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Die EU Wahlen 2019 – Europa am Scheideweg?

von John James

Bei den bevor­ste­henden EU-Wahlen muss die tra­di­tio­nelle Trennung zwi­schen Arbeit und Kapital, die den poli­ti­schen Diskurs des 20. Jahr­hun­derts bestimmt hat, mit einem neuen Diskurs kon­kur­rieren — einem, der aus der Frage ent­steht, ob frei gewählte Par­la­mente Gesetze natio­naler oder lokaler Geltung ver­ab­schieden sollten, oder ob unge­wählte Tech­no­kraten Rege­lungen mit kon­ti­nen­taler oder sogar glo­baler Reich­weite dik­tieren bzw. ihre Geltung vor­geben sollen.
Die Mei­nungs­um­fragen im Vorfeld der Euro­pa­wahlen, die vom 23. bis 26. Mai statt­finden, zeigen eine deut­liche Zunahme der Unter­stützung für die soge­nannten natio­na­lis­tisch-popu­lis­ti­schen Parteien.
Ich halte diesen Begriff nicht für hilf­reich. Eine nütz­li­chere Kate­go­ri­sierung dieser Par­teien wäre es bei­spiels­weise, sie als national-demo­kra­tisch (natio­nal­staatlich) zu bezeichnen.
Ihre Ent­stehung ist ein Phä­nomen, das in allen Ländern der west­lichen Welt zu beob­achten ist. Der wich­tigste Exponent dieser Ent­wicklung ist US-Prä­sident Donald Trump, der in seinem Wahl­kampf im Jahr 2016 erklärte: „Wir werden dieses Land und seine Men­schen nicht länger dem fal­schen Lied des Glo­ba­lismus über­lassen. Der Natio­nal­staat bleibt die wahre Grundlage für Glück und Har­monie. Ich bin skep­tisch gegenüber inter­na­tio­nalen Bünd­nissen, die uns ( = Amerika) fesseln und zu Fall bringen.“
Die zuneh­mende Popu­la­rität national-demo­kra­ti­scher Par­teien ist Beweis für eine neue Ein­stellung zur sozialen und poli­ti­schen Orga­ni­sation im 21. Jahrhundert.
Das Säkulum davor wurde von einer anderen großen poli­ti­schen Unter­scheidung domi­niert — zwi­schen den einen, die glaubten, dass eine gerechte und glück­liche Gesell­schaft nur über unter­schied­liche Grade staat­licher Ein­fluss­nahme geschaffen werden kann und jenen, die dachten, Glück und Wohl­stand könne sich in einer Gesell­schaft nur aus dem frei­wil­ligem Handeln von Ein­zel­per­sonen ent­wi­ckeln, die staat­licher Kon­trolle bzw. Beein­flussung ent­zogen sind (soweit der soziale Zusam­menhalt dies zulässt).
Auf den ersten Blick scheinen die neuen national-demo­kra­ti­schen Par­teien diese Spaltung zu über­winden. Eine alter­native Erklärung ihres Ent­stehens könnte jedoch sein, dass ihr Auf­stieg Beweis eines all­ge­meinen Dege­ne­ra­ti­ons­pro­zesses im west­lichen poli­ti­schen Denken ist, der zu einer Aus­höhlung demo­kra­ti­scher Struk­turen führt.
Dies zwingt gleich­ge­sinnte poli­tische Akti­visten, sich auf der Basis eines gemein­samen Nenners neu auf­zu­stellen. Dieser gemeinsame Nenner ist ihre Loya­lität zur west­lichen demo­kra­ti­schen Tra­dition und auch zu dem Ver­ständnis von Völ­ker­recht, das 1648 im Vertrag von West­falen als Grund­prinzip eines euro­päi­schen Friedens und Zusam­men­lebens fest­ge­halten wurde.
Sozia­lis­tische und markt­wirt­schaft­liche Nationalstaatler
Ein merk­wür­diger Aspekt natio­nal­staat­licher Par­teien ist, dass sie in ihren Reihen sowohl Anhänger eines flä­chen­de­ckenden Wohl­fahrts­staats, als auch regu­lie­rungs-skep­tische Wirt­schafts­li­berale ver­einen. Sie tun dies gegen Phi­lo­sophie und Praxis des Glo­ba­lismus, auf der Grundlage ihres gemein­samen Glaubens an die nationale Demokratie.
