Scheitern als Lebens­prinzip — Was können wir von Heinrich von Kleist lernen?

Der heu­tigen Jugend ist Kleist wieder sehr nahe, denn auch sie durch­leidet das Ver­wirr­spiel der Gefühle, dieses befremd­liche Spiel zwi­schen Selbst­entwurf und An-sich-selbst-Scheitern. Und der beständige Kampf – wie einst von Kleist in seinem Werk „Pen­the­silea“ beschrieben – ist auch für diese Jugend ganz aktuell.

Scheitern als Lebens­prinzip, so könnte man kurz Heinrich von Kleists irdi­sches Schicksal umschreiben. Und diese Maxime unter­strich der berühmte Dra­ma­tiker selbst, als er sich zuletzt als „nichts­nüt­ziges Glied der mensch­lichen Gesell­schaft“ bezeichnete.

Dabei hatte der 1777 im Frankfurt/Oder geborene Dichter die besten Vor­aus­set­zungen für eine gesell­schaft­liche Kar­riere; er kam aus einer ein­fluß­reichen pom­mer­schen Familie, aus­ge­stattet also mit dem besten Pedigree, hatte von Jugend an beste Bezie­hungen zu einem erle­senen Kreis ein­fluß­reicher Poli­tiker des preu­ßi­schen Staats­ap­pa­rates. Anfang der 90er Jahre des 18. Jahr­hun­derts trat er in das das 3. Bataillon des Gar­de­re­gi­ments in Potsdam ein, wurde Leutnant; 1797 befreundete er sich mit Ernst von Pfuel, dem spä­teren preu­ßi­schen Ministerpräsidenten.

Doch schon früh­zeitig ver­spürte Kleist Unbe­hagen am mili­tä­ri­schen Drill und die Sehn­sucht nach einem Leben flan­kiert von Phi­lo­sophie und Expe­ri­men­tal­physik. Und schon während dieser frühen Jahre war Kleist ein Rei­sender, einer, der eigentlich keinen festen Wohnort hatte, der getrieben war von der Suche nach dem wahren Glück, das ihm bis zu seinem viel zu frühen Tod am 21. November 1811 nicht zuteil werden sollte. Und der Selbstmord ließ letzt­endlich das unruhig, nie ras­tende Herz auf­hören zu schlagen.

Von den Idealen der klas­si­schen Dichtung und der phi­lo­so­phi­schen Auf­klärung schon früh­zeitig begeistert, hat ihm aus­ge­rechnet der Königs­berger Phi­losoph Immanuel Kant die Euphorie einer an der Ver­nunft ori­en­tierten Lebens­führung zer­stört. Schon als 24-Jäh­riger schrieb Kleist resi­gniert an seine Halb­schwester Ulrike, daß das Leben ein schweres Spiel ist, „weil man beständig und immer von neuem eine Karte ziehen soll und doch nicht weiß, was Trumpf ist“. Diese Resi­gnation, die sich in seiner „Kant-Krise“ ver­dichtet – aus­ge­rechnet durch die Lektüre der „Kritik der Urteils­kraft“ erwachsen –, wird für sein wei­teres künst­le­ri­sches Schaffen prägend. Vom Prinzip Wahrheit als Methode wird er sich grund­legend ver­ab­schieden; statt har­mo­ni­scher Ein­heits­sehn­sucht gerät ihm das Dis­parate, das Erschre­ckende und Grausame zuse­hends in den Blick­winkel seines Schaffens. Das roman­tische Glück, die Sehn­suchts­idylle samt Schä­fer­roman und arka­di­scher Land­schaft à la Poussin gerät Kleist zuse­hends zur Chimäre, auch wenn er nach 1801 ver­suchte, wie einst Rousseau im Park von Ermon­ville, gemäß der Maxime des „Zurück zur Natur“ zu leben.

