Bild: https://pixabay.com/de/photos/untergang-erde-ende-hand-welt-2372308/

„Kul­tur­kampf“: Das Ringen um die öffent­liche Meinung

Mises Ori­ginal

Im Fol­genden lesen Sie einen Auszug aus Ludwig von Mises „Erin­ne­rungen“ (2. Auflage 2014), und zwar das VII. Kapitel „Der Erste Welt­krieg“ (S. 40 – 43).  — von Ludwig von Mises

Ich habe hier weder vom Krieg noch von meinen per­sön­lichen Erleb­nissen im Kriege zu sprechen. Ich befasse mich in dieser Schrift nicht mit mili­tä­ri­schen Fragen und mit den poli­ti­schen nur so weit, als es der Zweck der Dar­stellung unum­gänglich erfordert.

Der Krieg kam als Ergebnis der Ideo­logie, die seit Jahr­hun­derten von allen deut­schen Kathedern ver­kündet worden war. Die Pro­fes­soren der Wirt­schafts­fächer hatten bei der geis­tigen Vor­be­reitung des Krieges wacker mit­ge­holfen. Sie mussten nicht erst umlernen, um im «geis­tigen Leib­gar­de­re­giment der Hohen­zollern» ihren Mann zu stellen. Schmoller ver­fasste das berühmte Manifest der 93 (11. Oktober 1914), ein anderer Ordi­narius, Schu­macher, der dann nach Berlin als Nach­folger Schmollers berufen wurde, redi­gierte das Anne­xi­ons­pro­gramm der sechs Spit­zen­ver­bände. Sombart schrieb Händler und Helden. Franz Oppen­heimer konnte sich in Anpö­belung der «Unkultur» der Fran­zosen und Eng­länder nicht genug tun. Man trieb nicht mehr Volks­wirt­schafts­lehre, sondern Kriegswirtschaftslehre.

Der Krieg kam als Ergebnis der Ideo­logie, die seit Jahr­hun­derten von allen deut­schen Kathedern ver­kündet worden war. Die Pro­fes­soren der Wirt­schafts­fächer hatten bei der geis­tigen Vor­be­reitung des Krieges wacker mitgeholfen.

Auch im Lager der Feinde ging es nicht besser zu. Doch dort gab es viele, die es vor­zogen zu schweigen; Edwin Cannan sah es als Pflicht der Natio­nal­öko­nomen an, zu protestieren.

Ich habe in den ersten fünfzehn Monaten des Krieges kaum die Zeitung lesen können. Später wurde es etwas besser, und am Ende des Jahres 1917 stand ich nicht mehr im Felde, sondern arbeitete in Wien in der Kriegs­wirt­schafts­ab­teilung des Kriegs­mi­nis­te­riums. Ich habe in diesen Jahren nur zwei kleine Auf­sätze ver­fasst. Der eine, über die Klas­si­fi­kation der Geld­theorie, ging später in die zweite Auflage der Geld­theorie über. Der andere, «Vom Ziel der Han­dels­po­litik», wurde von mir bei der Abfassung des im Jahre 1919 ver­öf­fent­lichten Buches Nation, Staat und Wirt­schaft ver­wendet. Es war ein wis­sen­schaft­liches Buch, doch seine Absicht war poli­tisch. Es war ein Versuch, die deutsche und öster­rei­chische öffent­liche Meinung der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Idee – sie trug damals noch keinen beson­deren Namen – abspenstig zu machen und ihr zu emp­fehlen, den Wie­der­aufbau durch demo­kra­tisch-liberale Politik anzu­streben. Man hat meine Arbeit nicht beachtet, das Buch wurde kaum gelesen. Doch ich weiß, dass man es später lesen wird. Die wenigen Freunde, die es heute lesen, zweifeln nicht daran.

Gegen Ende des Krieges habe ich in einer nicht für die Öffent­lichkeit bestimmten Zeit­schrift, die der Verband öster­rei­chi­scher Banken und Ban­kiers für seine Mit­glieder her­ausgab, einen kurzen Aufsatz über die Quan­ti­täts­theorie erscheinen lassen. Die Behandlung des Infla­ti­ons­pro­blems wurde von der Zensur nicht geduldet. Mein zahmer, aka­de­mi­scher Aufsatz wurde von ihr bean­standet; ich musste ihn nochmals umar­beiten, ehe er erscheinen durfte. Im nächsten Hefte gab es auch sofort Erwi­de­rungen, eine davon, soweit ich mich ent­sinnen kann, von jenem Bank­di­rektor Rosenbaum, der den Federn­schen Volkswirt finanzierte.

