Der Euro­kratie stehen schwere Zeiten bevor

Interview mit Pro­fessor Roland Vaubel zu seinem neuen Buch „Zwi­schen­staat­licher poli­ti­scher Wett­bewerb“.

Herr Pro­fessor Vaubel, Ihr neues Buch ist ein ein­deu­tiges Plä­doyer für den Wett­bewerb zwi­schen Staaten. Öko­nomen sind meist der Meinung, man könne die Vor­teil­haf­tigkeit pri­vaten Wett­be­werbs nicht auf öffent­liche Insti­tu­tionen über­tragen. Was ent­gegnen Sie?
Staaten sind Anbieter von Gütern, Dienst­leis­tungen, Normen, Transfers usw. Ihnen stehen als Nach­frager die Bürger gegenüber. Wett­bewerb zwi­schen Anbietern nützt den Nach­fragern. Die Bürger müssen zwi­schen ver­schie­denen poli­ti­schen Anbietern ver­gleichen und wählen können – innerhalb von Staaten und zwi­schen Staaten.
Wo sehen Sie die Gründe dafür, dass das Thema ‚Wett­bewerb für Staaten‘ keinen Platz hat in der öffent­lichen Diskussion?
Das liegt an der Ver­machtung der Medien. Die öffent­liche Dis­kussion ist beherrscht von Medien, die ent­weder – wie das Staats­fern­sehen – von den Regie­renden gemeinsam kon­trol­liert werden oder von Ver­legern, die eine bestimmte Partei oder poli­tische Richtung unter­stützen wollen. Poli­tiker jeder Couleur haben aber – wie private Anbieter auch – kein Interesse an einem stär­keren Wett­bewerb. Sie sind an einer poli­ti­schen Kar­tel­lierung – der soge­nannten „Har­mo­ni­sierung“ oder „Gleichheit der Lebens­ver­hält­nisse“ – oder an einer poli­ti­schen Mono­po­li­sierung – d. h. Zen­tra­li­sierung – inter­es­siert. Wenn die Regie­renden ver­schie­dener Gemeinden, Pro­vinzen oder Länder ihr Ver­halten unter­ein­ander abstimmen, fällt es den Bürgern und Markt­teil­nehmern schwerer, sich einer hohen Besteuerung oder restrik­tiven Regu­lierung durch Kapi­tal­flucht oder Abwan­derung zu ent­ziehen. Die Bürger können auch keine Ver­gleiche mehr zwi­schen den Regie­rungen anstellen und dadurch erkennen, wie sehr ihre eigene Regierung versagt. Der „poli­ti­schen Klasse“ und ihren publi­zis­ti­schen Hilfs­truppen ist ganz klar daran gelegen, den poli­ti­schen Wett­bewerb so weit wie möglich zu beschränken, denn dadurch gewinnen sie mehr Macht über die Bürger.
Wie beur­teilen Sie die aktuelle Situation in Europa in punkto Einigkeit der Inter­essen und der herr­schenden Strukturen?
In der Euro­päi­schen Union gibt es eine starke Zen­tra­li­sie­rungs­tendenz – vor allem im Bereich der Regu­lierung. Trei­bende Kräfte sind Kom­mission und Par­lament, denen die Zen­tra­li­sierung ja mehr Kom­pe­tenzen und Macht beschert. Aber die im Rat ver­tre­tenen Regie­rungen machen meist mit, denn gemeinsam sind sie stark – gegenüber den Bürgern und den Markt­teil­nehmern. Darin sind sie sich einig. Gering ist ihre Einigkeit dagegen in Ver­tei­lungs­fragen. Bei­spiele sind der Haushalt der nächsten sieben Jahre, Macrons Vor­schläge für die Eurozone, die Geld­po­litik der EZB und die Zuteilung von Asyl­be­werbern. Außerdem gibt es zwi­schen Nord- und Süd­eu­ro­päern einen zuneh­menden Dissens, wie weit sich die Politik an die ver­ein­barten Regeln – zum Bei­spiel den Sta­bi­li­tätspakt – halten muss. Es wird immer klarer, dass Zen­tra­li­sierung nicht gut für die Völ­ker­ver­stän­digung ist. Davon handelt ein Kapitel meines Buches.
Sie widmen in Ihrem Buch auch dem Thema „Sezession“ ein Kapitel und schreiben, es könne nicht richtig sein, alle Sezes­sionen abzu­lehnen oder alle Sezes­sionen gut zu heißen. Das müssen Sie erklären…
Es kann nicht richtig sein, alle Sezes­sionen abzu­lehnen, denn das Sezes­si­ons­recht ent­spricht dem Selbst­be­stim­mungs­recht oder öko­no­misch betrachtet der Kon­su­men­ten­sou­ve­rä­nität – nur dass es hier nicht um private, sondern um öffent­lichen Güter geht. Das Sezes­si­ons­recht schützt die Freiheit von Min­der­heiten, oder – öko­no­misch betrachtet – es schützt vor der „nega­tiven Exter­na­lität“ des ‚Über­stimmt­werdens‘ in der Mehr­heits­de­mo­kratie. Außerdem ver­stärkt jede Sezession den zwi­schen­staat­lichen poli­ti­schen Wett­bewerb und nützt daher auch der bis­he­rigen Mehrheit der Bürger. Mehr als zwanzig Staaten in Europa ver­danken ihre Existenz einer Sezession. Sezes­sionen können aber auch dazu führen, dass in dem Staat, der sich selb­ständig macht, nun die neue Mehrheit über die neue Min­derheit her­fällt. Viel­leicht hatte Abraham Lincoln diese Befürchtung, als er 1861 die Sezession der Süd­staaten ablehnte. Dort gab es ja noch die Skla­verei. Im Europa von heute sehe ich diese Gefahr nicht und plä­diere deshalb in dem Buch für das Sezes­si­ons­recht. Wir erlauben ja auch den Briten, die EU zu ver­lassen, und den Schotten stand es frei, aus dem Ver­ei­nigten König­reich auszuscheiden.
