By MOs810 - Own work, CC BY-SA 4.0, Link

Die Steine der bisher unan­tast­baren EU-Festung bröckeln

Haben Sie es bemerkt? 2018 war das Jahr der Wende. Kaum zu glauben, aber wahr: Auf euro­päi­scher Ebene rattern Zahn­räder, deren Existenz vor wenigen Monaten noch völlig unbe­kannt waren. Während hier­zu­lande Deutschland noch unter der Win­ter­land­schaft merkel’schen Mehltaus liegt, und der Streit um den Bun­des­vorsitz in der CDU bis zum letzten Wochenende noch als größtes Thema galt, kün­digen sich woanders Ver­än­de­rungen an. Große Veränderungen.
(Von Marco Gallina)
Obwohl Groß­bri­tannien offi­ziell erst am 29. März 2019 aus der Euro­päi­schen Union aus­scheidet, hat das Ver­ei­nigte König­reich bereits seit seiner Brexit-Ent­scheidung und dem damit ver­bun­denen Chaos auf­gehört, irgendeine zen­trale Rolle in der zukünf­tigen Gestaltung des Kon­ti­nents zu spielen. Da Deutschland derzeit ebenso als Gestalter aus­ge­schaltet ist – Deutschland erscheint nicht nur im euro­päi­schen Ausland als „lahme Ente“, es ist auch eine – bleiben nur noch zwei Nationen Europas übrig, die eine bedeu­tende Rolle spielen: Frank­reich und Italien.
Mit der Wahl Emmanuel Macrons im Jahr 2017 zog ein Prä­sident in den Elysée-Palast, der ganz dem Gusto der Brüs­seler Spitzen ent­sprach. Die Vor­schuss­lor­beeren von­seiten euro­päi­scher Politik und Medien waren gewaltig. Die FDP erkannte ihren neuen Liebling in jenem Mann, der als junger Gegen­entwurf zur alternden Kanz­lerin das euro­päische Projekt vor­an­bringen sollte. Als Ver­treter der glo­balen Elite – Kos­mo­polit, Invest­ment­banker, Mit­glied der Sozia­lis­ti­schen Partei und Ex-Minister – war er her­vor­ragend ver­netzt und hatte zugleich den Anspruch, „fri­schen Wind“ mit seiner neu gegrün­deten poli­ti­schen Bewegung „En Marche“ ins Land zu bringen.
Die Vor­gaben aus Paris, die im ersten Jahr Richtung Brüssel und Berlin ein­gingen, hatten in der Tat revo­lu­tio­nären Cha­rakter. Frank­reich schlug ein EU-Finanz­mi­nis­terium vor, wollte eine euro­pa­weite Arbeits­lo­sen­ver­si­cherung und trieb die Idee eines Bun­des­staates weiter voran als in den Jahren zuvor. 2017 war das Jahr Macrons, weil Frank­reich in ein Vakuum im Mäch­te­gefüge Europas stieß: das UK mit Aus­tritts­ver­hand­lungen beschäftigt, Deutschland erst vom Wahl­kampf, dann von mona­te­langen Koali­ti­ons­ver­hand­lungen gezeichnet. Es hat sich aber sehr schnell gezeigt, dass diese fran­zö­sische Hege­monie ein abruptes Ende fand, nachdem ein Gegen­spieler auf­ge­taucht war, der es mit Frank­reich auf­nehmen konnte. Über­ra­schend für viele war das nicht Deutschland – sondern Italien.
Seit der Ver­ei­digung der neuen ita­lie­ni­schen Regierung hat vor allem eine Person Europa in Atem gehalten: Lega-Chef und Innen­mi­nister Matteo Salvini. Mit ihm eta­blierte sich ein fran­zö­sisch-ita­lie­ni­scher Gegensatz in der EU, der sich nicht nur auf dem Gebiet der Migra­ti­ons­po­litik formte, sondern auch eine per­sön­liche Ebene erreichte. Kost­probe: Macron fand Sal­vinis Migra­ti­ons­po­litik zum „Kotzen“, Salvini nannte Macron einen „Schwätzer und Heuchler“.

