiert”.

Bislang hat der “Islamic Sharia Council” keine offi­zielle, d.h. staatlich garan­tierte Rechts­gewalt, aber er schafft dennoch Tat­sachen, und sei es nur, indem er bestimmte Ange­le­gen­heiten dem Rechts­system durch Arbeit im Vorfeld entzieht.

“However, there are con­cerns that Sharia councils may be estab­li­shing legal pre­ce­dents. According to Amin Al-Astewani, a law lec­turer at Lan­caster Uni­versity, the law does provide some avenues for decisions made by Sharia councils to accrue legal status. While the courts retain sole aut­hority over legally-binding jud­ge­ments, couples who have a reli­gious but not a civil mar­riage might find them­selves to be in a con­tractual rela­ti­onship when it comes to any financial agree­ments that, for example, relate to dowries or other financial sett­le­ments agreed in the mar­riage con­tract or nikah” (Tor­rance 2019: 3–4),

d.h.

“[e]s gibt jedoch Bedenken, dass die Scharia-Räte recht­liche Prä­ze­denz­fälle schaffen könnten. Laut Amin Al-Astewani, einem Dozenten der Rechts­wis­sen­schaften an der Lan­caster Uni­versity, sieht das Gesetz einige Wege für Ent­schei­dungen vor, die von Scharia-Räten getroffen werden, um Rechts­status zu erlangen. Während die Gerichte alleinige Auto­rität über rechts­ver­bind­liche Urteile behalten, können sich Paare, die eine reli­giöse, aber keine stan­des­amt­liche Ehe geschlossen haben, in einem Ver­trags­ver­hältnis mit Bezug auf finan­zielle Ver­ein­ba­rungen befinden, die sich zum Bei­spiel auf Mit­giften oder andere finan­zi­ellen Ver­ein­ba­rungen in einem Ehe­vertrag oder Nikah [einem Ehe­vertrag, der Teil einer reli­giösen Ehe­schliessung im Islam ist] beziehen” (Tor­rance 2019: 3–4).

Und dieses Ver­trags­ver­hältnis kann rechts­re­levant sein:

“In Uddin v Choudhury & Ors (2009) a court was pre­pared to accept evi­dence of an arranged mar­riage under Sharia law for the pur­poses of civil pro­cee­dings that related to a dispute over the return of the dower to the wife’s family, and whether gifts made to the wife should be returned to the groom’s family” (Tor­rance 2019: 4),

d.h.

“[i]n Uddin gegen Choudhury & Ors (2009) war ein Gericht bereit, Beweise für eine arran­gierte Ehe nach der Scharia zum Zwecke eines Zivil­ver­fahrens zu akzep­tieren, das mit einem Streit über die Rückgabe der Mitgift an die Familie der Frau zusam­menhing, und mit der Frage, ob Geschenke an die Frau an die Familie des Bräu­tigams zurück­ge­geben werden sollten” (Tor­rance 2019: 4).

Auch das Tier­schutz­gesetz des Ver­ei­nigten König­reiches, das ver­langt, dass alle Tiere vor der Schlachtung betäubt werden, um ver­meidbare Schmerzen, Ängste oder Leiden zu mini­mieren, ist bereits insofern außer Kraft gesetzt als Aus­nahmen erlaubt sind, wenn es um jüdische und mus­li­mische reli­giöse Ernäh­rungs­prä­fe­renzen für koscheres und Halal-Fleisch geht; dann ist es rechtlich legitim, Tieren ver­meidbare Schmerzen zuzu­fügen, ihnen Ängste und Leid nicht zu ersparen.