Natio­nal­de­mo­kraten — ob Eta­tisten oder Anhänger der freien Markt­wirt­schaft — glauben an die nationale Demo­kratie. Sie glauben, dass es etwas wie Nationen gibt und dass die Gesetze, die diese Nationen regieren, von gewählten Ver­tretern in natio­nalen Par­la­menten beschlossen werden sollten.
Es scheint mir, dass eine not­wendige Kon­se­quenz dieser Haltung die Über­zeugung sein muss, dass jede Nation eine eigene kul­tu­relle Iden­tität und eine eigene Art der Ordnung ihrer sozialen Bezie­hungen hat und daher? / die eine eigene poli­tische und recht­liche Behandlung erfor­derlich macht.
Obwohl Natio­na­listen oft beschuldigt werden gegen die Ein­wan­derung zu sein, würde nichts in der obigen Defi­nition einen Natio­nal­de­mo­kraten dazu ver­pflichten, gegen Ein­wan­derung per se zu sein.
Aber die Akzeptanz der Zuwan­derung durch national-demo­kra­tische Par­teien wird sicherlich mit der Erwartung ver­bunden sein, dass Ein­wan­derer, die in ein Land kommen, um dort dau­erhaft zu leben, sich in die Kultur dieses Gast­landes inte­grieren (inte­grate) und sich schließlich daran anpassen / ‚darin auf­gehen‘ gefällt dir nicht? werden (assi­milate).
Die glo­ba­lis­tische Perspektive
Die glo­ba­lis­tische Per­spektive lehnt dagegen die Vor­stellung ab, dass Bürger ver­schie­dener Natio­nal­staaten unter­schied­liche poli­tische und recht­liche Behandlung benötigen.
Aus­gehend vom Grundsatz, dass alle Men­schen von gleichem Wert sind und die gleichen Grund­be­dürf­nisse haben (ein Grundsatz, mit dem sich Natio­nal­de­mo­kraten ein­ver­standen erklären würden), argu­men­tieren sie, dass alle Men­schen daher in einer glo­balen Gesell­schaft leben und ihr Leben nach iden­ti­schen Rechts­vor­schriften führen sollten, und zwar auf Grundlage von Gesetzen, die von im Wesent­lichen iden­ti­schen poli­ti­schen Sys­temen erlassen wurden.
Das ulti­mative Ziel des Glo­ba­lismus ist die Schaffung einer Gesell­schaft glo­baler Bürger, die von einer ein­heit­lichen Global-Gover­nance-Struktur regiert wird.
Ein zen­traler Grundsatz des Glo­ba­lismus ist, dass alle grund­le­genden poli­ti­schen und sozialen Pro­bleme per defi­ni­tionem global sind und nur von glo­balen poli­ti­schen und recht­lichen Auto­ri­täten behandelt werden können.
Glo­ba­listen-Pro­bleme mit Demo­kratie, Gewal­ten­teilung und Parlamentarismus
Obwohl Glo­ba­listen ein Lip­pen­be­kenntnis zur Demo­kratie ablegen, ist es klar, dass globale Lösungen nicht in einer Welt umge­setzt werden können, in der lokale/eine Vielzahl von autonome(n) Demo­kratien ent­scheiden können, welche Bestim­mungen einer vor­ge­schla­genen glo­balen Stra­tegie sie umsetzen und welche sie zurück­weisen möchten.
Der Glo­ba­lismus zielt daher darauf ab, globale Gover­nance-Struk­turen zu schaffen, die lokale Gesetz­geber zur Umsetzung von Rechts­vor­schriften zwingen können, deren end­gültige Wirkung schon defi­niert wurde, bevor sich ein regio­naler Gesetz­geber zu deren Erör­terung über­haupt getroffen hat.
Diese Stra­tegie wider­spricht Lehre und Tra­dition der Gewal­ten­teilung von Gesetz­geber und Exekutive.
Diese Doktrin, eine der Grund­prin­zipien der west­lichen Demo­kratie, besagt, dass der Gesetz­geber die Exe­kutive kon­trol­liert, und fordert, dass die Exe­kutive nur mit Zustimmung einer vom Volk frei gewählten Legis­lative tätig werden kann.
