Es ist Viertel nach sieben und ich habe schon viel zu lange am Schreibtisch gesessen. Also mache ich mich auf zum Einkauf – beim Lidl. Ich schwinge mich auf mein mit Muskelkraft angetriebenes Fahrrad und überquere die Brücke zum Nachbarort. Die Straßen sind fast menschenleer, die Atmosphäre drückend. Ich passiere den Friseur mit arabischer Schrift, der nur für Privattermine und nach dem Betätigen der Klingel öffnet, und sodann den polnischen Laden mit allerlei getrockneten Wurstwaren. Weiter geht’s, vorbei am IT-Laden mit dem schleimigen Iraner, der meinen PC nach zwei Tagen fertig repariert haben wollte, mich jedoch fast bedrohte, als ich mir nach einer Woche nachzufragen erlaubte, wann die Reparatur denn endlich fertig sei.
(von Maria Schneider)
Danach biege ich beim schönen Altbau ab, den ein Deutscher an den höchstbietenden Türken verkauft hat und in dem es jetzt türkischen Kaffee gibt. Diesen typischen Fall von Ausverkauf der eigenen Heimat aus niederen Beweggründen, sprich: Gier, hat mein alteingesessener Bekannter dem Verkäufer nie verziehen und redet seitdem kein Wort mehr mit ihm. Für mich ist das ebenfalls Grund genug, nie wieder einen Fuß in das Café zu setzen.
Verfall und Tristesse
Ich fahre weiter, vorbei am versifften Pizzaservice und den beiden deutschen Familienmetzgereien, die nach Jahrzehnten erfolgreicher Aufbauarbeit keinen Nachfolger finden konnten. Die verdunkelten Schaufenster strahlen seit drei Jahren Verfall und Tristesse aus. Dafür brummen der türkische Dönerladen und das daran angeschlossene Café umso mehr. Tja, so weit kann man kommen, wenn man zusammenhält und das Geld zusammenlegt – statt dem anderen nicht einmal die billigste Wurst auf dem Brot zu gönnen oder ihn als kadavergehorsamer Biedermann wegen des falschen Maskensitzes zu denunzieren.
Sodann radle ich an mehreren Kopftuchfrauen in Begleitung kraftstrotzender, breitbeinig marschierender Männer und etlichen Afrikanern vorbei. Sie füllen wie selbstverständlich die volle Breite des Gehwegs aus. Ihr Habitus ist stolz und gerade, ihre unausgesprochene Botschaft ist eindeutig: „Leg Dich nicht mit uns an! Vorm Lidl sehe ich zum ersten Mal seit Beginn meiner Fahrt zwei junge Frauen, die sich akzentfrei auf deutsch unterhalten. Ich stelle mein Rad ab und trete durch die Glastüren in den Verkaufsraum ein.
Es ist stets das gleiche Publikum: Selbstbewusste Türkinnen, Afrikanerinnen und Araberinnen sowie abgearbeitete, osteuropäische Arbeiter. Die wenigen Deutschen, meist Rentner der unteren Schichten, sind an ihrer ärmlichen Kleidung, der gebückten Haltung, den Masken und einer gewissen Ungepflegtheit leicht zu erkennen – fast als hätten sie sich aufgegeben. Tatsächlich wirken manche so, als würden sie sich am liebsten unsichtbar machen – in ihrem eigenen Land.
Supermarkt mutet verwahrlost an
Ich tigere durch die Gänge und mache eine Bestandsaufnahme. Die Regale mit den günstigen Waren sind komplett leer: Sonnenblumenöl, Essig, Brot, Konserven, das preiswerteste Toilettenpapier und sogar Fleisch sind nicht mehr zu haben. Der gesamte Supermarkt mutet verwahrlost an. Es scheint, als käme das Personal nicht mehr damit hinterher, die Regale ordentlich zu bestücken und die Waren wieder in Reih und Glied zu stellen.
An der Kasse sichte ich dann wieder ein paar Deutsche: Stark übergewichtige Mütter mit stark übergewichtigen Kindern, den Einkaufswagen voller ungesunder Waren. Auch sie erwecken, wie die Rentner, den Eindruck von Armut. Wie kann das bloß sein, wo wir doch tagtäglich hören, wie unermesslich reich wir sind? So reich, dass wir das überbordende Füllhorn mit unseren Schätzen über die ganze Welt ergießen könnten und selbst dann noch genug für uns übrig bliebe. Oder etwa nicht?