Men­schen­rechte stehen eben­falls bereits zu Dis­po­sition: Während Hass-Reden-Gesetze angeblich die Men­schen­würde schützen sollen und Schutz vor Hass-Rede als ein Men­schen­recht dar­ge­stellt wird, wird anderen zuge­standen, Fatwas über Men­schen aus­zu­sprechen, d.h. eine Art Rechts­gut­achten über etwas, was jemand getan oder gesagt hat, aus Sicht des isla­mi­schen Rechts abzu­geben, das schon einmal in der For­derung des Todes der Person bestehen kann, wie dies bekann­ter­maßen im Jahr 1989 mit Bezug auf den bri­ti­schen Schrift­steller Salman Rushdie der Fall war – wegen “Blas­pehmie”. Der “Islamic Sharia Council” unterhält auch ein “Fatwa Com­mittee UK”, das ein Sub-Kom­mittee des “European Council for Fatwa and Research” (ECFR) ist und das Fatwas aus­sprechen bzw. dies­be­züg­liche Beschlüsse “in the name of the Council” und mit seiner Zustimmung fassen kann. Wenn eine “mul­ti­kul­tu­relle” Gesell­schaft eine sein soll, die sich an uni­ver­salen Men­schen­rechten ori­en­tiert, dann sind Ein­rich­tungen wie diese mit einer “mul­ti­kul­tu­rellen” Gesell­schaft nicht vereinbar.

 

Das Ver­hältnis zu Ange­hö­rigen anderer ethnischer/kultureller/religiöser Gruppen wird innerhalb der eigenen Gruppe zu stan­dar­di­sieren ver­sucht. Z.B. werden auf den Web­seiten von “Islam Question & Answer“, etwa “Fragen und Ant­worten zum Islam”, durch reli­giöse Wei­sungen begründete Rege­lungen (u.a.) dazu getroffen, ob man einen Nicht-Muslim (zuerst) grüßen kann oder nicht.

Die Zusam­men­fassung der län­geren Antwort lautet wie folgt:

 

“Initiating a greeting to a non-Muslim is pro­hi­bited. But if they greet us, we have to respond to them. However, it is per­mis­sible to greet a non-Muslim first if that serves a purpose, or for fear of his harm, or because of blood ties, or for a reason that requires that”,

d.h.

“[e]inen Nicht-Muslim zuerst zu grüßen, ist ver­boten. Aber wenn er uns begrüßt, müssen wir ihm ant­worten. Es ist jedoch zulässig, einen Nicht-Muslim zuerst zu grüßen, wenn dies einem Zweck dient oder aus Angst davor, dass er einem Schaden ver­ur­sachen könnte, oder wegen Blut­ver­wandt­schaft oder aus einem Grund, der dies erfordert”.

Eine Begrüßung eines Nicht-Muslim durch einen Muslim ist nach dieser Ansicht also nur möglich, wenn der Nicht-Muslim zuerst gegrüßt hat oder weil man etwas von ihm will. Eine tole­rantere Version der Begrü­ßungs­regeln in der Begegnung mit Nicht-Mus­limen besagt, dass sie jeden­falls nicht mit “Salam” begrüßt werden dürften, weil dies ein Name Allahs sei, das Wort deshalb reli­giöse Kon­no­ta­tionen habe, und dass deshalb

 

“… it is gene­rally imper­mis­sible to use this form of greeting for non-Muslims. One may greet non-Muslims with other forms of greeting such as “good morning”, which they them­selves might be more com­for­table with”,

d.h.

“… es ist generell unzu­lässig, diese Form der Begrüßung für Nicht-Muslime zu ver­wenden. Man kann Nicht-Muslime mit anderen Begrü­ßungs­formen wie “Guten Morgen” begrüßen, mit denen sie sich viel­leicht selbst wohler fühlen”.

Wie man sieht ist die Recht­fer­tigung der Ungleich­be­handlung von Men­schen im Alltag (ver­meintlich) aus Rück­sicht auf reli­giöse oder kul­tu­relle Seni­si­bi­li­täten kein Monopol west­licher poli­ti­scher Kor­rektheit. Dies ist ein Bei­spiel dafür, wie unvor­ein­ge­nom­menes kul­tu­relles Handeln “eth­ni­siert” und – damit – pro­ble­ma­ti­siert wird und für große Unsi­cherheit im Umgang mit­ein­ander schaffen kann, selbst wenn es um so grund­le­gende und (bislang) ein­fache Dinge wie das Sich-Gegen­seitig-Grüßen geht.

