von Wolfgang Prabel
Die Literatur hat uns den Typus des jugendlichen Helden aufgetischt. Schon im Sturm und Drang wimmelte es davon. Goethes Prometheus mußte man früher in der Schule auswendig lernen.
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn‘ als euch Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Schillers Räuberhauptmann Karl Moor machte Mannheim verrückt. Bei der Uraufführung lagen sich wildfremde Leute in den Armen. Mussolini inszenierte sich als jugendlicher Held und marschierte auf Rom, Ferdinand Baptista von Schill, Theodor Körner und Leopold von Lützow machten im Kleinkrieg gegen Napoleon Schlagzeilen. Alle diese jugendlichen Kämpfer griffen die Macht an, statt ihr hinterherzulaufen.
Und dann gab es das Gegenbild des jugendlichen Machtvergötzers. Heinrich Mann – der diese erniedrigende Erfahrung persönlich als Journalist bei der antisemitischen Zeitung „Das Zwanzigste Jahrhundert – Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt“ gesammelt hatte – hat uns das Psychogramm eines angepaßten staatshörigen Untertanen, eines Machtanbeters, hinterlassen. Seine Romanfigur Diederich Heßling hatte schon als Kind einen ausgeprägten Defekt des Selbstbewußtseins:
Ecke der Meisestraße hinwieder mußte man an einem Polizisten vorüber, der ihn, wenn er wollte, ins Gefängnis abführen konnte! Diederichs Herz klopfte beweglich; wie gern hätte er einen weiten Bogen gemacht! Aber dann würde der Polizist sein schlechtes Gewissen erkannt und ihn aufgegriffen haben. Es war vielmehr geboten, zu beweisen, daß man sich rein und ohne Schuld fühlte – und mit zitternder Stimme fragte Diederich den Schutzmann nach der Uhr.
Eines Tages berichtete er zu Hause über den Schultag:
„Heute hat Herr Behnke wieder drei durchgehauen.“ Und wenn gefragt ward, wen? „Einer war ich.“ Denn Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu seinem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.
Auch eine solide gewaltbereite Intoleranz, wie sie heutzutage für Journalisten, Antifanten, die Kanzlerin und Moslems typisch ist, wurde früh manifest:
Einmal nur, in Untertertia, geschah es, daß Diederich jede Rücksicht vergaß, sich blindlings betätigte und zum siegestrunkenen Unterdrücker ward. Er hatte, wie es üblich und geboten war, den einzigen Juden seiner Klasse gehänselt, nun aber schritt er zu einer ungewöhnlichen Kundgebung. Aus Klötzen, die zum Zeichnen dienten, erbaute er auf dem Katheder ein Kreuz und drückte den Juden davor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz allem Widerstand; er war stark! Was Diederich stark machte, war der Beifall ringsum, die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die überwältigende Mehrheit drinnen und draußen. Denn durch ihn handelte die Christenheit von Netzig. Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Schuldbewußtsein, das kollektiv war!
Im Studium schloß er sich einer Verbindung an, um nicht selbst denken zu müssen und sich herumkommandieren zu lassen:
Diederich war Konkneipant geworden. Und für diesen Posten fühlte er sich bestimmt. Er sah sich in einen großen Kreis von Menschen versetzt, deren keiner ihm etwas tat oder etwas anderes von ihm verlangte, als daß er trinke. Voll Dankbarkeit und Wohlwollen erhob er gegen jeden, der ihn dazu anregte, sein Glas. Das Trinken und Nichttrinken, das Sitzen, Stehen, Sprechen oder Singen hing meistens nicht von ihm selbst ab. Alles ward laut kommandiert, und wenn man es richtig befolgte, lebte man mit sich und der Welt in Frieden. Als Diederich beim Salamander zum ersten Male nicht nachklappte, lächelte er in die Runde, beinahe verschämt durch die eigene Vollkommenheit!
Einmal sah er den Kaiser, nahm an einer Gegendemonstration teil und wurde fast nicht wieder: „Eben bin ich dem Kaiser begegnet“, erzählte er einer Bekannten.