Diese Idee wird am tref­fendsten in der Parole „keine Besteuerung ohne Reprä­sen­tation“ zusam­men­ge­fasst und wurde als Ver­fas­sungs­grundsatz zuerst in der eng­li­schen Magna Carta von 1215 ver­ankert. Später wurde sie zur haupt­säch­lichen Begründung der ame­ri­ka­ni­schen Kolo­nisten, die damit ihr Recht auf Selbst­be­stimmung und Selbst­re­gierung argumentierten.
Das Prinzip der Gewal­ten­teilung blieb bis zum Inkraft­treten des Ver­trags von Lis­sabon im Jahr 2009 das Regie­rungs­prinzip der west­lichen Demokratie.
Nach diesem Vertrag dürfen Mit­glieder des Euro­päi­schen Par­la­ments keine Gesetze ein­leiten und Mit­glieder der natio­nalen Par­la­mente dürfen die Gesetz­gebung der EU nicht in Frage stellen.

Das aus­schließ­liche Gesetz­ge­bungs­in­itia­tiv­recht für euro­päische Rechtsakte liegt bei den nicht gewählten Büro­kraten der EU-Kom­mission. Es gibt mehrere kom­plexe Gesetz­ge­bungs­ver­fahren, die zu der Ver­ab­schiedung eines euro­päi­schen Rechts­aktes führen können. (Hier eine ver­ein­fachte Erklärung der­selben)

Wesentlich ist die Erkenntnis, dass das EU Par­lament Gesetze nur in Zusam­men­arbeit mit dem Minis­terrat ver­ab­schieden kann und zu keinem Zeit­punkt die alleinige Kon­trolle über die Gesetz­gebung über­nehmen und ein Gesetz gegen den Willen der Exe­kutive (Kom­mission und Minis­terrat) ver­ab­schieden darf.
Die Euro­päische Union: Räte­de­mo­kratie oder auf­ge­klärter Absolutismus?
Es gibt natürlich eine Defi­nition von Demo­kratie — man kann sie als eine Mar­xis­tische bezeichnen‑, die besagt, dass die Rolle eines gewählten Par­la­mentes nicht darin besteht, den Willen eines Volkes zum Aus­druck zu bringen, sondern darin, Maß­nahmen zu ergreifen, die eine aus geschicht­licher Per­spektive alter­na­tivlose Ent­wicklung vorantreiben.
Aus anderer Per­spektive erweist sich das Regie­rungs­modell des EU als eine moderne Variante des auf­ge­klärten Abso­lu­tismus, der vom öster­rei­chi­schen Kaiser Josef II in den Worten “Alles für das Volk, nichts durch das Volk” so treffend beschrieben wurde.
Die­je­nigen, die Demo­kratie aus einer dieser beiden Per­spek­tiven ver­stehen, werden es als zweck­mäßig emp­finden, zwi­schen Tech­no­kraten zu unter­scheiden, die wählbar sind (oder auch nicht), die aber jeden­falls als Spe­zia­listen in Ein­zel­be­reichen die Aufgabe erhalten, die ver­meint­lichen Inter­essen des Volkes zu iden­ti­fi­zieren; und ande­rer­seits wähl­baren Poli­tikern, die populär sein mögen, aber in den meisten Fällen nicht über das not­wendige Fach­wissen ver­fügen, um im Sinne der Tech­no­kratie das öffent­liche Interesse erkennen zu können.
Es sollte uns daher nicht über­ra­schen, aber sehr wohl beun­ru­higen, dass die „Extinction Rebellion“ — eine vor kurzem ent­standene euro­pa­weite Bewegung, die sich für eine globale durch­setzbare Reaktion auf das Phä­nomen des Kli­ma­wandels ein­setzt -, fordert, Bür­gerräte an der For­mu­lierung von Politik zu beteiligen.
siehe https://rebellion.earth/the-truth/demands/ For­derung Nummer 3.
Citizens‘ Assem­blies oder Bür­gerräte sind poli­tische Insti­tu­tionen aus der mar­xis­tisch- sowje­ti­schen Tra­dition. (Das rus­sische Wort Sowjet bedeutet Bür­gerrat). Bür­gerräte sind aus Sicht „pro­gres­siver“ Akti­visten frei gewählten Par­la­menten vielfach vorzuziehen.
Abge­ordnete frei gewählter Par­la­mente bedürfen der Zustimmung von Wahl­be­rech­tigten, bevor sie am Gesetz­ge­bungs­prozess teil­nehmen dürfen und haben ten­den­ziell einen prag­ma­ti­schen Ansatz zur Problemlösung.