Vor mir in der Reihe steht ein stummer Rentner mit abgenutzter Schnabelmaske. Fast hätte ich ihn übersehen, weil er schon semitransparent ist. Ich lege meine Waren aufs Band, während ein afrikanisches Muskelpaket hinter mir ständig mit einer Dose „Monster Energy” vor meinem Gesicht herumfuchtelt. Endlich begreife ich anhand seiner Gesten, was er von mir will: Ich soll ihn wegen der einen Dose vorlassen. Ich schüttele verneinend den Kopf und ignoriere ihn. „Einmal”, so denke ich für mich, „kann er sich auch hinter mir anstellen, wo er doch in so vielen Dingen, als Person of Color und Kulturbereicherer, in diesem Staat bevorzugt behandelt wird!”
Ein einzelner Lichtblick
Während ich seinen wütenden, ungeduldigen Blick im Rücken spüre, zahle ich bei der ausnehmend freundlichen Verkäuferin und wir wünschen uns gegenseitig einen wunderschönen Abend. Wer hätte gedacht, dass es inmitten dieser Tristesse noch einen solchen Lichtblick gibt?
Draußen wuchte ich unter den Augen eines osteuropäischen Handwerkers meine neun Literflaschen Mineralwasser mit einer Hand in meinen Fahrradkorb. Ich kann förmlich seine Gedanken lesen: „Warum macht das kein Mann für sie?” Er kann nicht wissen, dass dies eine der zahlreichen Ertüchtigungen ist, die ich regelmäßig absolviere, um fit zu bleiben; um „wehrfähig” zu sein, so dass ich jederzeit einem zudringlichen „Neubürger“ eine in die Fresse hauen kann, um gerade noch ausreichend Zeit zum Fliehen zu haben. All das kann der Osteuropäer natürlich nicht wissen, während er mich weiterhin mustert und mit den Augen auszieht.
Ich ignoriere ihn und schiebe mein Fahrrad über den Parkplatz. Dabei fällt mein Blick auf eine dralle Ukrainerin, die mit ihrem Sohn – vielleicht acht Jahre alt – gemeinsam aus einer riesigen Colaflasche trinkt. „Toll“, denke ich mir, „so früh züchtet sie schon ihren Sohn als Diabetiker heran. Dessen Behandlungskosten werde ich dann auch noch stemmen müssen.“ Die Frau schaut mich an und scheint Bestätigung bei mir für ihre Gegenwart zu suchen. Noch vor zehn Jahren hätte ihr ein freundliches Lächeln geschenkt. Doch inzwischen ist zuviel passiert. Zuviele Menschen sind ohne meine Zustimmung in mein Land gekommen. Zuviele Betrügereien sind mir zu Ohren gekommen, wie beispielsweise von den bildhübschen Ukrainerinnen, die einmal im Monat nach Deutschland fahren, vom Amt Hartz-IV abholen und dann in ihr Gebiet in der Ukraine zurückfahren, das komplett vom Krieg verschont wurde. Es ist alles einfach zuviel. Und so kommt es, dass mir auch die Gegenwart dieser Ukrainerin zu viel ist, selbst wenn sie die eine Gerechte unter den 100 Ungerechten wäre. Daher gebe ich ihr meinen bewährten Granitblick, lasse ihre Bemühungen wie Wasser an mir ablaufen und fahre mit unbewegtem Gesicht und steifem Rücken an ihr vorbei.
Wer ist hier Herr im Hause…
Um die Ecke herum sitzt der ungeduldige Afrikaner von der Kasse entspannt auf einer Bank, trinkt sein Zuckergetränk und durchbohrt mich mit hasserfüllten Blicken, während ich an ihm vorüberfahre. Auch ihn ignoriere ich – denn was bleibt mir anders übrig in einem Land, in dem ich zur Indianerin geworden bin und alle anderen Indianer sich anscheinend in ihre Häuser oder Autos verkrochen haben. Die „Besatzer“ indessen zeigen auf den Straßen und Plätzen immer unverblümter, wer nun der vermeintliche Herr im Hause ist.
