Die Wende ist auch deswegen bemerkenswert, weil grundsätzlich immer galt, dass Länder mit einer ähnlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik dieselben Ziele verfolgen und zusammenarbeiten würden – ein Hauptargument der Euro-Einführung. Tatsächlich sind Frankreich und Italien beide Anhänger einer Anti-Austeritätspolitik, sprechen sich für mehr Investitionen aus und haben mit einem rasant anwachsenden Schuldenberg zu kämpfen. Die jeweiligen Vorgängerregierungen hatten sich noch unterstützt.
Bei der Haushaltsplanung wird auch das zweierlei Maßmessen vonseiten der Brüsseler Zentrale deutlich. Italien wurde medienwirksam abgestraft, weil die neue Regierung ein Defizit von 2,4 Prozent in Kauf nahm. Das französische Defizit von 2,6 Prozent wurde dagegen gar nicht thematisiert, weil man sich in der EU-Zentrale gönnerhaft gab angesichts des Umstandes, dass Frankreich seit 2008 zum ersten Mal unter der 3‑Prozent-Grenze lag. Italien ist dagegen seit 2012 den Maastricht-Verpflichtungen nachgekommen.
Die Spekulation, dass die Maßnahmen gegen die EU-Skeptiker in Rom härter ausfallen als die gegen die EU-Freunde in Paris, um ein Exempel zu statuieren, liegt nah. Die erste Reaktion in Italien war wohl die, welche man sich in Brüssel erhofft hatte: Mitglieder von Salvinis Lega polemisierten gegen den Seniorpartner der Koalition. Würde man allein das Lega-Programm verfolgen, hätte Italien ein geringeres Defizit verbucht – so die Deutung. Die Fünf-Sterne-Bewegung gilt als sozialer und etatistischer eingestellt. Die zukünftige Einführung eines Grundeinkommens hatte unter den eher wirtschaftsliberalen Lega-Anhängern bereits bei Regierungsbildung für Skepsis gesorgt. Es ist nur eine der vielen sozialen Wohltaten, welche die Partei von Luigi di Maio fordert. Die Lega ist dagegen für weniger Bürokratie, mehr Föderalismus und eine Flat-Tax. Wermutstropfen: In der Rentenpolitik ist die Lega als etatistisch einzuschätzen, weil sie hier Reformen zurückschrauben will.
Angesichts der Brüsseler Bürokratie rauften sich die Koalitionspartner dann überraschend schnell zusammen: Salvini wie Di Maio wissen, dass der Kampf gegen die übermächtige EU jenes Narrativ ist, das an der Urne Stimmen bringt. Die EU hat sich damit selbst einen Bärendienst erwiesen – denn in den folgenden Monaten können beide neuerlich gegen die „Eurokratie“ polemisieren. Salvinis Lega hat bei den Wahlen im März 17 Prozent bekommen, in den Umfragen liegt sie jetzt bei 34 Prozent. Tendenz steigend.
Das hängt nicht zuletzt mit der Person Salvinis selbst zusammen. Noch vor wenigen Jahren war die norditalienische Partei im Süden verhasst. Nun luchst sie den großen Parteien selbst in der kalabresischen Provinz Stimmen ab. In Neapel, wo sich noch vor zwei Jahren niemand hätte träumen lassen, einmal Salvini und seine „Chauvinisten“ zu wählen, bereitete man dem Innenminister einen Empfang, wie man ihn sonst nur von Papstbesuchen kennt – sieht man von Protesten, getragen von illegalen Migranten und Linksradikalen, ab. Die Stimmung in der Bevölkerung ist trotz allem gut, auch nach mehr als hundert Tagen hat die Regierung eine Zustimmungsrate jenseits der 65 Prozent.
Ganz anders im Frankreich, Zentrum der Europhilie. Macron startete vor zwei Jahren mit seiner unabhängigen Bewegung „La Republique en Marche“. Das einzige, was heute dort noch „en marche“ ist, sind die Demonstranten der Gelbwesten, die eindringlich das jähe Ende eines neuen europäischen Anführers eingeleitet haben. Es wird offensichtlich, dass der neue Napoleon an der Seine nicht einmal in der Lage ist, seinen eigenen Staat in Ordnung zu halten. Die Zustimmungsraten sind im Keller, Boykottaktionen legen sogar den Transit in den Pyrenäen lahm. 89.000 Mann bot Macron am Wochenende auf, um Paris zu sichern. Die Bilder aus der französischen Hauptstadt sind schwer mit den Hoffnungen und Erwartungshaltungen zu vereinbaren, die am Anfang von Macrons Regierungszeit standen, und den Kontinent in ein neues Zeitalter führen sollten.
Anekdote am Rande: Bei einem Fernsehbericht über die Demonstrationen skandierten die Gelbwesten den Namen Salvinis im Hintergrund.
