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Neues Jahr, selbe alte Türkei

von Burak Bekdil

  • Der Witz geht so: Eines Tages fragt ein poli­ti­scher Gefan­gener seinen Wächter, ob er sich aus der Gefäng­nis­bi­bliothek einen bestimmten Roman eines bestimmten Autors aus­leihen könne. Die Wache ant­wortet: “Wir haben das Buch nicht in unserer Bibliothek. Aber wenn du willst, kann ich dir den Autor bringen. Er ist hier.”
  • Gegen den Chief Exe­cutive Officer von HSBC Türkei, Selim Ker­vancı, ermittelt die Staats­an­walt­schaft wegen eines Videos, das er während der Gezi-Pro­teste vor fünf Jahren ret­weetet hat. Ker­vancı wird ange­klagt, Erdoğan beleidigt zu haben, weil er einen Videoclip aus dem deut­schen Film “Downfall” aus dem Jahr 2004, der in den letzten Tagen von Adolf Hitler spielt und den Zusam­men­bruch des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutschland dar­stellt, ret­weetet hat.
  • Vor kurzem behauptete Erdoğan, dass der tür­kische Geschäftsmann und Phil­an­throp Osman Kavala, der derzeit inhaf­tiert ist und auf den Prozess wartet, für “den berühmten unga­ri­schen Juden George Soros” arbeitet. Indem Erdoğan den “berühmten unga­ri­schen Juden” zu seinen Ver­schwö­rungs­theorien hin­zu­fügte, wollte er offen­sichtlich Kavala dämo­ni­sieren und die Richter daran erinnern, dass der Ver­dächtige eine jüdische Ver­bindung hat.