Ent­gegen dem dama­ligen Trend junger Adliger, auf der soge­nannten Grande Tour ihren ästhe­ti­schen Horizont zu erweitern, die Welt der römi­schen Antike und Grie­chen­lands ein­zu­saugen, hatten seine Paris-Reisen eher abschre­ckenden Cha­rakter und ver­stärkten die Sehn­sucht nach einem Glück in aller Abge­schie­denheit. Zu den unendlich vielen Reisen – Frankfurt – Berlin, Berlin – Frankfurt kamen unter­schied­liche Anstel­lungen hinzu, in denen Kleist immer wieder grandios schei­terte, diplo­ma­ti­scher Dienst in Berlin, Beam­ten­ver­hältnis in Königsberg. Gleichwohl er zu jener Zeit, zwi­schen 1802–1807, „Die Familie Gho­norez“, die Trau­er­spiele „Die Familie Schorf­fen­stein“, „Robert Guiskard Herzog der Nor­männer“ und das Lust­spiel „Der zer­bro­chene Krug“, das Trau­er­spiel „Pen­the­silea“, das Lust­spiel „Amphi­tryon“, die Erzäh­lungen „Michael Kohlhaas“ und „Das Erd­beben in Chili“ geschrieben hatte, blieb ihm das, war er als dra­ma­ti­scher Schrift­steller ersehnte versagt, der Ruhm und die Aner­kennung. Die aus­blei­bende Aner­kennung durch die eta­blierten Kunst­kreise, konnte Kleist per­sönlich nicht ver­ar­beiten, zu groß war die Kluft zwi­schen seinen eigenen Stil­prin­zipien auf der einen und dem Kunst­be­trieb auf der anderen. Viele, allen voran der Wei­marer Olympier Goethe, mochten sich mit Kleists Dramen nicht anfreunden, die formal wie inhaltlich weder der Wei­marer Klassik noch der eigentlich damals auf­flam­menden Romantik zuzu­ordnen waren. So sehr Kleist klas­sische Motive immer wieder auf­griff und ver­ar­beitete, war es doch nicht das majes­tä­tisch im Mit­tel­punkt ste­hende All­gemein-Mensch­liche wie in der klas­si­schen Dichtung, sondern das Dis­parate, das Tren­nende, das extrem Grausame. Und für Goethe war dieses Spiel aus Grauen, Schrecken und Mys­ti­zismus eben nichts als das wahre Unwesen der Romantik, von dem er sich sein ganzen Leben zu distan­zieren wußte. Für Goethe zählte auch Kleist zu den bedeu­tenden, aber bedau­erns­werten Künst­ler­ge­stalten, die an einer „unheil­vollen Krankheit“ litten. Goethes distan­zierte Kühle hatten schon andere in Weimar gespürt, die zu ihm nach Thü­ringen pilgerten.

Nicht nur den Ruhm, den der Dra­ma­tiker Kleist begehrte, blieb also ihm versagt, auch seine Unter­neh­mungen als Jour­nalist schei­terten; zuerst sein Journal für die Kunst „Phöbus“, dann ging er schließlich 1811 mit den „Ber­liner Abendblätter(n)“ pleite, trotz daß an diesen klang­volle Autoren wie Ernst Moritz Arndt, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Adelbert Cha­misso mit­ar­bei­teten. Später wird er mit „Der zer­bro­chene Krug“, „Die Her­manns­schlacht“ und dem Drama „Prinz Friedrich von Homburg“ bescheidene Erfolge erzielen, allein dem ehr­gei­zigen und ruhm­süch­tigen Kleist genügt dies nicht, seine idealen Vor­stel­lungen vom gelun­genen Leben zufrie­den­stellen – hinzu kommt der Haß auf die napo­leo­nische Bela­gerung und die als dra­ma­tisch emp­fundene Appeasement-Politik Friedrich Wil­helms III. gegen Napoleon. Der Auf­klärer Kleist hatte sich zum Natio­na­listen gewandelt – doch auch für seine poli­ti­schen Ideale standen die Zeiten schlecht, die Zeit des natio­nalen Auf­bruchs hat er nicht mehr gelebt. Poli­tisch frus­triert über das ihn ewig anmu­tende Reich des Fran­zo­sen­kaisers Napo­leons, dem er am liebsten selbst einen Schuß in den Kopf gejagt hätte, hatte Kleist alle Illu­sionen ver­loren und mit dem in seiner „Her­manns­schlacht“ emp­foh­lenen Par­ti­sa­nen­krieg reagierte die Obrigkeit äußert kri­tisch und gereizt.

Im Gegensatz zu einer Vielzahl idea­lisch den­kender Poeten des 18. Jahr­hun­derts war Heinrich von Kleist etwas nicht – ein beseelter deut­scher Idealist, der die Kalo­ka­gathia als höchstes ästhe­ti­sches Ziel anvi­sierte, der an eine Erlösung des Sub­jekts durch die Kunst glaubte, in der sich das Schöne und das Gute zu einer har­mo­ni­schen Einheit ver­banden. Pan­har­monie war seine Sache eben nicht, zu bruch­stückhaft die Welten, mit denen er han­tierte. Das Subjekt als Fragment, der beständige Krieg und das Unter­wegssein waren eher seine Themen, die Vielheit der Erschei­nungen, die es zu ordnen galt, die aber in ihrer Dis­pa­ratheit nie in ein Ein­heits­konzept gebündelt werden können, dafür inter­es­sierte er sich. Kleist war eher ein „skep­ti­scher Ver­hal­tens­for­scher“ und seine Helden geboten kei­neswegs maliziös über ihren Alltag, sondern schei­terten per­manent an den All­täg­lich­keiten, sie sind nicht die welt­be­herr­schenden Intel­lek­tu­ellen gewesen, die der Welt ihre auf­ge­klärten Maximen wie einen Spiegel vor­hielten, die einen Zukunfts­op­ti­mismus par excel­lence verkündeten.

