„Wer Istanbul verliert, kann auch die ganze Türkei verlieren“
Erdogan steht ganz plötzlich vor einem neuen Lebensabschnitt, politisch gesehen, der sein letzter sein könnte. Denn Istanbul ist nicht nur die größte Stadt seiner Heimat, sondern hat für ihn nahezu symbolhaften Charakter.
Recep Tayyip Erdogan startete seine politische Karriere vor 25 Jahren in Istanbul, und seither hat er nie mehr in Istanbul bei einer Wahl verloren. Denn er hat verstanden: Sollte er Istanbul verlieren, könnte er anschließend auch die Türkei verlieren. Das ist der Grund, warum diese Wahl für ihn von überragender Bedeutung war. Deshalb hat er die Richter gezwungen, die erste Wahl zu annullieren, weil er weiß, dass der Verlust Istanbuls mehr darstellt als eine schwere Niederlage in seiner politischen Karriere.
Dieses Mal hat der Oppositionskandidat Imamoglu mit so viel Vorsprung gewonnen, dass ihm der Wahlsieg nicht abgesprochen werden kann. Die erste Wahl annullieren zu lassen, hat also nichts geholfen. Und eine weitere bittere Erkenntnis gehört für Erdogan dazu: Die Verfassung, die er sich hat maßschneidern lassen, und die absolute Macht, die er durch das Dezimieren der Opposition geschmiedet hatte, haben ihn vergessen lassen, dass er niemals über dem Volk stand.
Mehr noch, vermutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung scheint sich, wie wir in Istanbul gesehen haben, nichts sehnlicher als eine westliche Demokratie zu wünschen. Diese Menschen werden sich jetzt gestärkt fühlen. Den neuen Mut, den sie aus dem Wahlergebnis schöpfen, wird auch Erdogan nicht so schnell wieder unterdrücken können.
Die Zeit des steten wirtschaftlichen Wachstums in der Türkei ist längst vorbei. Wirtschaftlich steht die Türkei heute miserabel da. Neben dem urbanen Wunsch nach mehr persönlicher Freiheit ist es wohl dieser Faktor, der Erdogans politische Spielräume verändert.
Bisher war der Präsident bekannt dafür, Niederlagen in Siege umzuwandeln. Wie es scheint, hat er viel von dieser Eigenschaft verloren. Er hat Leute um sich geschart, die ihm nicht widersprechen, alle seine Wünsche von den Lippen ablesen. Doch sollte niemand erwarten, dass Erdogan jetzt Selbstkritik übt. Politiker seines Schlages sind zu so etwas nicht fähig. Es ist zwar klar, dass für ihn jetzt der Anfang vom Ende begonnen hat. Aber er wird nicht aufgeben, sondern eher um sich schlagen.
Vermutlich wird er – (arg-)listig, wie er nun mal ist – versuchen, herum zu manipulieren, um den künftigen Bürgermeister von Istanbul zu blockieren, wo immer möglich. Er wird sich mit allen Mitteln dem nahenden Ende seiner Herrschaft entgegenstemmen.
Das wird neue Risiken für die Türkei zur Folge haben. Noch kann sich Erdogan auf fast die Hälfte der Türken stützen. Die politische Macht ist nach der Verfassungsreform stark auf den Präsidenten zugeschnitten. Er hätte also durchaus das Potenzial, das Land in den Abgrund zu reißen. Er wird sich an die Macht klammern – und wenn er sie zu verlieren droht, wird er versuchen, das ganze Land mit in den Abgrund zu reißen.
Dagegen gibt es jedoch eine Gegenbewegung, die man erkennt, wenn man sich die Vorgänge innerhalb der AKP anschauen. Die kontroverse Entscheidung, die Bürgermeisterwahl in Istanbul zu wiederholen, brachte die Gräben in der Regierungspartei zum Vorschein. Einige Politiker hatten öffentlich gewarnt, die Wahlwiederholung würde der Partei schaden. Jetzt sehen sie sich in ihrer Meinung bestätigt.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die AKP spaltet, da nun bewiesen wurde, dass Erdogan nicht unbesiegbar ist. Aber auch eine gänzlich andere Entwicklung ist denkbar: Es könnte sein, dass die Regierung in Ankara ihre anti-westliche Rhetorik abmildert und den außenpolitischen Kurs ändert – in der Hoffnung, das Vertrauen der Märkte und der Wähler zurückzugewinnen. Erdogan ist jede Volte zuzutrauen.
Dieser lesenswerte Beitrag erschien zuerst auf dem Blog von Peter Helmes – www.conservo.wordpress.com