Die demo­kra­tische Anomalie wurde vor einigen Jahren zur neuen tür­ki­schen Nor­ma­lität. Die Anomalie bietet manchmal auch unter­haltsame Momente. Nehmen wir zum Bei­spiel den Par­la­ments­prä­si­denten Binali Yıl­dırım, den wich­tigsten poli­ti­schen Ver­trauten von Prä­sident Recep Tayyip Erdoğan (und ehe­ma­ligen Pre­mier­mi­nister), der zum Witz des Tages wurde, als er erklärte: “Auch Tiere sind Lebe­wesen”. Jemand hat ihn auf Social Media gehänselt: “Er hat Recht. Und ich füge hinzu: Auch Pflanzen sind Lebewesen.”
Einige Tage später, unter Beschuss der Oppo­sition, weil er sich wei­gerte, als Par­la­ments­sprecher zurück­zu­treten, obwohl er am 31. März bei lan­des­weiten Kom­mu­nal­wahlen für das Amt des Bür­ger­meisters von Istanbul kan­di­dieren wollte (sie zitieren die Ver­fassung, die dem unpar­tei­ischen Par­la­ments­sprecher ver­bietet, sich an poli­ti­schen Akti­vi­täten zu betei­ligen), amü­sierte Yıl­dırım eine ganze Nation, als er sagte: “Wahlen sind keine poli­tische Akti­vität”. Nicht alle tür­ki­schen Anomalien sind so unter­haltsam wie diese.
Was die meisten Türken in den letzten Jahren für einen Witz hielten, scheint nun bittere Rea­lität zu sein. Der Witz geht so: Eines Tages fragt ein poli­ti­scher Gefan­gener seinen Wächter, ob er sich aus der Gefäng­nis­bi­bliothek einen bestimmten Roman eines bestimmten Autors aus­leihen könne. Die Wache ant­wortet: “Wir haben das Buch nicht in unserer Bibliothek. Aber wenn du willst, kann ich dir den Autor bringen. Er ist hier.”
Ein Jour­nalist hat kürzlich die wahre Geschichte auf­ge­deckt, die Mil­lionen von Türken fälsch­li­cher­weise für einen simplen Witz hielten. Ein Aka­de­miker, Mehmet Altan, wurde unter dem Vorwurf fest­ge­halten, “unter­schwellige Bot­schaften für einen Putsch zu geben”, fragte einen Wächter, ob er sich ein von seinem Bruder Ahmet geschrie­benes Buch aus­leihen könne. “Wir haben das Buch nicht”, sagte die Wache, “aber der Autor ist hier.”
Die tür­kische Hexenjagd geht also weiter. Zum 31. Oktober befanden sich 239 tür­kische Jour­na­listen in Haft oder im Gefängnis. Einer von ihnen war Max Zirngast, ein öster­rei­chi­scher Jour­nalist und Sozi­al­ak­tivist, der im Sep­tember von den tür­ki­schen Anti-Terror-Kom­mandos ver­haftet wurde. Wie in einem poli­ti­schen Thriller aus einem latein­ame­ri­ka­ni­schen Land in den 1970er-Jahren ver­suchten Zirn­gasts Ver­nehmer, Details über seine Bücher und seine Bezie­hungen zu den Kurden sowie zu linken Orga­ni­sa­tionen in der Türkei zu erfahren. Zirngast wurde am 24. Dezember frei­ge­lassen, bis zum anste­henden Prozess.
In den letzten Jahren wurden 29 Verlage geschlossen. Zehn­tau­sende von Büchern wurden beschlag­nahmt und ver­nichtet. Tau­sende von Biblio­theken haben Bücher ver­bannt, die von der Regierung ver­boten wurden. Auch Buch­hand­lungen, die von Poli­zisten besucht wurden, haben uner­wünschte Titel aus dem Regal geworfen.
Im Januar erfanden tür­kische Straf­ver­fol­gungs­be­hörden ein neues Ver­brechen für Jour­na­listen: Jour­na­lismus gegen den Staat machen. Das neue Ver­brechen, das an Hitlers Deutschland oder Stalins Sowjet­russland erinnert, ent­stand, als tür­kische Staats­an­wälte die Jour­na­listin Esra Solin Dal wegen “Mit­glied­schaft in einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­nigung” und “Jour­na­lismus gegen den Staat” ver­klagten. Dal, eine Repor­terin der pro­kur­di­schen Nach­rich­ten­agentur Mezo­po­tamya, war zusammen mit 141 Men­schen in der über­wiegend kur­di­schen Provinz Diyar­bakır ver­haftet worden. Die tür­kische Polizei ver­haftete am 9. Oktober Esra Solin Dal, eine Repor­terin der pro­kur­di­schen Mezo­po­tamya Agency, zusammen mit 141 Per­sonen in der süd­öst­lichen Provinz Diyar­bakır. Sie wurde später frei­ge­lassen, aber die Behörden lei­teten trotzdem eine Unter­su­chung ein. Schließlich akzep­tierte ein Gericht in Diyar­bakır die Anklage.
Im Dezember stellte ein pro­mi­nenter Nach­rich­ten­sprecher des Fern­sehens, nachdem er über die Pro­teste der Gelben Westen in Frank­reich berichtet hatte, seinen Zuschauern eine durchaus rea­lis­tische Frage: “Lasst uns einen fried­lichen Protest [in der Türkei] haben, einen Protest gegen … stei­gende Erd­gas­preise. “Könnten wir das tun [ohne ver­haftet zu werden]?”, fragte der Fox News (Türkei) Jour­nalist Fatih Portakal, der sechs Mil­lionen Anhänger auf Twitter hat. Nachdem Prä­sident Erdoğan Portakal verbal fertig gemacht hatte, leitete ein Staats­anwalt sofort eine Ermittlung gegen ihn ein. Die Staats­an­walt­schaft sagte, dass sie gegen Portakal wegen “offener Anstiftung anderer zu einem Ver­brechen” ermittle, nachdem der Jour­nalist spe­ku­lierte, ob Türken wie die in Frank­reich pro­tes­tieren könnten.
Die tür­kische Hexenjagd richtet sich nicht nur gegen Jour­na­listen. Der tür­kische Schau­spieler Levent Üzümcü, bekannt für seine dis­si­denten Ansichten, sagte zum Bei­spiel, dass seine Thea­ter­pro­duktion auf poli­ti­schen Druck der Behörden abgesagt wurde. In einem ver­öf­fent­lichten sar­kas­ti­schen Video sagte Üzümcü:

“In diesen Tagen, in denen Kunst und Künstler so frei wie nie zuvor sind, hat sich die Demo­kratie so sehr ver­bessert wie nie zuvor, und unsere Bühne, auf der wir unser Stück prä­sen­tieren wollten, wurde uns durch poli­ti­schen Druck genommen.”