Kom­mu­na­lismus wird oft begleitet von Sepa­ra­tismus, der auf eth­nische Selbst­be­stimmung, letztlich durch Gründung eines sou­ve­ränen Staates (durch Suk­zession bzw. Rechts­nach­folge auf einem Ter­ri­torium, das zuvor unter der Sou­ve­rä­nität eines anderen Staates war), abzielt, oder gar von Irre­den­tismus, bei dem eine eth­nische Gruppe, deren Ange­hörige in ver­schie­denen Staaten leben, eine Ver­ei­nigung oder Wie­der­ver­ei­nigung aller der eth­ni­schen Gruppe Ange­hö­rigen auf ver­lo­renem Ter­ri­torium oder neuem Ter­ri­torium anstrebt. Wer meint, dass west­liche Staaten ange­sichts des Rest­be­stands an Demo­kratie, den es in ihnen in Form von Wahlen noch gibt, davor geschützt seien, Opfer von Sepa­ra­tismus oder Irre­den­tismus zu werden, der irrt sich. Im Ver­ei­nigten König­reich gibt es Per­sonen, die in der Folge der Eth­ni­sierung der Gesell­schaft für Sepa­ra­tismus ein­treten und sich gute Chancen für seinen Erfolg aus­rechnen, wie z.B. ein auf X abge­setzer Post illustiert:

Suk­zession halten manche Muslime nicht nur für Wales für möglich:

“The Isla­mi­sation of Europe has been pre­dicted by the spi­ritual guide of the Muslim Brot­herhood, Yusuf al-Qaradawi. Anas Alti­kriti, director of the Cordoba Foun­dation, shares al-Qaradawi’s con­viction, but adds, ‘I believe in it because that is the pro­phecy of the Prophet,’ he says. ‘It’s not an invention of Sheikh Qaradawi’. Suhaib Hasan, pre­sident of the Islamic Sharia Council, likewise voices a firm con­viction in the future triumph of Islam not just in Europe but worldwide. Regarding the return of the cali­phate, Hasan con­tends, “It will come because it is pro­phe­cised by the Prophet” (Perry 2019: 12; Fußnote 40).

D.h.

Die Isla­mi­sierung Europas wurde vom spi­ri­tu­ellen Führer der Mus­lim­bru­der­schaft, Yusuf al-Qaradawi, vor­her­gesagt. Anas Alti­kriti, Direktor der Cordoba Foun­dation, teilt al-Qara­dawis Über­zeugung, fügt aber hinzu: ‘Ich glaube daran, weil das die Pro­phe­zeiung des Pro­pheten ist’, sagt er. ‘Es ist keine Erfindung von Scheich Qaradawi’. Auch Suhaib Hasan, Prä­sident des [oben erwähnten] Isla­mi­schen Scharia-Rates [des Ver­ei­nigten König­reiches], ist fest davon über­zeugt, dass der Islam nicht nur in Europa, sondern weltweit tri­um­phieren wird. Bezüglich der Rückkehr des Kalifats, behauptet Hasan, ‘Es wird kommen, weil es vom Pro­pheten pro­phezeit wird’ (Perry 2019: 12; Fußnote 40).

Er strebt einen isla­mi­schen Staat nicht direct an, sondern sieht sein Ein­treten als die ver­spro­chene Belohnung für weit ver­breitete Fröm­migkeit (“reward for wide­spread piety”) (Perry 2019: 10).