Frei­willige Akti­visten sind im All­ge­meinen ideo­lo­gisch kom­pro­miss­loser. Vor allem aber sind solche Akti­visten selbst­er­nannt. Sie können von der Gesell­schaft als Ganzes nicht formal zur Rechen­schaft gezogen werden. Bür­ger­ak­ti­visten, die über NGOs agieren, tarnen sich als eine poli­tische Kraft von der Basis, unter­graben in Wirk­lichkeit jedoch ver­fas­sungs­rechtlich legitime demo­kra­tische Institutionen.
Jene, die ver­suchen, gewählte Poli­tiker als „Popu­listen“ zu dis­kre­di­tieren, scheinen sich daher eher einem eli­tärem Demo­kra­tie­ver­ständnis anzu­passen, als dass sie dem tra­di­tio­nellen west­lichen Demo­kra­tie­ver­ständnis treu bleiben würden, das von den Angel­sachsen als Regierung durch das Volk, für das Volk und des Volkes defi­niert wurde.
Eine neue Rolle für Politik und Parlament
Wie auch immer, diese anti-popu­lis­tische Haltung, die sich seit der Rati­fi­zierung des Ver­trags von Lis­sabon immer stärker durch­ge­setzt hat, spiegelt sich in den Gover­nance-Struk­turen der EU wider. Die EU geht offen­sichtlich davon aus, dass pro­fes­sio­nelle und spe­zia­li­sierte Tech­no­kraten bessere Ent­schei­dungen treffen als ein Par­lament, das aus einer diversen Gruppe von frei gewählten Bürgern besteht, die gemeinsam eine Vielzahl an unter­schied­lichen Lebens­wegen und Fähig­keiten zusammenbringen.
Poli­tiker, auch hoch­rangige, haben in und dank der EU eine neue Rolle bekommen. Statt die Gesell­schaft auf Basis ihres Wissens und Gewissens zu führen, stehen sie zunehmend vor der Aufgabe, den Gesetz­gebern und der Gesell­schaft ins­gesamt zu erklären, warum die von Büro­kraten und Tech­no­kraten for­mu­lierte Stra­tegien wün­schenswert sind; sowie vor der Aufgabe, die öffent­liche und poli­tische Zustimmung zu orga­ni­sieren, die nötig ist, um eine legitime Umsetzung dieser Stra­tegien zu ermöglichen.
Natio­nal­staat­licher Par­la­men­ta­rismus oder supra­na­tionale Expertenherrschaft
Die Frage, ob die west­liche Gesell­schaft den Übergang zu einem Regie­rungs­system durch supra­na­tionale, nicht gewählte Büro­kratien, Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tionen und Indus­trie­lob­by­isten fort­setzen wird oder ihr tra­di­tio­nelles System der Regie­rungs­bildung unter der Kon­trolle natio­naler Par­la­mente wieder geltend macht, nimmt in der öffent­lichen Dis­kussion eine zen­trale Rolle ein – und das wird auf absehbare Zeit so bleiben.
Diese Unter­scheidung ist natürlich zu stark ver­ein­facht. Die moderne Welt ist komplex und in einer Art und Weise mit­ein­ander ver­bunden, wie das im 20. Jahr­hundert kaum vor­stellbar war. Es scheint jedoch klar, dass die Bürger west­licher Gesell­schaften im 21. Jahr­hundert an einer der zwei fol­genden Über­zeu­gungen fest­halten werden:

  1. dass die Bürger das Par­lament ihres Natio­nal­staates als die domi­nie­rende poli­tische Auto­rität in ihrem Leben betrachten,
  2. dass eine Umge­staltung des poli­ti­schen Systems erfolgen soll, die die natio­nalen Par­la­mente über­flüssig macht. Die natio­nalen Par­la­mente werden durch Global-Gover­nance-Struk­turen ersetzt, in denen mit Tech­no­kraten und bestimmten Bür­ger­ak­ti­visten besetzte Bera­tungs­gremien Rege­lungen mit glo­baler Gül­tigkeit for­mu­lieren. Diese Rege­lungen erhalten ihre ver­fas­sungs­recht­liche Legi­ti­mität durch zwi­schen­staat­liche Vereinbarungen.

