Vergangenheitsbewältigung ist für jedes Volk ein heikles Thema, niemand weiß das besser, als wir Deutschen. Das russische Fernsehen hat sich in der Sendung „Nachrichten der Woche“ am Sonntag ausführlich mit diesem Thema beschäftigt. Der Grund war, dass der Vatikan angekündigt hat, ab 2020 die Akten aus der Nazi-Zeit für Historiker zu öffnen. Es geht dabei um die Vorwürfe an den damaligen Papst Pius, mit Hitler mehr oder weniger kollaboriert zu haben.
Da dieser Teil der Sendung keine interessanten Erkenntnisse brachte, die Archive sind ja noch geschlossen, habe ich ihn nicht übersetzt. Interessant wurde es aber, als in der Sendung dann beleuchtet wurde, wie verschiedene Länder mit den dunklen Teilen ihrer Vergangenheit umgehen. China hatte Mao und Millionen Tote in der Kulturrevolution, Russland hatte die Oktoberrevolution und dann Stalin inklusive Millionen Toten, Spanien hatte 40 Jahre faschistische Franko-Diktatur. Und auch die blutigen Jahre der französischen Revolution, die heute Grund für Frankreichs Nationalfeiertag ist, galten nicht immer als Grund zum Feiern. Ich übersetze diesen Beitrag auch, weil ich immer wieder nach dem Verhältnis der Russen zu ihrer Vergangenheit mit Lenin und Stalin gefragt werde.
Beginn der Übersetzung:
Am 5. März war der Jahrestag des Todes von Generalissimus Stalin und wie immer legte eine Gruppe russischer Stalisten traditionell Blumen auf seinem Grab auf dem Roten Platz in Moskau nieder.
Als ich noch klein war, lag Stalin im Mausoleum neben Lenin. Aber später, nachdem Chruschtschow auf dem 20. Parteitag das Ausmaß von Stalins Repressionen öffentlich gemacht hatte, wurde Stalins Leichnam aus dem Mausoleum genommen und gleich nebenan begraben, aber immer noch auf dem Roten Platz. Damals war das für die sowjetische Gesellschaft ein Kompromiss: Nicht im Mausoleum, aber in unmittelbarer Nähe an einer ehrenwerten Stelle in Anerkennung seiner Verdienste. Schließlich hat der Oberbefehlshaber des Sieges im Krieg das Land aus totaler Rückständigkeit in das Atomzeitalter geführt. Das ist eine Tatsache.
Jede historische Figur ist widersprüchlich. Selbst der Täufer Russlands, der heilige Fürst Vladimir, ist eine Mischung von Pluspunkten und Minuspunkten. Aber in unserem Land ist es so, dass wir entweder das Eine oder das Andere sehen. Und wir streiten immer noch, war Stalin nun schlecht oder gut.
Die Chinesen haben das mit ihrem Mao Zedong irgendwie geklärt. Nach einer Entscheidung der regierenden Kommunistischen Partei war er zu 80% gut und zu 20% schlecht. In dem Sinne, dass er Fehler gemacht hat. Aber zu 80 Prozent war Mao gut.
In China gab es in seiner fünftausendjährigen Geschichte nicht einen schlechten Herrscher, wie die Chinesen meinen. Alle taten ihr Bestes und jeder hatte seine Erfolge. Das Bewusstsein dafür unterstützt die Chinesen moralisch und es lässt sie mit leichtem Herzen in die Zukunft schreiten. Obwohl, was gab es nicht alles in ihrer Vergangenheit: Unterdrückung und Hunger, Dummheit und sogar den Zerfall des Landes.
Aber wichtig ist für sie etwas anderes. Mao fürchtete keine Schwierigkeiten bei der Lösung großer Probleme und hat in den härtesten Jahren das Ziel verfolgt, China zur ersten Macht der Welt zu machen. So haben die Chinesen damit ihren Frieden gemacht und sie sind diesem Staatschef dankbar. Das Porträt von Mao steht auf dem zentralen Platz von Peking und ist auf jedem Geldschein zu sehen. Eben ein enstpanntes Verhältnis.
Bei uns ist es anders. Wir haben immer noch viele Menschen, die Stalin vergöttern. Und viele, die ihn hassen. Gleichzeitig zeigte eine Umfrage von VTsIOM im letzten Jahr, dass 80 Prozent der Russen über Stalins Repressionen Bescheid wissen. Von Zeit zu Zeit fordert dann jemand, Stalin solle vom Roten Platz entfernt werden. Und Lenin gleich mit.
Vor kurzem wandte sich der Chefredakteur des Radiosenders „Govorit Moskva“, Sergej Dorenko, öffentlich an die Regierung: „Solange Stalin im Zentrum Moskaus ist, solange man Distanzen in Russland in der Entfernung von Stalin messen kann, solange Stalin im Zentrum des Landes liegt, solange lebt er noch. Und das muss sofort beendet werden. Stalin ist unsere Schande. Stalin ist etwas, das uns alle beschämt. Wir müssen den Mut haben, uns zu dieser Schande zu bekennen und sie zu tilgen“, sagte Dorenko.