Es ist ein Menetekel. Die von der EU goutierten Regierungen verlieren den Halt der jeweiligen Bevölkerung, während die „Populisten“ in Italien und Osteuropa fest im Sattel sitzen. Schon kündigt sich im spanischen Andalusien die nächste Partei abseits des traditionellen Parteienspektrums an, die das System herausfordert. Nicht Polen, Ungarn, Italien und Österreich sind die Ausnahme; sie sind eher das Vorzeichen eines bedeutenden Wandels. Wie immer ist es Deutschland, das ideologischen und politischen Neuerungen am längsten widersteht. Ob Brüssels wichtigste Schachfigur in Paris fällt, ist derzeit zwar eher unwahrscheinlich – aber der Schaden, den Macrons Präsidentschaft jetzt erleidet, lässt ahnen, dass eine Wiederwahl unmöglich geworden ist. Macron wird wohl wie Hollande sein Amt bis zum Ende „durchschleppen“, wenn es sein muss.
Im französischen Beispiel fällt eines der Grundprobleme im Auseinanderdriften zwischen Elite und Volk auf: Die Kluft zwischen Stadt und Land. Womöglich ist es deshalb kein Zufall, dass ausgerechnet im zentralistischen Frankreich eine Revolte dieser Prägung ausgebrochen ist. Kleinere administrative Einheiten, Nähe zum Bürger, Subsidiarität und eine gesunde Balance zwischen Zentrum und Peripherie sind im Mutterstaat des Absolutismus ein Fremdwort. Unter der Peripherie versteht man heute fälschlicherweise nur noch die krisengeschüttelten Banlieues; zur Peripherie gehören jedoch auch die infrastrukturell vernachlässigten Teile Frankreichs, die zugunsten der Metropolen ein Schattendasein fristen – Krankheitssymptome, wie wir sie von der EU kennen. Die ideologischen Projekte insbesondere im Feld der Klima- und Energiepolitik greifen dem Steuerzahler dabei doppelt in die Tasche: Einmal, weil Steuergelder zugunsten von Luftschlössern finanziert (das heißt: verbrannt) werden und zweitens, weil diejenigen, die auf das Automobil in solchen Gegenden angewiesen sind, an den Tankstellen über Steuern erneut ausgepresst werden. Dass der Staat seine Bürger zu lohnsklavenähnlichen Untertanen macht, wird in diesem besten Europa aller Zeiten immer offensichtlicher.
Vielleicht nur Hoffnungszeichen, aber keine Wende, werden sich viele sagen. Mit den Wahlen zum Europäischen Parlament im kommenden Mai könnten die Ereignisse, die sich in weiten Teilen Europas abzeichnen, jedoch für Brüssel – und damit auch Berlin – ungemütlich werden. Hierzulande ist der Sinkflug der Sozialdemokraten und der CDU eine ausgemachte Sache. Die europäischen Sozialdemokraten dürften unter dieser Schwäche ebenso leiden wie die Europäische Volkspartei. Die italienischen und französischen Verhältnisse würden dazu beisteuern, dass ein epochaler Kollaps der beiden Großparteien ins Haus steht. Ein Grund, dass die SPE überhaupt noch eine besondere Bedeutung hat, lag an den letzten Europawahlen, bei denen die Sozialdemokraten in Italien 40 Prozent der Stimmen auf sich vereinigten. Das war damals noch unter dem Hoffnungsträger Matteo Renzi. Heute krebst Renzis Partito Democratico in Richtung 15 Prozent und geht den Weg aller Parteien der linken Mitte Europas. Um die EVP steht es nicht besser: In Frankreich dürften die Republikaner kaum an ihre alten Erfolge anknüpfen, in Italien ist Silvio Berlusconis Forza Italia in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Mit Viktor Orbàns Fidesz hat es sich die EVP überdies dermaßen verscherzt, dass deren Verbleib in der Fraktion alles andere als sicher ist.
Es ist daher eine Wende mit Ansage: Bei den Europawahlen sieht derzeit alles danach aus, dass die etablierten Großfraktionen abgestraft werden und das Lager der Skeptiker zweitstärkste Kraft werden könnte. Noch beruhigen sich die Granden, dass sie möglicherweise neuerlich das finanzielle Füllhorn öffnen können, um die Regierungen in den widerspenstigen Provinzen nochmals ködern zu können. In Osteuropa misslang das bereits bei der Migrationsfrage. Entscheidend ist: Werden Salvini und Co. nur darauf abzielen, sich größere Vorteile aus dem Norden zu sichern, oder sind sie daran interessiert, die Eurozone langfristig umzugestalten? Die Unnachgiebigkeit in der Haushaltsfrage lässt hoffen, dass die Steine der bisher unantastbaren EU-Festung bröckeln.