“This sen­timent is shared by num­erous pro­minent figures in the main­stream Islamist network, including Zahid Parvez, the director of the Islamic Foundation’s Mark­field Institute of Higher Edu­cation (MIH), and Omer El-Hamdoon, until last year the pre­sident of MAB [Muslim Asso­ciaton of Britain] and deputy secretary general of MCB [Muslim Council of Britain]. Parvez asserts that ‘poli­tical power is essential in the eyes of Islam’, adding that the social con­di­tions of the accep­tance of an Islamic state must first be in place. The Islamic state – as a legal, poli­tical and eco­nomic system – must grow from the seeds of Islamic reli­giosity. Whilst pre­sident of MAB, El-Hamdoon asserted that MAB isn’t in Britain to establish an Islamic state since Islam, as a way of life, can only be rea­lised when people vol­un­t­arily embrace it. He said the creation of an Islamic state is not an objective MAB is striving for, but admits, ‘As a Muslim, irrelevant of where I am living, one of my objec­tives is to establish an Islamic state. Islam is com­pre­hensive and since the pro­blems are com­pre­hensive, the solution has to be com­pre­hensive’. Anas Alti­kriti, the current MAB pre­sident (and founder and director of the Cordoba Foun­dation), has spoken of the need for a com­pre­hensive social trans­for­mation that does not just concern spi­ri­tuality, edu­cation, finance, or politics, but every aspect of human exis­tence. The Islamic Human Rights Com­mission (IHRC) echoes this, openly calling for ‘a new social and inter­na­tional order’, the alter­native nature of which relates to its con­tro­versial con­ception of ‘human rights’ based on shari’a. (Perry 2019: 10).
“Diese Meinung wird von zahl­reichen pro­mi­nenten Per­sön­lich­keiten im isla­mis­ti­schen Main­stream-Netzwerk geteilt, dar­unter Zahid Parvez, der Direktor des Mark­field Institute of Higher Edu­cation (MIH) [das lei­tende Institut für höhere isla­mische Bildung, das im Jahr 2000 vom dama­ligen Prinzen von Wales, der heute König Charles III. ist, ein­ge­weiht wurde], und Omer El-Hamdoon, bis letztes Jahr der Prä­sident von MAB [Muslim Asso­ciaton of Britain] und stell­ver­tre­tender Gene­ral­se­kretär von MCB [Muslim Council of Britain]. Parvez ver­tritt die Ansicht, dass poli­tische Macht in den Augen des Islam wesentlich ist, und fügt hinzu, dass die sozialen Bedin­gungen für die Annahme eines isla­mi­schen Staates zuerst vor­handen sein müssen. Der isla­mische Staat – als recht­liches, poli­ti­sches und wirt­schaft­liches System – muss aus dem Samen der isla­mi­schen Reli­gio­sität wachsen. Derweil beteuerte der Prä­sident des MAB, El-Hamdoon, dass die MAB nicht deshalb in Groß­bri­tannien exis­tiere, um einen isla­mi­schen Staat zu eta­blieren, weil der Islam als eine Lebens­weise nur rea­li­siert werden könne, wenn Men­schen ihn frei­willig annehmen. Er sagte, die Schaffung eines isla­mi­schen Staates sei kein Ziel, das die MAB anstrebe, aber er gibt zu: ‘Als Muslim, unab­hängig davon, wo ich lebe, ist eines meiner Ziele, einen isla­mi­schen Staat zu errichten. Der Islam ist umfassend und da die Pro­bleme umfassend sind, muss die Lösung umfassend sein.’ Anas Alti­kriti, der der­zeitige MAB-Prä­sident (und Gründer und Direktor der Cordoba Foun­dation) [gegründet in London im Jahr 2005 durch Anas Al-Tikriti, um zwi­schen der west­lichen Welt und der isla­mi­schen Welt zu ver­mitteln], hat [eben­falls] von der Not­wen­digkeit einer umfas­senden sozialen Trans­for­mation gesprochen, die nicht nur Spi­ri­tua­lität, Bildung, Finanzen oder Politik betrifft, sondern jeden Aspekt der mensch­lichen Existenz. Die Isla­mische Men­schen­rechts­kom­mission (IHRC) wie­derholt dies und fordert offen ‘eine neue soziale und inter­na­tionale Ordnung’, deren alter­na­tiver Cha­rakter sich auf ihre kon­tro­verse Auf­fassung von ‘Men­schen­rechten’ basierend auf Shari’a bezieht. (Perry 2019: 10).