Im Sommer 1918 habe ich in einem vom Armee­ober­kom­mando ein­ge­rich­teten Kurs für Offi­ziere, die der Truppe vater­län­di­schen Unter­richt erteilen sollten, einen Vortrag über «Kriegs­kos­ten­de­ckung und Kriegs­an­leihen» gehalten. Auch da ver­suchte ich, den infla­tio­nis­ti­schen Ten­denzen ent­ge­gen­zu­treten. Der Vortrag wurde nach ste­no­gra­fi­scher Mit­schrift gedruckt, ohne dass mir die Gele­genheit geboten war, die Kor­rek­tur­bogen zu lesen.

Die Erfah­rungen der Kriegszeit haben meine Auf­merk­samkeit auf ein Problem gelenkt, das mir von Tag zu Tag immer wich­tiger erscheint, ja, das ich als das Haupt- und Grund­problem unserer Kultur bezeichnen will.

Die großen Fragen der Wirt­schafts- und Sozi­al­po­litik können nur von denen begriffen werden, die die natio­nal­öko­no­mische Theorie voll beherr­schen. Ob Kapi­ta­lismus, ob Sozia­lismus, ob Inter­ven­tio­nismus das geeignete System gesell­schaft­licher Koope­ration dar­stellt, kann man nur ent­scheiden, wenn man die schwie­rigsten Auf­gaben der Natio­nal­öko­nomie zu meistern weiß. Doch die poli­tische Ent­scheidung wird nicht von den Natio­nal­öko­nomen getroffen, sondern von der öffent­lichen Meinung, d.h. von der Gesamtheit des Volkes; die Mehrheit bestimmt, was geschehen soll. Das gilt von jedem System der Regierung. Auch der absolute König und der Dik­tator können nur so regieren, wie die öffent­liche Meinung es verlangt.

Ob Kapi­ta­lismus, ob Sozia­lismus, ob Inter­ven­tio­nismus das geeignete System gesell­schaft­licher Koope­ration dar­stellt, kann man nur ent­scheiden, wenn man die schwie­rigsten Auf­gaben der Natio­nal­öko­nomie zu meistern weiß. 

Es gibt Schulen, die diese Pro­bleme einfach nicht sehen wollen. Der orthodoxe Mar­xismus glaubt, dass der dia­lek­tische Prozess der geschicht­lichen Ent­wicklung die Menschheit unbe­wusst den not­wen­digen Weg, d. h. den Weg, der zu ihrem Heil führt, ein­schlagen lässt. Eine andere Spielart des Mar­xismus meint, dass die Klasse nie irren könne. Der Ras­sen­mys­ti­zismus behauptet das­selbe von der Rasse: Die Eigenart der Rasse wisse die richtige Lösung zu finden. Die reli­giöse Mystik – auch dort, wo sie in welt­lichem Gewande erscheint, z.B. im Füh­rer­prinzip – ver­traut auf Gott: Gott werde seine Kinder nicht ver­lassen und durch Offen­barung oder durch die Ent­sendung von begna­deten Hirten sie vor dem Unheil bewahren. Doch alle diese Auswege ver­sperrt uns die Erfahrung, die zeigt, dass ver­schiedene Lehren vor­ge­tragen werden, dass auch innerhalb der ein­zelnen Klassen, Rassen und Völker Mei­nungs­ver­schie­den­heiten bestehen, dass ver­schiedene Männer sich mit ver­schie­denen Pro­grammen um das Füh­reramt bewerben und dass ver­schiedene Kirchen mit dem Anspruch auf­treten, Got­teswort zu ver­künden. Man müsste blind sein, wollte man behaupten, dass die Frage, ob Kre­dit­aus­weitung wirklich den Zinsfuß dauernd ermä­ßigen kann, durch die Berufung auf die Dia­lektik der Geschichte, auf das unbe­irrbare Klas­sen­be­wusstsein, auf die ras­sische oder völ­kische Eigenart, auf Got­teswort oder auf das Gebot eines Führers ein­deutig beant­wortet werden kann.