„Dem Kaiser?“ fragte sie, wie aus einer anderen Welt. Er begann, unter großen, ungewohnten Gesten herauszujagen, was ihn erstickte. Unser herrlicher junger Kaiser, ganz allein unter rasenden Aufrührern! Ein Café hatten sie demoliert, Diederich selbst war drin gewesen! Unter den Linden hatte er blutige Kämpfe bestanden für seinen Kaiser! Kanonen sollte man auffahren!
„Die Leute hungern wohl“, sagte Agnes schüchtern. „Es sind ja auch Menschen.“
„Menschen?“ Diederich rollte die Augen. „Der innere Feind sind sie!“
Wen erinnert das nicht an den Fanatismus der in Antifa, Grüner Jugend und bei den Falken organisierten Merkeljugend? Überhaupt war Heßling durch sein globales Denken und seinen moralischen Rigorismus unserer Kanzlerin Dr. Merkel sehr ähnlich.
„Deutsch sein, heißt eine Sache um ihrer selbst willen zu tun“, ließ Heinrich Mann den Diederich Heßling bei der Einweihung eines Kaiserdenkmals ausrufen. Diese Heßling-Rede, die Mann aus vielen Versatzstücken des Zeitgeistes zu einem Credo des Kaiserreiches destilliert hatte, enthielt Hinweise auf die große Zeit, die die Zeitgenossen miterleben dürften, auf den Ozean, der für Deutschlands Größe unentbehrlich sei, auf das Weltgeschäft, welches heute das Hauptgeschäft sei und auf das berechtigte Selbstgefühl, das tüchtigste Volk Europas und der Welt zu sein. „In staunender Weise ertüchtigt, voll hoher sittlicher Kraft zu positiver Betätigung (…) so sind wir die Elite unter den Nationen (…)“
Wie die mit den GEZ-Beiträgen des Volks reichgemästeten Schauspiel- und Fußballmillionäre, die sich von den Staatsmedien politisch immer stärker instrumentalisieren lassen, wollte auch Heßling sein Geld nicht am Markt verdienen, sondern durch politische Schleimerei. Besuch Heßlings beim Regierungspräsidenten v. Wulckow:
Diederich wartete vergeblich auf den Diener, lange Minuten. Dann aber trat der Wulckowsche Hund ein, schritt riesenhaft und voll Verachtung an Diederich vorbei und kratzte an der Tür. Sofort ertönte es drinnen: „Schnaps! komm herein!“ – worauf die Dogge die Tür aufklinkte. Da sie vergaß, sie wieder zu schließen, erlaubte sich Diederich, mit hereinzuschlüpfen. Herr von Wulckow saß in einer Rauchwolke am Schreibtisch, er wendete den ungeheuren Rücken her. „Guten Tag, Herr Präsident“, sagte Diederich, mit einem Kratzfuß. „Na nu quatscht du auch schon, Schnaps?“ fragte Wulckow, ohne sich umzusehen. Er faltete ein Papier, zündete langsam eine neue Zigarre an…‘Jetzt kommt es´ dachte Diederich. Aber dann begann Wulckow etwas anderes zu schreiben. Interesse an Diederich nahm nur der Hund. Offenbar fand er den Gast hier noch weniger am Platz, seine Verachtung ging in Feindseligkeit über; mit gefletschten Zähnen beschnupperte er Diederichs Hose, fast war es kein Schnuppern mehr. Diederich tanzte so geräuschlos wie möglich, von einem Fuß auf den anderen, und die Dogge knurrte drohend aber leise, wohl wissend, ihr Herr könne es sonst nicht weiterkommen lassen. Dann hatte der Hund genug von dem Spiel, er ging zum Herrn und ließ sich streicheln; und neben Wulckows Stuhl hingelagert, maß er mit kühnem Jägerblicken Diederich, der sich den Schweiß wischte. ‘
