Am 16. November soll unsere allseits beliebte Kanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, in Chemnitz weilen und dort mit ganz normalen Sterblichen eine Debatte führen. Eingeladen dazu hat die „Freie Presse”, ein sächsisches Online- und Print-Magazin.
Die Chemnitzer sollen mit der Kanzlerin ins Gespräch kommen, maximal 120 Leser und Leserinnen können teilnehmen. Wer nicht dabei sein kann, hat aber die Möglichkeit, dieses Jahrhundert-Highlight als Livestream im Internet zu sehen.
Am ersten Teil des Nachmittags sollen vier Leser*innen vor allen Gästen in geschlossener Runde mit Frau Merkel diskutieren dürfen, anschließend wird das Gespräch auf alle Zuschauer*innen erweitert. Wo das ganze stattfinden soll, steht angeblich noch nicht fest.
Um eine Teilnahme können sich die Leser*innen der „Freien Presse“ mit einem Coupon bewerben, den sie aus der gedruckten Mittwochausgabe ausschneiden können. Es gilt nur der Originalcoupon. Digitalabonnenten sind ein bisschen schneller dabei: Sie erhalten bereits Dienstags eine Mail mit Link zum Bewerbungsformular.
80 Prozent der Publikumsplätze sind den Lesern der Chemnitzer Ausgabe der „Freien Presse“ vorbehalten. Man will auf die Situation der Stadt Chemnitz reagieren. 30 Plätze sollen Leute erhalten, die in den letzten Wochen mit Anregungen und Kritik auf die Redaktion zugekommen seien und zusätzlich gesellschaftliche Gruppen, die die Stadtgesellschaft repräsentieren. Der verbleibende Teil werde unter den Interessenten verlost, die den Zeitungscoupon oder das Online Formular ausfüllen.
Da stutzt der aufmerksame Leser. 80 Prozent der 120 möglichen Plätze sind für Chemnitzer reserviert. Nach Adam Riese sind das dann 96 Chemnitzer, die dort Platz nehmen dürfen. Dann sollen noch 30 Leute mit Anregungen und Kritik dazukommen, dann wären das aber schon 126 von 120 Plätzen, die da belegt werden. Zusätzlich noch die „Repräsentanten der Stadtgesellschaft“… und dann werden die noch freien von den überbelegten Sitzen verlost. Zauberei?
In einem zweiten Artikel zu dieser Sache berichtet die „Freie Presse“, dass zusätzlich noch fünfzehn „Personen, die mit dem Thema Sicherheit zu tun haben“, kommen, und nun gibt es nur noch weitere 15 Personen aus dem Kreis derer, die mit Kritik und Anregungen auf die Redaktion zugekommen sind. Zudem konnten sich laut „Freie Presse“ Interessenten melden, die mitreden wollten. Diesem Aufruf seien 32 Leser gefolgt.
Potzdonner: Zweiunddreißig Leser aus ganz Chemnitz wollen mit der Kanzlerin debattieren! Das ist ja ein unglaublicher Andrang! Hoffentlich reichen da die Sicherheitskräfte des Kanzleramtes plus der örtlichen Polizei aus. Offenbar hat die „Freie Presse“ in Chemnitz aber selbst Bedenken, dass eine solche, uferlose Menschenmenge kaum zu kontrollieren sein würde. Jedenfalls habe man, so steht zu lesen, von diesen zweiunddreißig Interessenten fünfzehn Bewerber per Los ausgesucht. Damit sollten ein paar Busse voll Sicherheitskräfte, die in „Crowd-Control“ geschult sind, notfalls noch fertig werden.
Die „Freie Presse“ will nach eigenem Bekunden eine Plattform bieten, auf der mit Blick auf die „Ereignisse im August“ sachlich Probleme benannt und Lösungsansätze gefunden werden sollen.
Wir sind überaus gespannt auf diese Lösungsansätze und werden, sollte man davon erfahren, unsere Leser unterrichten.
Der Eindruck, dass dieses ganze Event sehr unkonventionell geplant und durchgeführt wird, verstärkt sich noch durch einen Bericht auf der Webseite (Merkel übergeht OB bei Chemnitz-Besuch) von „Radio Lausitz“ vom 27. September.
Wir zitieren:
“Die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig hat überrascht auf den angekündigten Besuch der Bundeskanzlerin reagiert. Angela Merkel kommt im November nach Chemnitz — zu einer Diskussionsrunde mit Lesern der Freien Presse. Das sei nicht das Format eines Bürgergesprächs, zu dem sie die Kanzlerin eingeladen habe, kritisiert das Stadtoberhaupt. ‘Eine verbindliche Antwort der Kanzlerin auf meine Einladung liegt nicht vor. Ich hoffe sehr, dass die Freie Presse dem großen Interesse an der Veranstaltung gerecht wird und tatsächlich sehr vielen Chemnitzerinnen und Chemnitzern Gelegenheit zum wirklichen Dialog mit der Kanzlerin gibt’, sagte Ludwig unserem Sender.”
Schon am 11. September hatte die „Welt“ von der Einladung der Chemnitzer Bürgermeisterin an unsere geliebte Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel berichtet. Bereits damals formulierte die „Welt“ leise kryptisch:
“Die Einladung an Angela Merkel steht, jetzt muss die Kanzlerin nur noch der Einladung von Chemnitz‘ Oberbürgermeisterin Ludwig folgen. Der wäre es am Liebsten, wenn Merkel zum bereits geplanten Bürgerdialog kommt.”
Aha, also hatte Frau OB Ludwig eine ganz andere Veranstaltung geplant, als die Gesprächsrunde bei der “Freien Presse”. Offenbar hat Frau Bundeskanzlerin tatsächlich die Dame Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig und deren bereits fest geplantes Großevent, dass diese bereits für den Oktober im Stadion Chemnitz angesetzt hatte, torpediert und stattdessen bei der „Freien Presse“ zugesagt?
Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig war fest davon ausgegangen, dass die Kanzlerin ihrer Einladung zum Gespräch und einem Großevent Folge leisten würde und sagte gegenüber der „Welt“:
„Sie soll zu einem Dialog mit den Bürgern kommen und nicht nur zu einem Gespräch mit mir.“
Soso, “Sie soll”. Nun zeigt sich aber, dass Frau Bundeskanzlerin weder zu einem Gespräch bei Frau Oberbürgermeisterin kommen wird, noch zu dem Großevent im Chemnitzer Stadion, sondern ausschließlich zu dem Privatissime-Teekränzchen-Termin eines relativ unbekannten Mediums.
Könnte das vielleicht damit zu tun haben, dass die Bundesregierung nun doch zugeben musste, dass die Behauptung der Kanzlerin, die AfD sei in Chemnitz zusammen Seit’ an Seite mit Rechtsextremisten marschiert und habe an Ausschreitungen teilgenommen, eine Falschbehauptung war? Möchte Frau Bundeskanzlerin das Ganze möglichst unauffällig und im kleinsten Rahmen halten? Wo man sicher sein kann, dass keine unangenehmen Fragen gestellt werden? Hat sie Angst, dass bei einer Großveranstaltung Proteste laut werden könnten?
Sollten unsere Leser etwas Genaueres zu diesem mathematischen und personalpolitischen Possenstück wissen — wir sind sehr interessiert.
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