Die Libe­ralen des 18. Jahr­hun­derts waren von einem gren­zen­losen Opti­mismus erfüllt: Die Men­schen sind ver­nünftig, und darum muss schließlich die richtige Meinung zum Siege gelangen. Das Licht wird die Fins­ternis ver­drängen; die Bestre­bungen der Fins­ter­linge, das Volk in Unwis­senheit zu erhalten, um es leichter beherr­schen zu können, werden den Fort­schritt nicht auf­halten können. So schreitet die Menschheit, von der Ver­nunft auf­ge­klärt, einer immer höheren Ver­voll­kommnung ent­gegen. Die Demo­kratie mit ihrer Gedanken‑, Rede- und Pres­se­freiheit bietet Gewähr für den Erfolg der rich­tigen Doktrin: Lasst die Massen ent­scheiden, sie werden schon die zweck­mä­ßigste Wahl treffen.

Wir können diesen Opti­mismus nicht mehr teilen. Der Gegensatz der wirt­schafts­po­li­ti­schen Dok­trinen stellt an die Urteils­kraft weit schwie­rigere Anfor­de­rungen als die Pro­bleme, die die Auf­klärung im Auge hatte: Aber­glaube und Natur­wis­sen­schaft, Tyrannei und Freiheit, Pri­vileg und Gleichheit vor dem Gesetze.

Die Massen müssen ent­scheiden. Gewiss, die Natio­nal­öko­nomen haben die Pflicht, ihre Mit­bürger auf­zu­klären. Doch was soll geschehen, wenn die Natio­nal­öko­nomen dieser dia­lek­ti­schen Aufgabe nicht gewachsen sind und von den Dem­agogen bei den Massen aus­ge­stochen werden? Oder wenn die Massen zu wenig intel­ligent sind, um die Lehren der Natio­nal­öko­nomen zu erfassen? Muss man nicht den Versuch, die Massen auf den rich­tigen Weg zu führen, als aus­sichtslos ansehen, wenn man die Erfahrung machen konnte, dass Männer wie J. M. Keynes, Bertrand Russell, Harold Laski und Albert Ein­stein natio­nal­öko­no­mische Pro­bleme nicht zu begreifen vermochten?

Muss man nicht den Versuch, die Massen auf den rich­tigen Weg zu führen, als aus­sichtslos ansehen, wenn man die Erfahrung machen konnte, dass Männer wie J. M. Keynes, Bertrand Russell, Harold Laski und Albert Ein­stein natio­nal­öko­no­mische Pro­bleme nicht zu begreifen vermochten?

Man ver­kennt, worum es hier geht, wenn man von einem neuen Wahl­system oder von der Aus­ge­staltung der Volks­bildung Hilfe erwartet. Mit den Vor­schlägen zur Abän­derung der Wahl­ordnung will man einem Teil des Volkes die Berech­tigung, bei der Wahl der Gesetz­geber und der Regierung mit­zu­wirken, ein­schränken oder ganz ent­ziehen. Doch das wäre keine Lösung. Wenn die von einer Min­derheit bestellte Regierung die Massen gegen sich hat, wird sie sich auf die Dauer nicht zu behaupten ver­mögen. Sie wird, wenn sie sich weigert, der öffent­lichen Meinung zu weichen, durch eine Revo­lution gestürzt werden. Der Vorzug der Demo­kratie liegt gerade darin, dass sie die Anpassung des Regie­rungs­systems und des Regie­rungs­per­sonals an den Willen der öffent­lichen Meinung in fried­licher Weise ermög­licht und damit den unge­stört ruhigen Fortgang der gesell­schaft­lichen Koope­ration im Staate gewähr­leistet. Es handelt sich hier nicht um ein Problem der Demo­kratie, sondern um weit mehr: um ein Problem, das unter allen Umständen und unter jeder denk­baren Ver­fas­sungsform auftritt.