Die Forderungen, auch Lenin aus dem Mausoleum zu entfernen, sind bekannt. Wir brauchen sie nicht zu wiederholen.
Weder Putin noch die Regierung mischen sich in die Diskussionen ein, und was den Leichnam Lenins betrifft, so ist er rein technisch gesehen momentan nicht im Mausoleum, er wurde abtransportiert. Alle anderthalb Jahre wird Lenin in das Gesamtrussische Forschungsinstitut gebracht, wo die Balsamierung erneuert wird. Vladimir Ilyich Lenin wird in ein frisches Hemd gekleidet, man bindet ihm eine neue schwarze Krawatte und legt ihm einen Anzug an. Genau das geschieht gerade. Verantwortlich für das Ganze ist der Föderale Sicherheitsdienst (FSO). Das Lenin-Mausoleum wird nach dem 16. April, dem Geburtstag des Führers des Weltproletariats, wieder eröffnet.
Wie wir sehen können, bewahrt der Staat Lenin und Stalin still und ohne unnötigen Lärm an ihren Orten. Aber warum? Nun, um keine Unruhen in der Öffentlichkeit anzuheizen.
An großen Feiertagen, zum Beispiel am Tag des Sieges im Vaterländischen Krieg oder beim Festival der Militärorchester „Erlöserturm“, wird Lenins Mausoleum mit farbigen Fassaden verdeckt, sodass seine Form nicht erkennbar ist, und Stalins Grab verschwindet hinter den Tribünen der Ehrengäste. Aber an normalen Tagen sind Lenin und Stalin an ihrem Platz.
In Russland wurde eine Art inoffizieller „Pakt des Vergessens“ geschlossen. Aus irgendwelchen Gründen können wir uns noch immer nicht einigen, wie wir diese historischen Figuren einordnen wollen. Wenn das so ist, dann vertagen wir den Streit eben auf unbestimmte Zeit.
Wir können uns auch nicht über unsere Revolution von 1917 einigen. Das 100-jährige Jubiläum verlief so ruhig, als gäbe es gar kein Jubiläum. Keine einzige zentrale Veranstaltung, keine Rede, keine Parade. Das bedeutet, wir haben es noch immer nicht verarbeitet. Und wenn das so ist, dann ist es besser, noch zu warten. Es gibt auch wirklich genug andere Probleme.
In Paris zum Beispiel gibt es jedes Jahr am 14. Juli, dem Tag der Bastille, eine Parade zu Ehren der großen Französischen Revolution. Aber um all das vergossene revolutionäre Blut zu verarbeiten und um aus der Revolution heute eine positive Energie für sich selbst zu ziehen, brauchten die Franzosen 230 Jahre. Dieses Jahr ist das Jubiläum. 100 Jahre sind wohl zu wenig, um Ereignisse von solchem Ausmaß, wie unsere Revolution, zu verdauen. Den Chinesen gelang das schneller. Uns und den Franzosen nicht. Das soll keine Bewertungen sein, es geht nur die Tatsachen.
Auch den Spaniern gelingt es nicht schneller. Jetzt verschärft sich in Spanien der Streit um das Grab von Diktator Franco im Tal der Gefallenen. Diese riesige Gedenkstätte mit dem 150 Meter hohen Kreuz galt bis vor kurzem als Denkmal der Versöhnung, weil dort Opfer beider Seiten des Bürgerkriegs und auch Franco selbst begraben liegen. Den Umfragen zufolge sind die Spanier in dieser Frage gespalten. Eine knappe Mehrheit ist für die Verlegung des Grabes von Franco an einen neuen Standort. Doch die Kontroverse wird immer heftiger.
Der Diktator Franco starb 1975. Dem Land stand ein Wechsel in ein anderes, ein demokratisches Regime, bevor. Die Gesellschaft und die neue Regierung waren schlau genug, nicht neue Zwietracht zu stiften, keine Hexenjagden zu betreiben, sondern stattdessen eine allgemeine Amnestie zu verkünden.
Das Gesetzespaket wurde zwei Jahre nach dem Tod Francos beschlossen, auch „Pakt des Vergessens“ genannt. Seine Idee war es, sich nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft zu konzentrieren. Nicht neue Feindschaft zu sähen, sondern sich gemeinsam um eine neue Zukunft kümmmern. „Der Pakt des Vergessens“ funktionierte jahrzehntelang. Jetzt werden es immer mehr, die bereit sind, dem Vergessen zu entsagen.
Ende der Übersetzung
Wenn Sie sich für die Sicht Russlands auf die aktuelle Politik und auch die Geschichte interessieren, empfehle ich Ihnen die Beschreibung zu meinem Buch zu lesen, in dem ich Putin selbst in ausführlichen und Zitaten zu Wort kommen lasse. Dort ist unter anderem auch ein Kapitel über Putins Sicht auf den Zweiten Weltkrieg enthalten.