Solchen Formen der eth­ni­schen Mobi­li­sierung stehen Reak­tionen wie das Streben einer sozialen (ggf. eth­ni­schen) Gruppe nach Iso­lation gegenüber, bei der die Ange­hö­rigen dieser Gruppe ver­suchen, mög­lichst abseits der Gesamt­ge­sell­schaft – “off the grid”, wie man im eng­li­schen Sprachraum sagt – zu leben.

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Es ist bezeichnend, dass diese Form der Mobi­li­sierung derzeit als “sur­vi­valism” oder “prepper-Bewegung”, d.h. als bewusste Vor­be­reitung auf eine gesell­schaft­liche oder natür­liche Krise oder gar Kata­strophe, oder als “Aus­stei­gertum” inklusive Selbst­ver­sorgung auf der Basis von Land­erwerb, Bohrung eigener Brunnen und Sub­sis­tenz­wirt­schaft, vor allem in der Gruppe der eth­ni­schen Mehrheit prak­ti­ziert wird. Inzwi­schen gibt es ganze “off the grid”-Gemeinden (wie z.B. im Ver­ei­nigsten König­reich https://liveoffgrid.co.uk/living-off-grid-in-the-uk/), die als alter­native Ent­würfe des Zusam­men­lebens und Zusam­men­wirt­schaftens in mög­lichst großer Unab­hän­gigkeit vom Staat und seinen Insti­tu­tionen leben.

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Man könnte ein­wenden, dass “mul­ti­kul­tu­relle” Gesell­schaft ohnehin nicht mehr die Leitidee vor­nehmlich linker Gesell­schafts­po­litik sei, sondern inzwi­schen “Inter­kul­tu­ra­lität” oder “Diver­sität” ange­strebt werde. Aber dies ist letztlich irrelvant: Falls “Inter­kul­tu­ra­lität” ange­strebt werden oder worden sein sollte, so müsste man kon­sta­tieren, dass (auch) sie gescheitert ist, denn “Inter­kul­tu­ra­lität” bezeichnet gemäß dem Staatslexikon-online.de

“… Pro­zesse des Aus­tauschs, der Ver­stän­digung und davon ange­sto­ßener Ent­wick­lungen, die dann bedeutsam werden, wenn Kul­turen auf der Ebene von Indi­viduen, Gruppen oder Sym­bolen in Kontakt treten sowie die betrof­fenen Per­sonen diver­gie­rende Wert­ori­en­tie­rungen, Bedeu­tungs­systeme und Wis­sens­be­stände aufweisen”.

Der Anspruch, der im Wortteil “Inter-“, d.h. “Zwi­schen-“, zum Aus­druck kommt, ist also ein inte­gra­tiver und somit höher als der Anspruch, der im Wortteil “Multi-” zum Aus­druck kommt, und dieser inte­grative Anspruch ist bislang nicht erfüllt. So ist die Rela­ti­vierung der Rechts­sätze des Ver­ei­nigten König­reiches durch isla­mi­sches Recht bzw. die Aus­setzung Ers­terer zugunsten des Let­zeren schwerlich als ein “Prozess[…] des Aus­tau­sches, der Ver­stän­digung” anzu­sehen. Und “diver­gie­rende Wert­ori­en­tie­rungen, Bedeu­tungs­systeme und Wis­sens­be­stände” haben sich bereits jetzt zumindest zum Teil als unver­einbar mit­ein­ander erwiesen, z.B. mit Bezug auf Tier­schutz (denn man kann Tiere vor der Schlachtung nur betäuben oder nicht betäuben), weshalb ein dies­be­züg­licher “Aus­tausch” kaum statt­finden kann bzw. eine ver­baler Aus­tausch kaum zu einer Ver­stän­digung oder zur Aus­bildung von “gemeinsame[n] kul­tu­rellen Aus­drucks­formen” durch den Dialog und die gegen­seitige Achtung” (Deutsche UNESCO-Kom­mission 2023: 30) führen wird.