Man hat gesagt, dass das Problem in der Volks­bildung und Volks­auf­klärung liege. Doch man gibt sich argen Täu­schungen hin, wenn man glaubt, dass man durch mehr Schulen und Vor­träge und durch Ver­breitung von Büchern und Zeit­schriften der rich­tigen Meinung zum Siege ver­helfen könne. Man kann auf diesem Wege auch Irr­lehren Anhänger werben. Das Übel besteht gerade darin, dass die Massen geistig nicht befähigt sind, die Mittel zu wählen, die zu den von ihnen ange­strebten Zielen führen. Dass man dem Volke fertige Urteile durch Sug­gestion auf­drängen kann, beweist, dass das Volk keines selb­stän­digen Urteils fähig ist. Das ist gerade das, was die große Gefahr birgt.

So war auch ich zu jenem hoff­nungs­losen Pes­si­mismus gelangt, der schon seit langem die besten Männer Europas erfüllte. Wir wissen heute aus den Briefen Jacob Bur­ck­hardts, dass auch dieser große Geschichts­schreiber sich keinen Illu­sionen über die Zukunft der euro­päi­schen Kultur hingab. Dieser Pes­si­mismus hatte Carl Menger gebrochen, und er beschattete das Leben Max Webers, der mir in den letzten Monaten des Krieges, als er ein Semester an der Wiener Uni­ver­sität lehrte, ein guter Freund geworden war.

Es ist Tem­pe­ra­ment­sache, wie man in Erkenntnis einer unab­wend­baren Kata­strophe lebt.

Es ist Tem­pe­ra­ment­sache, wie man in Erkenntnis einer unab­wend­baren Kata­strophe lebt. Im Gym­nasium hatte ich, dem alten Huma­nis­ten­brauche folgend, einen Vers Vergils zu meiner Devise erwählt: Tu ne cede malis sed contra audentior ito. Diesen Spruch habe ich mir in den bösesten Stunden des Krieges in Erin­nerung gerufen. Immer wieder hatte es da Situa­tionen gegeben, aus denen ver­nünftige Über­legung keinen Ausweg mehr zu finden wusste; doch ein Uner­war­tetes trat dazwi­schen, das die Rettung brachte. Ich wollte auch jetzt den Mut nicht sinken lassen. Ich wollte alles das ver­suchen, was der Natio­nal­ökonom ver­suchen kann. Ich wollte nicht müde werden zu sagen, was ich für richtig hielt. So beschloss ich, ein Buch über den Sozia­lismus zu schreiben. Ich hatte schon vor dem Kriege diesen Plan erwogen; nun wollte ich ihn ausführen.

Immer wieder hatte es da Situa­tionen gegeben, aus denen ver­nünftige Über­legung keinen Ausweg mehr zu finden wusste; doch ein Uner­war­tetes trat dazwi­schen, das die Rettung brachte. Ich wollte auch jetzt den Mut nicht sinken lassen.

Hinweis: Die Inhalte der Bei­träge geben nicht not­wen­di­ger­weise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

Ludwig von Mises
Quelle: Wiki­media Commons

Ludwig von Mises (1881 – 1973) hat bahn­bre­chende und zeitlose Bei­träge zum sys­te­ma­ti­schen Studium in den Wirt­schafts- und Sozi­al­wis­sen­schaft geleistet. Vor allem hat er die wis­sen­schafts­theo­re­tische Begründung für das System der freien Märkte geliefert, das auf unbe­dingter Achtung des Pri­vat­ei­gentums auf­gebaut ist, und er hat jede Form staat­licher Ein­mi­schung in das Wirt­schafts- und Gesell­schafts­leben als kon­tra­pro­duktiv ent­larvt und zurückgewiesen.

Jeder trägt einen Teil der Gesell­schaft auf seinen Schultern,” schrieb Ludwig von Mises, „nie­mandem wird sein Teil der Ver­ant­wortung von anderen abge­nommen. Und niemand kann einen sicheren Weg für sich selbst finden, wenn die Gesell­schaft sich im Untergang befindet. Deshalb muss sich jeder, schon aus eigenem Interesse heraus, mit aller Kraft in den geis­tigen Kampf begeben.“

Der Artikel erschien zuerst bei misesde.org.
  • Top Artikel

  • Service-Hotline:
    0179-6695802

  • Servicezeiten:
    Mo. und Do.: 10:00 - 12:00 Uhr
    Mi.: 15:00 - 18:00 Uhr