Gemeines Vieh´ dachte Diederich – und plötzlich wallte es auf in ihm. Empörung und der dicke Qualm verschlugen ihm den Atem, er dachte mit unterdrücktem Keuchen: ‘Wer bin ich, daß ich mir das muß bieten lassen? Mein letzter Maschinenschmierer läßt sich das von mir nicht bieten. Ich bin Doktor. Ich bin Stadtverordneter!. Dieser ungebildete Flegel hat mich nötiger, als ich ihn! Und wer bezahlt die frechen Hungerleider? Wir!´ Gesinnung und Gefühle, alles stürzte in Diederichs Brust auf einmal zusammen, und aus den Trümmern schlug wie wild die Lohe des Hasses. ‘Menschenschinder! Säbelraßler! Hochnäsiges Pack!….Wenn wir mal Schluß machen mit der ganzen Bande -!´ Die Fäuste ballten sich in ihm selbst, in einem Anfall stummer Raserei sah er alles niedergeworfen, zerstoben: die Herren des Staates, Heer, Beamtentum, alle Machtverbände, und sie selbst, die Macht! Die Macht, die über uns hinweggeht und deren Hufe wir küssen! Gegen die wir nichts können, weil wir sie alle lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung drin haben! Ein Atom sind wir von ihr, ein verschwindendes Molekül von etwas, das sie ausgespuckt hat!… Von der Wand dort, hinter blauen Wolken, sah eisern nieder ihr bleiches Gesicht, eisern, gesträubt, blitzend: Diederich aber in wüster Selbstvergessenheit erhob die Faust. Da knurrte der Wulckowsche Hund, unter dem Präsidenten her aber kam ein donnerndes Geräusch, ein langhinrollendes Geknatter – und Diederich erschrak tief. Er verstand nicht, was dies für ein Anfall gewesen war. Das Gebäude der Ordnung wieder aufgerichtet in seiner Brust, zitterte nur noch leise. Der Herr Regierungspräsident hatte wichtige Staatsgeschäfte. Man wartete eben bis er einen bemerkte; dann bekundete man gute Gesinnung und sorgte für gute Geschäfte. „Na Doktorchen?“ sagte Herr von Wulckow und drehte seinen Sessel herum. „Was ist mit Ihnen los? Sie werden ja der reine Staatsmann. Setzen Sie sich mal auf diesen Ehrenplatz.“ „Ich darf mir schmeicheln“, stammelte Diederich. „Einiges habe ich schon erreicht für die nationale Sache.“
Heßling bekam vom Regierungspräsidenten was er wollte, nämlich die Papierlieferungen für die örtliche Lügenpresse. Seinen sozialdemokratischen Maschinenmeister behandelte Heßling just so, wie heute mit AfD-Mitgliedern und PEGIDA-Dissidenten umgesprungen wird:
„Sie sind ein widersetzlicher Bursche, der die ihm unterstellten Leute an Zuchtlosigkeit gewöhnt. Sie arbeiten für den Umsturz! Wie heißen Sie überhaupt?“
„Napoleon Fischer“, sagte der Mann. Diederich stockte.
„Nap–. Auch das noch! Sie sind Sozialdemokrat?“
„Jawohl.“
„Dachte ich mir. Sie sind entlassen.“
Von der revolutionären Jugend, die die Machtverhältnisse in Frage stellt, ist heutzutage wie im Spätkaiserreich kaum noch etwas übriggeblieben. Ein paar Tausend selbstbewußte Fußballfans, die Identitären, die zuweilen etwas eskapistische AfD-Jugend und die revolutionären Sachsen. Sonst kriegt kaum noch jemand den Hintern hoch.
Insbesondere in den Unis und Gymnasien versammeln sich angepaßte Junguntertanen von der schlimmsten Sorte. Wie in Heinrich Manns Roman: „Alles ward laut kommandiert, und wenn man es richtig befolgte, lebte man mit sich und der Welt in Frieden.“
Goethe plädierte im Prometheus dagegen für ein aktives selbstbestimmtes Leben, für ein heilig glühend Herz, das die Gesinnungssklaverei haßt:
Wer half mir
Wider der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du’s nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut …
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