Die Wende ist auch des­wegen bemer­kenswert, weil grund­sätzlich immer galt, dass Länder mit einer ähn­lichen Finanz- und Wirt­schafts­po­litik die­selben Ziele ver­folgen und zusam­men­ar­beiten würden – ein Haupt­ar­gument der Euro-Ein­führung. Tat­sächlich sind Frank­reich und Italien beide Anhänger einer Anti-Austeri­täts­po­litik, sprechen sich für mehr Inves­ti­tionen aus und haben mit einem rasant anwach­senden Schul­denberg zu kämpfen. Die jewei­ligen Vor­gän­ger­re­gie­rungen hatten sich noch unterstützt.
Bei der Haus­halts­planung wird auch das zwei­erlei Maß­messen von­seiten der Brüs­seler Zen­trale deutlich. Italien wurde medi­en­wirksam abge­straft, weil die neue Regierung ein Defizit von 2,4 Prozent in Kauf nahm. Das fran­zö­sische Defizit von 2,6 Prozent wurde dagegen gar nicht the­ma­ti­siert, weil man sich in der EU-Zen­trale gön­nerhaft gab ange­sichts des Umstandes, dass Frank­reich seit 2008 zum ersten Mal unter der 3‑Prozent-Grenze lag. Italien ist dagegen seit 2012 den Maas­tricht-Ver­pflich­tungen nachgekommen.
Die Spe­ku­lation, dass die Maß­nahmen gegen die EU-Skep­tiker in Rom härter aus­fallen als die gegen die EU-Freunde in Paris, um ein Exempel zu sta­tu­ieren, liegt nah. Die erste Reaktion in Italien war wohl die, welche man sich in Brüssel erhofft hatte: Mit­glieder von Sal­vinis Lega pole­mi­sierten gegen den Seni­or­partner der Koalition. Würde man allein das Lega-Pro­gramm ver­folgen, hätte Italien ein gerin­geres Defizit ver­bucht – so die Deutung. Die Fünf-Sterne-Bewegung gilt als sozialer und eta­tis­ti­scher ein­ge­stellt. Die zukünftige Ein­führung eines Grund­ein­kommens hatte unter den eher wirt­schafts­li­be­ralen Lega-Anhängern bereits bei Regie­rungs­bildung für Skepsis gesorgt. Es ist nur eine der vielen sozialen Wohl­taten, welche die Partei von Luigi di Maio fordert. Die Lega ist dagegen für weniger Büro­kratie, mehr Föde­ra­lismus und eine Flat-Tax. Wer­muts­tropfen: In der Ren­ten­po­litik ist die Lega als eta­tis­tisch ein­zu­schätzen, weil sie hier Reformen zurück­schrauben will.
Ange­sichts der Brüs­seler Büro­kratie rauften sich die Koali­ti­ons­partner dann über­ra­schend schnell zusammen: Salvini wie Di Maio wissen, dass der Kampf gegen die über­mächtige EU jenes Nar­rativ ist, das an der Urne Stimmen bringt. Die EU hat sich damit selbst einen Bären­dienst erwiesen – denn in den fol­genden Monaten können beide neu­erlich gegen die „Euro­kratie“ pole­mi­sieren. Sal­vinis Lega hat bei den Wahlen im März 17 Prozent bekommen, in den Umfragen liegt sie jetzt bei 34 Prozent. Tendenz steigend.