Welche Instanz aber sollte das sein, die aus den genannten Gründen eine Sezession ablehnt? Die neue Min­derheit könnte sich ja wieder abspalten…
Die neue Min­derheit kann sich nur abspalten, wenn sie regional kon­zen­triert ist. Aber wie gesagt, ich sehe die Gefahr in Europa nicht. Wenn zum Bei­spiel die Regierung in Madrid ein Refe­rendum in Kata­lonien zulässt und die Mehrheit der Kata­lanen für die Unab­hän­gigkeit stimmt, dann redu­ziert die Sezession per Saldo die Zahl der Über­stimmten, weil die Zahl der Kata­lanen, die nicht mehr von den Spa­niern über­stimmt werden wird, offen­sichtlich größer ist als die Zahl der Spanier, die jetzt im unab­hän­gigen Kata­lonien von den Kata­lanen über­stimmt werden wird. Von einer euro­päi­schen Instanz, die Sezes­sionen ablehnen kann, würde ich dringend abraten. Die EU predigt die Zen­tra­li­sierung, und die Euro­pa­po­li­tiker der Mit­glied­staaten in Brüssel sind über­wiegend Reprä­sen­tanten der jewei­ligen natio­nalen Mehrheit – zum Bei­spiel eher Spanier als Kata­lanen. Wie ich in dem Buch zeige, haben die zustän­digen Ver­treter von Kom­mission, Rat und Par­lament der EU bereits gegen die Schotten und Kata­lanen Partei ergriffen. Das­selbe gilt für den Europarat. 
Es handelt sich beim Brexit zwar nicht um eine Sezession, aber dennoch … wie beur­teilen Sie den Schritt der Briten und was raten Sie ihnen?
Ich habe Ver­ständnis für die Ent­scheidung der Briten. Sie werden seit einigen Jahren regel­mäßig im Rat über­stimmt. Zum Bei­spiel wird die City of London jetzt trotz bri­ti­scher Gegenwehr von der EU regu­liert, obwohl das in der Ein­heit­lichen Euro­päi­schen Akte, die Mar­garet Thatcher 1987 unter­zeichnete, gar nicht vor­ge­sehen war. Der Euro­päische Gerichtshof hat den betref­fenden Artikel einfach umin­ter­pre­tiert. Die Briten fühlen sich betrogen und sind nicht amü­siert. Schließlich haben sie die Hoffnung auf­ge­geben, dass die atem­be­rau­bende Zen­tra­li­sie­rungs­dy­namik der letzten zwanzig Jahre gestoppt werden kann. Ich rate den Briten, sich nicht von Herrn Barnier ins Bockshorn jagen zu lassen. Barnier droht mit Pro­tek­tio­nismus, um sie vom Aus­tritt abzu­bringen. Er wird erst dann einer frei­heit­lichen und effi­zi­enten Lösung zustimmen, wenn die Briten den Aus­tritt voll­zogen haben.
Würden Sie für uns noch einen Aus­blick wagen? Wie sehen Sie die Zukunft Europas?
Der Euro­kratie stehen schwere Zeiten bevor. Der Migra­ti­ons­druck wird zunehmen, und die EU wird sich schwertun, ihr Regelwerk zu refor­mieren und die not­wen­digen Maß­nahmen zu ergreifen. Die migra­ti­ons­kri­ti­schen Par­teien werden weiter zulegen. Der Übergang zu Mehr­heits­ent­schei­dungen im Rat führt bei den Über­stimmten zu nach­hal­tiger Frus­tration. Der Streit nimmt zu, die Völ­ker­ver­stän­digung bleibt auf der Strecke. Die EZB wird Ihre Nied­rig­zins­po­litik aus poli­ti­schen Gründen nicht schnell genug auf­geben, was zu hohen Infla­ti­ons­raten führt. Der Euro gerät weiter in Verruf. In Deutschland geht die euro­man­tische Ära Schäuble-Merkel-Alt­meyer ihrem Ende ent­gegen. Macrons euro­pa­po­li­ti­scher Vorstoß wird in Ver­ges­senheit geraten. Die Zen­tra­li­sie­rungs­dy­namik wird erlahmen, weil man allent­halben mit der EU unzu­frieden ist. Die EU findet zu einem Gleich­ge­wicht, aber es ist kein Gleich­ge­wicht des Kon­senses, sondern des Immo­bi­lismus. Es geht nicht mehr weiter, weil man zer­stritten ist.
Vielen Dank, Herr Vaubel.

Das Interview wurde im Sep­tember per email geführt. Die Fragen stellte Andreas Marquart.

Quelle: misesde.org