Kleist blieb als Skep­tiker der große Moralist im Scheitern. Und wie seine Helden war auch er iso­liert, geriet in den Strudel bestän­diger Sinn­suche und wurde dadurch letzt­endlich aus allen tra­di­tio­nellen Bin­dungen ent­lassen, ent­wurzelt. Ein Rhizom, wie Gilles Deleuze for­mu­lieren würde, ein tran­szen­den­taler Empirist, eine Begriffs­person, der schließlich lieber zugrunde geht, als daß er sich der „Prosa der Ver­hält­nisse“ ergeben wollte. Vielmehr wünschte Kleist zu scheitern, so ein Exis­tential, als sich in einem klein­bür­ger­lichen Alltag gefangen zu wissen. Lieber hul­digte er der „Begierde des Wett­kampfs“; das Glück wurde für ihn lediglich ein kurzes Inter­mezzo zwi­schen rauschhaft-krie­ge­ri­schen Zuständen.

Für Goethe zeigte sich in Kleist jene Ver­wirrung der Gefühle, die es für den Klas­siker schließlich unmöglich werden ließ, daß sich daraus eine Art von Orga­ni­sation aus dem Werk des Frank­furter Adligen ableiten lassen würde. Was Goethe einst kri­ti­sierte, bringt dem Dra­ma­tiker gerade aber im 20. und 21. Jahr­hundert wieder Sym­pa­thien ein. Es ist eben nicht das fre­ne­tisch, sich fei­ernde Subjekt, das die Welt in Atem hält, das nach der alles erklä­renden Welt­formel sucht, wie Goethe meinte, sondern das per­manent auf sich zurück­ge­worfene Ich, das sich und seine Ent­schei­dungen und Lebens­ent­würfe in Frage stellen muß, das andauernd an seiner Welt resi­gniert, diese Resi­gnation ver­kraften und in einen per­sön­lichen Sieg zu über­führen sucht. Nir­gends hat dieses moderne Ich ein Hal­teseil, immer wieder bricht der Boden unter ihm zusammen, immer wieder kämpft es zwi­schen dem Chaos und dem Ord­nungs­willen, immer ver­sucht es sich gegen die Nega­ti­vi­täten auf­zu­richten, doch so sehr es dies ver­sucht – alles bleibt frag­men­ta­risch, vor­rü­ber­gehend, eine Sisyphusarbeit.

Der heu­tigen Jugend ist Kleist wieder sehr nahe, denn auch sie durch­leidet das Ver­wirr­spiel der Gefühle, dieses befremd­liche Spiel zwi­schen Selbst­entwurf und An-sich-selbst-Scheitern. Und der beständige Kampf – wie einst von Kleist in seinem Werk „Pen­the­silea“ beschrieben – ist auch für diese Jugend ganz aktuell.

Kleist, der Dra­ma­tiker, wird so zum Vor­denker der Dekon­struk­tionen, zum quasi Erfinder des noma­di­schen Ich, eines Ich, das sich keine har­mo­nische Einheit mehr zu kon­stru­ieren vermag, sondern nur noch ver­sucht, die Vielheit, die unend­lichen Ver­wei­sungen, die Dif­ferenz von Deleuze, letzt­endlich aus­zu­halten. Nur während Deleuze diese Dif­fe­renzen pro­duktiv zu ertragen wußte, weil er sie als Spuren begriff, die immer weiter ver­weisen – auf einen unend­lichen Horizont mit neuen Sin­nal­ter­na­tiven – und so die Vielheit und Ver­schie­denheit des Lebens zum Aus­druck bringen, ist Kleist an ihnen gescheitert, sein Suizid am Wannsee die bedau­er­liche Konsequenz.

 

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Der Artikel erschien zuerst hier: http://www.theeuropean.de/stefan-gross/12653-scheitern-als-lebensprinzip

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Anmerkung der Redaktion: Eigentlich gehört dieser Artikel nicht in die Kate­gorie “Politik” und irgendwie doch. Wenn man genau darüber nach­denkt, könnte er eigentlich in jeder Kate­gorie stehen, egal ob Politik, Wirt­schaft oder Gesundheit.