Die Vor­stellung einer ein­heit­lichen Misch­kultur, sei sie derb, schlicht, rebel­lisch oder wie auch immer, ent­puppt sich als Phan­ta­sie­schöpfung sozi­al­his­to­ri­scher Roman­tiker, so möchte man in leichter Abwandlung eines Zitates von Gerhard Schulze (2005: 160) sagen, der sei­ner­seits statt des Wortes “Misch­kultur” im ansonsten gleich­lau­tenden Satz die Worte “deut­schen Volks­kultur” ver­wendet hat.

Was “Diver­sität” betrifft, so bedeutet sie “Viel­fäl­tigkeit” oder “Ver­schie­denheit” und besagt insofern nichts anderes als “Multi-“, das sich vom latei­ni­schen “multus” ableitet, das sei­nerseit “viel/e” bedeutet. Wenn die Eth­ni­sierung einer Gesell­schaft ein Kri­terium für eine geschei­terte mul­ti­kul­tu­relle Gesell­schaft ist, dann ist sie es auch für eine eth­nisch diverse Gesellschaft.

In einer eth­nisch plu­ralen Gesell­schaft kann ein fried­liches und gleich­be­rech­tigtes Zusam­men­leben nur erreicht werden, wenn der fort­schrei­tenden eth­ni­schen Mobi­li­sierung und auf ihrer Basis zu erwar­tendem Kom­mu­na­lismus und Suk­zes­si­ons­vor­stel­lungen Einhalt geboten wird und eine sys­te­ma­tische Ent-Eth­ni­sierung erfolgt.

Das bedeutet (u.a., aber vor allem) eine Ori­en­tierung einzig und allein am Indi­viduum statt an irgend­welchen “geschützten” Merk­malen höchst frag­wür­diger Bedeutung, die eine grund­sätz­liche Ungleich­be­handlung von Indi­viduum, die sie auf­weisen, und sol­chenm die sie nicht auf­weisen, als Nor­ma­lität in der Gesell­schaft zemen­tieren möchte. Es bedeutet – in Ver­bindung mit der Ori­en­tierung am Indi­viduum statt an sozialen Merk­malen, die soziale Gruppen künstlich erzeugen – die Rückkehr zur Ori­en­tierung an Chan­cen­gleichheit (statt Ergeb­nis­gleichheit) auf der Basis von Leis­tungs­ge­rech­tigkeit. Es bedeutet Rechts­staat­lichkeit wei­test­gehend ohne Aus­nahmen – und damit auch Rechts­si­cherheit. Und es bedeutet, dass Rechte nicht abge­koppelt von Pflichten (wie z.B. Anspruch auf Lebens­un­terhalt samt Unter­kunft auf unbe­stimmte Zeit ohne Gegen­leistung) an manche sozialen Gruppen aus­ge­geben werden, während von anderen erwartet wird, dass sie Rechte (wie z.B. das, vor Kri­mi­na­lität geschützt zu werden oder in den Genuss ihrer Ren­ten­bezüge zu kommen, also eines Teiles des Geldes, das der Staat von ihrem Erwerbslohn über Jahr­zehnte hinweg ein­be­halten hat,) abgegen und gleich­zeitig zuver­lässig ihren Staats­bür­ger­pflichten nach­kommen, wie z.B. dem des Zahlens von Steuern.

Gerade weil eine solche Gesell­schaft keine Rück­sicht auf “geschützte” Merkmale oder Iden­ti­täten kennt, steht es jedem frei und ist jedem möglich, sich wie er kann und mag in ihr zu posi­tio­nieren, in jedem Fall: an ihr teil­zu­haben. Eine solche Gesell­schaft kann als eine Projekt-Gesell­schaft bezeichnet werden insofern ihr ein bestimmtes Projekt zugrun­de­liegt, eben der Aufbau einer bestimmten Art von Gesell­schaft (wie oben angedeutet).

