Von Marco Gallina - Wenn Emmanuel Macron spricht, dann im Superlativ. In keinem geringeren als „im Namen der Geschichte“ wendet er sich in seinem Plan für einen „Neubeginn in Europa“ direkt an die Bürger der europäischen Mitgliedsstaaten. Es bleibt nicht der einzige pathetische Appell: Nie sei Europa seit dem Zweiten Weltkrieg so wichtig gewesen, nie so sehr bedroht, der Brexit die Kulmination dieser Bedrohung. Wie immer sind es Populisten, die Ängste schüren, obwohl Macrons Traktat an dieser Stelle so mancher rechter Schwarzmalerei und „Wir gegen Die“-Polemik den Rang abläuft. Damit jeder Europäer sich ein eigenes Bild von der tiefen Krise und den Rettungsvorschlägen des französischen Staatspräsidenten machen kann, ist der Text in allen Sprachversionen der Mitgliedsländer verfügbar. Manche spotten womöglich, weil ihm daheim im Angesicht fallender Zustimmungswerte und Gelbwestenprotesten keiner mehr zuhört.
Der nationalistische Gegner habe – so Macron – gewissermaßen durch Lug und Trug die Völker verführt, besonders in Großbritannien. Dabei sei die Europäische Union ein Garant für Frieden, Freiheit und Wohlstand. Im nächsten Atemzug ruft Macron dazu auf, aus der Union nicht nur einen Markt zu machen, sondern auch eine Verteidigungsunion. Spätestens hier drängt sich die kritische Frage auf: Ja, wenn der Kontinent erst jetzt eine eigene Armee aufbaut, wer hat den Frieden denn vorher gewahrt? Die NATO als eigentliche sicherheitspolitische Konstante, die das Wohl und Wehe des einstigen Westeuropas im Kalten Krieg bestimmte, wird aus der Geschichte ausradiert – zugunsten eines in die Vergangenheit projizierten europäischen Projekts, das den Frieden erhalten hätte. Aber dass Nuklearwaffen das Gleichgewicht des Schreckens in Balance hielten – das gehört wohl zu den unschönen Wahrheiten der Geschichte, die Macron größtenteils revidiert, ausschmückt, und mit Propaganda zugunsten seiner Ideen anreichert.
Um das Bedrohungspotential durch die populistische Gefahr von Salvini, Le Pen und Co. einzudämmen, beruft sich Macron auf die „europäische Zivilisation“. Diese müsse man „neu erfinden“. Was Macron darunter versteht – übrigens derselbe Mann, der früher leugnete, dass es eine französische Kultur gäbe – das definiert der Präsident ebenso wenig wie den Prozess einer Neuerfindung von Zivilisationen. Unglücklicherweise neigen nämlich Zivilisationen in ihrem Zerfallsprozess nicht zur Neuerfindung, sondern zum Untergang.
Inwiefern kulturelle Werte neu erfunden werden können, ohne eine Kultur damit aufzugeben bzw. sie auszutauschen, und inwiefern das hilfreich sein soll angesichts der Bedrohung durch Identitätsverlust, den ja die aufstrebenden rechten Kräfte thematisieren – auch hier verliert sich Macron in den üblichen Parolen der Europäischen Union. Klassisches Beispiel: „Die Nationalisten irren, wenn sie behaupten, sie schützten unsere Identität durch den Rückzug aus Europa. Denn es ist die europäische Zivilisation, die uns eint, uns frei macht und uns schützt.“ Hier wird die EU nicht nur mit Europa, sondern sogar der europäischen Zivilisation gleichgesetzt. Wer die EU verlässt, kappt seine kulturellen Wurzeln. Dass die Italiener plötzlich ihren Kontakt zu ihren griechisch-römischen und christlichen Traditionen oder die Werte der Aufklärung verlieren, sollten sie sich gegen Brüssel stellen – auf die Idee muss man erst einmal kommen.
Macron fasst den europäischen Neubeginn unter den drei Schlagworten Freiheit, Schutz und Fortschritt zusammen. Eigenwillig ist dabei die Prioritätensetzung dessen, was Freiheit ausmacht. Nicht etwa das Grundrecht auf Meinungsäußerung, Freiheit der Wissenschaft, Freiheit der Religionsausübung, Freiheit der Presse stehen für ihn an erster Stelle, sondern das demokratische Wahlrecht, das gegen Hacker und Manipulation geschützt werden müsse. Eine „demokratische Agentur“ soll daher europäische Mächte vor den Übergriffen des Auslands und vor „Hasskommentaren“ im Internet schützen. Da ist sie wieder, die Frage nach der Meinungsfreiheit. Die naheliegende Frage, wer den europäischen Bürger vor der EU schützt, bleibt unbeantwortet.
Schutz ist dann auch das nächste Stichwort: die EU-Armee bleibt Dauerbrenner, die Ideen aus dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag werden übernommen und konkretisiert. Ganz im Sinne des französischen Etatismus reicht das nicht: Analog zur Forderung nach einem europäischen Finanzministerium fordert Macron einen Europäischen Rat für innere Sicherheit. Der Flüchtlingskrise setzt der Präsident eine europäische Grenzbehörde entgegen, obwohl die EU derzeit nicht einmal in der Lage ist, die eigenen Grenzen zu kontrollieren. Das wollte nach eigener Aussage dazumal nicht einmal Angela Merkel an den deutschen Außengrenzen gelingen, dennoch schreckt das nicht vor der Idee zurück, den nächsten zentralistischen Apparat ins Leben rufen zu wollen. Wie die gleichzeitige Bestrafung oder gar das Verbot ausländischer Unternehmen bei Zuwiderhandlung gegen die Interessen der Union mit dem Lippenbekenntnis zum Freihandel gegen den trump’schen Protektionismus zu vereinbaren ist, bleibt ein Geheimnis des Franzosen. Es regiert das Motto: Es ist richtig, wenn wir es tun.
Wirklich beunruhigend ist allerdings der dritte Teil: Fortschritt. Nicht so sehr, weil Macron darin eine Sozialversicherung für die ganze EU fordert, von einer Klimabank und einer europäischen Lebensmittelkontrolle fabuliert oder gar einer obersten EU-Behörde träumt, die Internet-Giganten in Fesseln legen soll; es ist ein nicht geringer Hauch von Napoleonismus in diesen Vorschlägen zu finden, die in ihrem Anspruch und Größenwahn dem Original nur wenig nachstehen: „Europa ist keine Macht zweiten Ranges.“
Insgesamt erscheint das Traktat als neue Aufforderung für eine schnelle und gezielte Einigung des Kontinents, insbesondere, damit „Europa nicht erstarrt“. Die verhaltenen Kommentare, sowohl aus skeptischen Mitgliedsländern wie auch aus Deutschland – selbst die designierte Kanzlerin Kramp-Karrenbauer hat die Vorschläge des Franzosen überraschend negativ bewertet – zeigt vielmehr, dass Macrons Stern nicht nur gesunken, sondern komplett verloschen ist. Offensichtlich will niemand in der EU mit einem derart kühnen Programm die eigenen Wähler verprellen. Sie könnten sonst – ganz dem gegenteiligen Effekt entsprechend, den Macron sich durch seinen Aufruf erhofft – doch noch die „nationalistischen“ Kräfte stärken. So bleibt der Mann im Elysee-Palast nichts weiter als der beste Wahlkämpfer Salvinis im Ausland.
Marco Gallina studierte Geschichte und Politikwissenschaften, Schwerpunkt europäische Diplomatiegeschichte, und schloss mit einer Arbeit über Machiavelli das Masterstudium ab.