Üzümcü nahm 2013 an den Pro­testen im Gezi-Park teil, als Mil­lionen von Türken mona­telang auf die Straße gingen, um gegen die Regierung Erdoğans zu pro­tes­tieren. Er wurde 2015 von seinem Posten am Istan­buler Stadt­theater ent­lassen, nachdem er die schwere Nie­der­schlagung der im ganzen Land ver­brei­teten Pro­teste durch die Regierung kri­ti­siert hatte.
Die Pro­teste im Gezi-Park scheinen im offi­zi­ellen Gedächtnis der Türkei unver­gesslich zu bleiben. Selim Ker­vancı, Chief Exe­cutive Officer von HSBC Türkei, wird von der Staats­an­walt­schaft wegen eines Videos unter­sucht, das er während der Gezi-Pro­teste vor fünf Jahren ret­weetet hat. Als hoch­ran­giger tür­ki­scher Mit­ar­beiter einer der größten Banken der Welt gehört er zu den hoch­ka­rä­tigsten Füh­rungs­kräften, die bei der Nie­der­schlagung des Dissens durch die Regierung ins Visier genommen worden waren. Ker­vancı wird ange­klagt, Erdoğan wegen der Belei­digung eines Video­clips aus dem deut­schen Film “Downfall” von 2004 beleidigt zu haben, der in den letzten Tagen von Adolf Hitler spielt und den Zusam­men­bruch des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutschland darstellt.
Trotz des kolos­salen Demo­kra­tie­de­fizits seines Landes ver­sucht Erdoğan offen­sichtlich, neue Feinde zu finden. Erdoğan’s Ver­schwö­rungs­theorie, dass die Türkei eine Welt­macht wäre, wenn sie nicht heimlich von einem geheimen Netzwerk von Juden bekämpft worden wäre, ist nicht geheim. Vor kurzem zeigte Erdoğan mit dem Finger auf den ame­ri­ka­ni­schen Unter­nehmer George Soros, weil er sich offen­sichtlich gegen seine Regierung ver­schworen habe. Er behauptete, dass der tür­kische Geschäftsmann und Phil­an­throp Osman Kavala, der derzeit inhaf­tiert ist und auf den Prozess wartet, für “den berühmten unga­ri­schen Juden George Soros” arbeitet. Indem Erdoğan den “berühmten unga­ri­schen Juden” zu seinen Ver­schwö­rungs­theorien hin­zu­fügte, wollte er offen­sichtlich Kavala dämo­ni­sieren und die Richter daran erinnern, dass der Ver­dächtige eine jüdische Ver­bindung hat.
Kavala wurde im Oktober 2017 wegen Spon­soring und Orga­ni­sation der Gezi-Pro­teste ver­haftet. Seitdem ist er ohne Anklage im Gefängnis gewesen. Er sagt, er wartet darauf, die Anklage gegen ihn zu sehen, um seine Unschuld zu beweisen. Nun, da Erdoğan ihn mit “diesem berühmten unga­ri­schen Juden” ver­knüpft hat, wird das viel­leicht nicht einfach sein.


Quelle: Gatestone Institute / Burak Bekdil, einer der füh­renden Jour­na­listen der Türkei, wurde kürzlich nach 29 Jahren von der renom­mier­testen Zeitung des Landes ent­lassen, weil er in Gatestone geschrieben hat, was in der Türkei geschieht. Er ist Fellow beim Middle East Forum.