In diesem Modell bestünde der Haupt­zweck der Wahlen nicht mehr darin, einen freien und sou­ve­ränen Gesetz­geber zu wählen, sondern darin, Regie­rungen ein­zu­setzen, die rechts­ver­bind­liche globale Ver­träge abschließen können; Ver­träge, deren Bestim­mungen die ört­lichen Gerichte durch­setzen müssen, deren Bestim­mungen nicht auf­ge­hoben werden dürfen und die von demo­kra­tisch gewählten Par­la­menten nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen.
Selbst­mar­gi­na­li­sierung der Volksparteien
Dieses neue Demo­kra­tie­ver­ständnis und das dazu­ge­hörige Regie­rungs­modell haben iro­ni­scher­weise genau jene Par­teien unter­graben, die dieses in den letzten 25 Jahren so eifrig gefördert haben.
Der Prozess der Umstellung auf Global Gover­nance ist bisher zwar langsam ver­laufen, hatte aber tief­grei­fende Konsequenzen.
Die Par­teien, die Arbeit und Tra­dition (labour & tra­dition) ver­treten, die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen oder christlich-kon­ser­va­tiven Par­teien, haben sich selbst marginalisiert.
Ihr grund­le­gender Anspruch, die mate­ri­ellen Inter­essen und die kul­tu­relle Iden­tität einer bestimmten Unter­gruppe ihrer Nation zu ver­tei­digen, wurde durch ihre Unter­stützung für Mas­sen­ein­wan­derung und Mul­ti­kul­tu­ra­lismus in Frage gestellt. Das Modell der Glo­ba­li­sierung, das diese Par­teien beworben und vor­an­ge­trieben haben, hat sowohl zu einer sozialen Zer­split­terung als auch zu einem Rückgang der wirt­schaft­lichen Sicherheit geführt.
Zumindest in der Wahr­nehmung vieler ihrer Wähler haben die Aus­wir­kungen der Glo­ba­li­sierung den Anspruch der Volks­par­teien, die Inter­essen ihrer Wähler zu ver­treten, so sehr dis­kre­di­tiert, dass ihnen diese Kern­wähler eine weitere Zustimmung zu dieser Politik zunehmend verweigern.
In Ländern wie Frank­reich, Grie­chenland, Italien und Spanien haben Mas­sen­par­teien, die in den Jahr­zehnten nach 1945 als uner­setz­liche und feste Bestand­teile des poli­ti­schen Estab­lish­ments ihrer Nationen gegolten haben, so stark an Unter­stützung ver­loren, dass sie für nationale Regie­rungs­bildung irrelevant geworden sind.
Diese Ent­wicklung hat jetzt auch nord­eu­ro­päische Länder wie Deutschland, Groß­bri­tannien und Schweden erreicht, die nach 1945 als vor­bildlich bere­chenbar und stabil gegolten haben. Die Umfra­ge­werte, die jetzt für die SPD in Deutschland oder die Kon­ser­vative Partei in Groß­bri­tannien ver­zeichnet werden (10 — 20 %), wären noch vor 10 Jahren undenkbar gewesen.
Linke Glo­ba­listen, rechte Nationalisten?
An die Stelle der eta­blierten Par­teien sind neue Par­teien getreten, die sich offen und unmiss­ver­ständlich ent­weder der Ideo­logie der Global Gover­nance oder jener des Natio­nal­staates ver­pflichtet fühlen.
Auf der pro­gres­siven oder linken Seite finden wir glo­ba­lis­tische Par­teien wie die Grünen in Deutschland, die Libe­ral­de­mo­kraten und ChangeUK in Groß­bri­tannien oder die Demo­kra­tische Partei in den USA.
Auf der Seite der „Tra­dition“ sind neue Par­teien ent­standen, die mit jenen (alten) Par­teien kon­kur­rieren, deren Erfolg darin bestanden hat, ein poli­ti­sches Bündnis zwi­schen den Industrie- und Finanz­eliten ihrer Nationen und den sozi­al­kon­ser­va­tiven Mit­gliedern ihrer Mit­tel­schicht zu schmieden.
Weil diese neuen Par­teien aus Protest ent­standen sind, fehlen ihnen sowohl eine tief ver­wur­zelte insti­tu­tio­nelle als auch eine eben­solche soziale Natur. Aus diesem Grund waren sie in der Ver­gan­genheit oft kurz­lebig und instabil, wie bei­spiels­weise Ber­lus­conis Forza Italia, die bri­tische UKIP-Partei oder die Repu­bli­kaner in Westdeutschland.