Das hängt nicht zuletzt mit der Person Sal­vinis selbst zusammen. Noch vor wenigen Jahren war die nord­ita­lie­nische Partei im Süden ver­hasst. Nun luchst sie den großen Par­teien selbst in der kala­bre­si­schen Provinz Stimmen ab. In Neapel, wo sich noch vor zwei Jahren niemand hätte träumen lassen, einmal Salvini und seine „Chau­vi­nisten“ zu wählen, bereitete man dem Innen­mi­nister einen Empfang, wie man ihn sonst nur von Papst­be­suchen kennt – sieht man von Pro­testen, getragen von ille­galen Migranten und Links­ra­di­kalen, ab. Die Stimmung in der Bevöl­kerung ist trotz allem gut, auch nach mehr als hundert Tagen hat die Regierung eine Zustim­mungsrate jen­seits der 65 Prozent.
Ganz anders im Frank­reich, Zentrum der Euro­philie. Macron startete vor zwei Jahren mit seiner unab­hän­gigen Bewegung „La Repu­blique en Marche“. Das einzige, was heute dort noch „en marche“ ist, sind die Demons­tranten der Gelb­westen, die ein­dringlich das jähe Ende eines neuen euro­päi­schen Anführers ein­ge­leitet haben. Es wird offen­sichtlich, dass der neue Napoleon an der Seine nicht einmal in der Lage ist, seinen eigenen Staat in Ordnung zu halten. Die Zustim­mungs­raten sind im Keller, Boy­kott­ak­tionen legen sogar den Transit in den Pyrenäen lahm. 89.000 Mann bot Macron am Wochenende auf, um Paris zu sichern. Die Bilder aus der fran­zö­si­schen Haupt­stadt sind schwer mit den Hoff­nungen und Erwar­tungs­hal­tungen zu ver­ein­baren, die am Anfang von Macrons Regie­rungszeit standen, und den Kon­tinent in ein neues Zeit­alter führen sollten.
Anekdote am Rande: Bei einem Fern­seh­be­richt über die Demons­tra­tionen skan­dierten die Gelb­westen den Namen Sal­vinis im Hintergrund.
Es ist ein Mene­tekel. Die von der EU gou­tierten Regie­rungen ver­lieren den Halt der jewei­ligen Bevöl­kerung, während die „Popu­listen“ in Italien und Ost­europa fest im Sattel sitzen. Schon kündigt sich im spa­ni­schen Anda­lusien die nächste Partei abseits des tra­di­tio­nellen Par­tei­en­spek­trums an, die das System her­aus­fordert. Nicht Polen, Ungarn, Italien und Öster­reich sind die Aus­nahme; sie sind eher das Vor­zeichen eines bedeu­tenden Wandels. Wie immer ist es Deutschland, das ideo­lo­gi­schen und poli­ti­schen Neue­rungen am längsten wider­steht. Ob Brüssels wich­tigste Schach­figur in Paris fällt, ist derzeit zwar eher unwahr­scheinlich – aber der Schaden, den Macrons Prä­si­dent­schaft jetzt erleidet, lässt ahnen, dass eine Wie­derwahl unmöglich geworden ist. Macron wird wohl wie Hol­lande sein Amt bis zum Ende „durch­schleppen“, wenn es sein muss.
Im fran­zö­si­schen Bei­spiel fällt eines der Grund­pro­bleme im Aus­ein­an­der­driften zwi­schen Elite und Volk auf: Die Kluft zwi­schen Stadt und Land. Womöglich ist es deshalb kein Zufall, dass aus­ge­rechnet im zen­tra­lis­ti­schen Frank­reich eine Revolte dieser Prägung aus­ge­brochen ist. Kleinere admi­nis­trative Ein­heiten, Nähe zum Bürger, Sub­si­dia­rität und eine gesunde Balance zwi­schen Zentrum und Peri­pherie sind im Mut­ter­staat des Abso­lu­tismus ein Fremdwort. Unter der Peri­pherie ver­steht man heute fälsch­li­cher­weise nur noch die kri­sen­ge­schüt­telten Ban­lieues; zur Peri­pherie gehören jedoch auch die infra­struk­turell ver­nach­läs­sigten Teile Frank­reichs, die zugunsten der Metro­polen ein Schat­ten­dasein fristen – Krank­heits­sym­ptome, wie wir sie von der EU kennen. Die ideo­lo­gi­schen Pro­jekte ins­be­sondere im Feld der Klima- und Ener­gie­po­litik greifen dem Steu­er­zahler dabei doppelt in die Tasche: Einmal, weil Steu­er­gelder zugunsten von Luft­schlössern finan­ziert (das heißt: ver­brannt) werden und zweitens, weil die­je­nigen, die auf das Auto­mobil in solchen Gegenden ange­wiesen sind, an den Tank­stellen über Steuern erneut aus­ge­presst werden. Dass der Staat seine Bürger zu lohn­skla­ven­ähn­lichen Unter­tanen macht, wird in diesem besten Europa aller Zeiten immer offensichtlicher.