Kurz gerate ich ins Schlingern und falle fast vor Lachen vom Rad, weil ich mir die hanebüchene und absolut lächerliche Situation vorstelle, dass mich ein Deutscher oder gar die Polizei vor einem Übergriff des Afrikaners schützen würde! Eine solche Tat käme schließlich einem Bekenntnis zur AfD gleich und wäre für die Beamten wohl um ein Vielfaches karriereschädlicher, als meine aufgeschlitzte Kehle. Ich wäre ja nur tot… aber der brave CDU-Rentner bekäme eventuell seine Rente nicht mehr oder der erwerbstätige Lehrer, Beamte, Arzt usw. verlöre sein Beamtenverhältnis, wenn er sich hinter seinen Rosenstöcken hervortrauen würde!
Nein, das geht gar nicht. Lieber den Schwanz einziehen und sich schnell auf den Fernsehsessel verdrücken, oder am PC garstige Kommentare schreiben und vergangenen Zeiten nachtrauern. Ist ja schließlich auch wichtig ….oder etwa nicht?
Wo sind eigentlich die Deutschen?
Schließlich fange ich mich wieder, schüttele den Kopf ob meiner irrwitzigen Vorstellung von „mutigen, deutschen Männern” und setze meinen Nachhauseweg fort. Zwei geschniegelte, junge Afrikaner mit teuren, drahtlosen Airpods flanieren entspannt auf dem Bürgersteig. Sie wissen, dass niemand ihnen zu nahe treten darf. Eine herausgeputzte Afrikanerin in Begleitung ihrer beiden Kinder und eine verhüllte Türkin samt Muskelmann schlendern durch die Straße. Weit und breit ist auch hier kein Deutscher in Sicht.
Mein ärmelloses, rosa T‑Shirt flattert im Wind. Die Ausländer schauen mir hinterher. Vor mir an der Ampel wartet ein alter, deutscher Hippie mit Halbglatze und langem Zottelhaar, das er mit einer Haarspange zu einem Zopf zusammengefasst hat. Seine Socken sind ausgeleiert und stecken in ausgetretenen Sandalen. Obwohl er zwei Meter von mir entfernt ist, rieche ich seinen ungepflegten Körper. Mir wird schlecht – von seinem Geruch und auch seiner zur Schau gestellten Weigerung, erwachsen zu werden und statt dessen als dürrer, abstoßender, ewiggestriger Peter Pan mit Rattenzopf im Pseudorebellentum zu verharren.
Wieder frage ich mich, wo bloß all die Deutschen abgeblieben sind. Doch, halt, ich weiß die Antwort: Inzwischen ist es 20 Uhr. Sie sitzen zu Hause im Sessel und holen sich aus der schwarzen Hypnosescheibe den Tagesbefehl ab. Damit sie wissen, wie sie sich am nächsten Tag zu verhalten haben. Wie der Wind weht. Was man sagen darf. Wen man zu meiden hat. Ob man die Maske noch trägt. Und wen man gerade hassen darf – Putin oder Xi?
Manchmal beneide ich die Kopftuchfrauen
Ja, es gibt Tage, da beneide ich die Kopftuchfrauen. Im Ernstfall haben sie einen Beschützer, der sie verteidigen wird. Wir wiederum haben Duttmänner, vegane Latteschlürfer, linksradikale Althippies – und ein Bürgertum, das sich einpisst, wenn es nur „AfD“ hört.
Ich bin zu Hause angekommen und schließe die Haupttüre auf. Bei uns im Haus wohnt ein Pakistani, der bei einem Dax-Unternehmen arbeitet. Seine Vermieter – ein altes Professorenpaar, das mitten in der Stadt im Ökorevoluzzerviertel mit alten Villen lebt – hat ihm die Wohnung überlassen, weil er „so nett ist”. Dass er trinkt, an deutschen Feiertagen wie Weihnachten die ganze Nacht laute Partys schmeißt und jeden, der sich darüber beschwert, mit dem Tode bedroht, finden sie nicht schlimm. Das Homeoffice macht ihm zu schaffen!“ Ach so. Dann ist ja alles gut. Ich trete in meine Wohnung ein, schließe meine neue, einbruchsichere Tür hinter mir gut ab und sage: „Gute Nacht.“
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Maria Schneider ist freie Autorin und Essayistin. Sie führt neben ihrer Berufstätigkeit den Blog beischneider mit einer heimatverbundenen, christlich-konservativen Ausrichtung. In ihrem Blog veröffentlicht Maria Schneider gesellschaftskritische Essays und Reiseberichte sowie Artikel unterschiedlichster Autoren. Kontakt: Maria_Schneider@mailbox.org