Wer an diesem Projekt nicht teil­nehmen möchte, viel­leicht, weil er eine Gesell­schaft vor­zieht, die an bestimmten reli­giösen Wei­sungen ori­en­tiert ist, wie z.B. einem isla­mi­schen Staat oder an einem Leben in Gemeinden der Amish, dem muss es frei­stehen, die Gesell­schaft, deren Projekt er nicht unter­stützen kann, zu ver­lassen, während – umge­kehrt – darüber nach­zu­denken wäre, ob jemand, der das gesell­schaft­liche Projekt nicht nur nicht unter­stützen möchte, sondern es nicht respek­tiert, z.B. indem er bereits durch illegale Ein­reise ihre Gesetze bricht, oder es sogar nach Kräften schädigt oder bekämpft, sein Auf­ent­halts­recht in der Gesell­schaft ver­lieren sollte – im Sinne eines wehr­haften Pro­jektes, ganz so wie in “wehr­hafte Demo­kratie”. Nur eine solche Gesell­schaft kann ein fried­liches Zusam­men­leben unter Respek­tierung größt­mög­licher, nämlich indi­vi­du­eller, Diver­sität – außer im Hin­blick auf das Projekt selbst bzw. die Grund­sätze der Projekt-Gesell­schaft – erreichen.

Eine solche Projekt-Gesell­schaft mag eine Utopie sein, aber es ist sicherlich keine ein­fäl­tigere und keine schwie­riger zu begrün­dende Utopie als die Utopie von fried­lichen und koope­ra­tiven eth­nisch plu­ralen Gesell­schaft, die auf aus­ge­rechnet auf fort­schrei­tende Eth­ni­sierung als Weg zu “Heil” setzt, ganz davon abge­sehen, dass beim Aufbau einer solchen Projekt-Gesell­schaft auf vor­herige Ent­würfe und vor allem vor­he­riges Gedan­kengut zurück­ge­griffen werden kann, wie es z.B. bei Martin Luther King zu finden war – der auch einen Traum hatte.

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Lite­ratur

Barber, Ben­jamin R., 1999: Demo­kratie im Wür­ge­griff: Kapi­ta­lismus und Fun­da­men­ta­lismus – eine unheilige Allianz. Frankfurt/M.: Fischer

Deutsche UNESCO-Kom­mission (Hrsg.), 2023: Über­ein­kommen über den Schutz und die För­derung der Viefalt kul­tu­reller Asdrucks­formen. (Zwei­spra­chige Publi­kation DE/EN.) Bonn: Deutsche UNESCO-Kom­mission e.V. https://www.unesco.de/sites/default/files/2023–12/DUK_Konventionstexte_Vielfalt_Web.pdf

Han, Petrus, 2000: Sozio­logie der Migration: Erklä­rungs­mo­delle, Fakten, poli­tische Kon­se­quenzen, Per­spek­tiven. Stuttgart: Lucius & Lucius. (UTB für Wis­sen­schaft, Band 2118)

Heckmann, Friedrich, 1992: Eth­nische Min­der­heiten, Volk und Nation: Sozio­logie inter-eth­ni­scher Bezie­hungen. Stuttgart: Fer­dinand Enke

Perry, Damon L., 2019: Main­stream Islamism in Britain: Edu­cating for the “Islamic Revival”. GOV.UK, Com­mission for Coun­tering Extremism. https://www.gov.uk/government/publications/mainstream-islamism-in-britain-educating-for-the-islamic-revival

Schulze, Gerhard, 2005: Die Erleb­nis­ge­sell­schaft: Kul­tur­so­zio­logie der Gegenwart. Frankfurt/M.: Campus

Tor­rance, David, 2019: Sharia Law Courts in the UK. Summary of the Briefing for the General Debate on Sharia Law Courts in the UK initiated by John Howell MP on 2 May at 3pm. https://researchbriefings.files.parliament.uk/documents/CDP-2019–0102/CDP-2019–0102.pdf

 

Zuerst erschienen bei ScienceFiles.org.