Viel­leicht nur Hoff­nungs­zeichen, aber keine Wende, werden sich viele sagen. Mit den Wahlen zum Euro­päi­schen Par­lament im kom­menden Mai könnten die Ereig­nisse, die sich in weiten Teilen Europas abzeichnen, jedoch für Brüssel – und damit auch Berlin – unge­mütlich werden. Hier­zu­lande ist der Sinkflug der Sozi­al­de­mo­kraten und der CDU eine aus­ge­machte Sache. Die euro­päi­schen Sozi­al­de­mo­kraten dürften unter dieser Schwäche ebenso leiden wie die Euro­päische Volks­partei. Die ita­lie­ni­schen und fran­zö­si­schen Ver­hält­nisse würden dazu bei­steuern, dass ein epo­chaler Kollaps der beiden Groß­par­teien ins Haus steht. Ein Grund, dass die SPE über­haupt noch eine besondere Bedeutung hat, lag an den letzten Euro­pa­wahlen, bei denen die Sozi­al­de­mo­kraten in Italien 40 Prozent der Stimmen auf sich ver­ei­nigten. Das war damals noch unter dem Hoff­nungs­träger Matteo Renzi. Heute krebst Renzis Partito Demo­cratico in Richtung 15 Prozent und geht den Weg aller Par­teien der linken Mitte Europas. Um die EVP steht es nicht besser: In Frank­reich dürften die Repu­bli­kaner kaum an ihre alten Erfolge anknüpfen, in Italien ist Silvio Ber­lus­conis Forza Italia in der Bedeu­tungs­lo­sigkeit ver­schwunden. Mit Viktor Orbàns Fidesz hat es sich die EVP überdies der­maßen ver­scherzt, dass deren Ver­bleib in der Fraktion alles andere als sicher ist.
Es ist daher eine Wende mit Ansage: Bei den Euro­pa­wahlen sieht derzeit alles danach aus, dass die eta­blierten Groß­frak­tionen abge­straft werden und das Lager der Skep­tiker zweit­stärkste Kraft werden könnte. Noch beru­higen sich die Granden, dass sie mög­li­cher­weise neu­erlich das finan­zielle Füllhorn öffnen können, um die Regie­rungen in den wider­spens­tigen Pro­vinzen nochmals ködern zu können. In Ost­europa misslang das bereits bei der Migra­ti­ons­frage. Ent­scheidend ist: Werden Salvini und Co. nur darauf abzielen, sich größere Vor­teile aus dem Norden zu sichern, oder sind sie daran inter­es­siert, die Eurozone lang­fristig umzu­ge­stalten? Die Unnach­gie­bigkeit in der Haus­halts­frage lässt hoffen, dass die Steine der bisher unan­tast­baren EU-Festung bröckeln.

Marco Gallina stu­dierte Geschichte und Poli­tik­wis­sen­schaften, Schwer­punkt euro­päische Diplo­ma­tie­ge­schichte und schloss mit einer Arbeit über Machia­velli das Mas­ter­studium ab.
Quelle: misesde.org