Die Par­teien, die die Sozi­al­de­mo­kratie und den christ­lichen Kon­ser­va­tismus ver­treten, die beiden wich­tigsten Tra­di­tionen der euro­päi­schen Politik im 19. und 20. Jahr­hundert, leiden unter einer inneren Spaltung zwi­schen den­je­nigen Mit­gliedern, die der Idee des Natio­nal­staates als Quelle höchster poli­ti­scher Auto­rität treu geblieben sind, und jenen, die die Idee einer glo­ba­lis­ti­schen Trans­for­mation vor­an­treiben möchten Die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­teien leiden unter einer zusätz­lichen Kom­pli­kation: Sie haben in ihren Reihen jetzt eine große Anzahl von isla­mi­schen poli­ti­schen Akti­visten, deren For­de­rungen eben­falls berück­sichtigt werden müssen.
Es ist daher zwei­felhaft, ob die Sozi­al­de­mo­kratie oder der christ­liche Kon­ser­va­tismus in naher Zukunft eine kohä­rente Ver­fas­sungs­po­litik wird defi­nieren können, die diese ideo­lo­gische gespaltene Gruppen innerhalb ihrer Par­teien trotzdem an der Wurzel wird ver­einen können.
Nichts zeigt das besser als die Unfä­higkeit der bri­ti­schen Labour- und der Kon­ser­va­tiven Partei, eine für alle Mit­glieder akzep­table Brexit-Politik zu finden. Auf beiden Seiten dieser Par­teien beginnen Mit­glieder aus­zu­treten und sich neuen Par­teien wie der Green Party, ChangeUK oder der Brexit- Partei anzu­schließen. Diese Par­teien lehnen poli­tische Kom­pro­misse ab und bieten die Mög­lichkeit, sich offen und von ganzem Herzen für die Idee des Glo­ba­lismus oder – im Gegenteil – für die Wie­der­be­lebung des Natio­nal­staates einzusetzen.
Gelingt die Neu­for­mu­lierung des Politischen?
Die ent­schei­denden Fragen, die die Zukunft der euro­päi­schen Politik bestimmen werden, scheinen daher die fol­genden zu sein:

  • Können sich die neuen Par­teien, die sich für die Revi­ta­li­sierung des Natio­nal­staates ein­setzen, sich zu poli­ti­schen Ein­heiten ent­wi­ckeln, die in der Lage sind, wenigstens eine große Min­derheit der Nation hinter einer kohä­renten natio­nalen Politik zu versammeln?
  • Können die Brexit-Partei, der Ras­sem­blement National und die AfD soziale und poli­tische Struk­turen auf­bauen, die sie als etwas eta­blieren, das mehr ist als eine Protestpartei?
  • Können ihre Gegner, die der supra­na­tio­nalen Gover­nance und einer Gesell­schaft ohne Grenzen ver­pflichtet sind, das Gefühl der Auf­lösung und Ent­machtung über­winden, das der Glo­ba­lismus her­vor­zu­rufen scheint?
  • Können die Glo­ba­listen ihrer­seits eine positive Zukunfts­vision for­mu­lieren, die die Bürger intel­lek­tuell und emo­tional inspi­riert und die dazu dient, ver­schiedene soziale Gruppen hinter einer gemein­samen Sache zu vereinen?

Wenn die neuen Par­teien auf der glo­ba­lis­ti­schen wie auf der natio­nalen Seite diesen Her­aus­for­de­rungen nicht gewachsen sind, droht der poli­tische Diskurs in Europa in ein Spektrum sozialer und phi­lo­so­phi­scher Unter­gruppen zu zer­fallen; Unter­gruppen, deren Fähigkeit, einen poli­ti­schen Diskurs auf Grundlage all­gemein akzep­tierter poli­ti­schen Prin­zipien und innerhalb eines all­gemein akzep­tierten insti­tu­tio­nellen Rahmens zu führen, begrenzt sein wird.
Eine solche Frag­men­tierung hätte schwer­wie­gende und gefähr­liche Folgen für den sozialen Zusam­menhalt und das wirt­schaft­liche Wohl­ergehen der west­lichen Gesell­schaft. Es bleibt uns, dafür zu sorgen, dass sich unsere poli­ti­schen Intel­lek­tu­ellen und Akti­visten dieser Her­aus­for­derung stellen können.


Quelle: bachheimer.com