Frank­furter Haupt­schule oder: Was Goethe so alles am A… vorbei geht

Von Roger Letsch
Sind Sie manchmal beim Lesen von Nach­richten oder als Zeit­zeuge der Akti­vi­täten ihrer Mit­men­schen peinlich berührt, ver­stört oder gar ange­ekelt? Blicken Sie in die Gesichter ihrer Mit­men­schen, um fest­zu­stellen, ob es denen ebenso geht? Dann machen sie sich keine Sorgen, denn sehr wahr­scheinlich wohnen sie der Ent­stehung von moderner Kunst bei. Moderne Kunst ist häufig anders und bringt im Publikum gänzlich neue Saiten zum Schwingen, als dies in über­wun­denen, patri­ar­chalen Zeiten der Fall war. Und sei die ange­schlagene Saite auch nur der Nervus vagus. Das jüngste Meis­terwerk der „Frank­furter Haupt­schule“, einem halban­onymen femi­nis­ti­schen Künst­ler­kol­lektiv mit RAF-zwei­punktnull-Attitüde, war jedoch nicht einfach ein Griff ins Klo! Statt­dessen langte man gründlich daneben.
Nicht die in den Augen der Künstler ver­dienten Exkre­mente warf man nach Goethe, um den Anti­fe­mi­nisten, Rös­lein­brecher und alten weißen Mann aus Weimar hart zu treffen. Man griff zu gerolltem und gebleichtem – womöglich mehr­la­gigem – Toi­let­ten­papier und holte kräftig aus. So ent­steht heute Kunst, ein wirklich großes Geschäft! Zu dumm nur, dass im Gegensatz zur Kunst Goethes kein Blättchen davon auf die Nachwelt kommen wird und während Arte­fakte oder Hand­schriften des Geheimen Rates hoch geschätzt werden, ver­ur­sachte der öffent­liche Unrat der Neu­künstler nur Rei­ni­gungs­kosten von 400 Euro. Geschätzt, ver­steht sich.
Doch lassen wir die Frank­furter Haupt­schüler mal bei­seite. Um erfolg­reich an Goethes Sockel pinkeln zu können, braucht es ohnehin größere Terrier. Ver­geben, ver­gessen. Auch muss man wohl bei Men­schen, die keine Poli­tiker sind, etwas groß­zü­giger mit Prin­zipien umgehen, denn einer der aktu­ellen Slogans der „Frank­furter Haupt­schule“ lautet ja „Unsere Kunst ist nicht stu­benrein, unsere Kunst ist amo­ra­lisch. Und das ist gut so“, was die mora­li­sie­rende Goethe-Anschmutzung doch irgendwie ins Reich des Absurden schiebt, wo sie ja auch hin­gehört. Wenn pos­tu­lierte Amoral über unter­stellter Amo­ra­lität den Hammer hebt, kommt nur selten ein Urteil von Bestand dabei heraus.
Mora­li­sierung und Selbstüberhöhung
Und doch wird hier etwas the­ma­ti­siert, was sich wie ein roter Faden durch die letzten Jahre über­schäu­mender öffent­licher Mora­li­sierung und Selbst­über­höhung zieht. Viel­leicht sogar absichtsvoll, gewis­ser­maßen als Spie­gelung – und nur dann fände diese alberne Per­for­mance vor dem Wei­marer Goe­thehaus meinen Beifall.
Es ist nämlich eine schlechte, neu­deutsche Ange­wohnheit, mit der eigenen intel­lek­tu­ellen und mora­li­schen Elle (als Smart­phone-App womöglich) durch die Geschichte zu wandern und auf dem Weg zurück in graue Vorzeit links und rechts mora­lische Ohr­feigen zu ver­teilen. Goethe stellte deutlich jün­geren Frauen nach, Kant war ein Pedant, Luther war ein bel­fernder Anti­semit, Chur­chill war im Grunde ein Kolo­nialist, James Joyce war Alkoholiker…überall findet man was zu kritteln, niemand kommt auf den Gedanken, dass es vom logi­schen Stand­punkt aus unzu­lässig ist, auf diese Weise in der Gegenwart in Ange­le­gen­heiten Urteile über die Ver­gan­genheit zu fällen, von denen diese nichts wissen konnte.
Ein Urteil kommt, wenn über­haupt und wenn es sich nicht gerade um Schwer­ver­brecher handelt, Zeit­ge­nossen und Nach­folgern zu, die noch nahe genug am Zeit­ge­schehen sind, um den Ort im See bezeichnen zu können, wo der Stein das Wasser durch­brach, anstatt sich Jahr­hun­derte später über das Kräuseln der Wellen am Ufer lustig zu machen und zu behaupten, man könne das viel besser. Die Richter sind sich in der Betrachtung sowohl im Fall Goethes als auch Luthers, Kants oder Joyce einig: Das Genie über­strahlt die sons­tigen Unzu­läng­lich­keiten bei Weitem, die durch die Betrachtung mit neo­fe­mi­nis­ti­scher Brille ent­stehen könnten.
Es geht der Mensch, es bleibt die Kunst. Und ist es nicht seltsam, dass man dank modernster Erkennt­nisse der Gender-Wis­sen­schaft heute zwar 64 unter­schied­liche Geschlechter iden­ti­fi­zieren (bei Mond­schein 65) und ihnen indi­vi­duelle, unver­äu­ßer­liche und nicht ver­han­delbare Rechte zuordnen kann, jedoch bei Goethe, der seit 187 Jahren als Mensch tot ist, nicht in der Lage zu sein scheint, die Unsterb­lichkeit und Unteil­barkeit seines Werkes anzuerkennen?
Mach nicht kaputt, was dich kaputt machen kann
Dabei ist man als „pro­gres­siver Künstler” heute in der Wahl der seiner Ziel­scheiben sehr selektiv und bedenkt das Echo, das einen erwartet. Man schafft es gerade mal, Göttern der Kunst wie Goethe ans Bein zu pinkeln, schreckt aber vor selbst ernannten Pro­pheten zurück, denen man aus heu­tiger Sicht die­selben Vor­würfe man­gelnden Femi­nismus machen könnte. Ein Ger­manist, der vor Wut schäumend über so viel Imper­tinenz den Zau­ber­lehrling zitiert, macht dem modernen Spötter keine Furcht – zu Recht. Ein Schrift­steller, der die „Sata­ni­schen Verse“ schreibt, muss sich hin­gegen für den Rest seines Lebens ver­steckt halten – aus gutem Grund. Die Frage, ob Goethe den Maß­stäben des 21. Jahr­hun­derts in Sachen Eman­zi­pation und Frau­en­rechten ent­sprechen kann, ist nicht zu beant­worten – schon deshalb, weil sie sich nicht stellt. Kommt man mit der­selben Elle aber einem gewissen Reli­gi­ons­stifter aus dem 7. Jahr­hundert zu nahe, sind der empörte Auf­schrei und die Beteuerung kul­tu­reller Berei­cherung groß.
Jede Zeit hat ihre Symbole und wenn Goethe im 18. Jahr­hundert noch keine Begriffe für Femi­nismus, moderne Kunst, Regie­theater oder für von Welt­ge­rech­tigkeit fan­ta­sie­rende Künst­ler­kol­lektive hatte, so würde er umge­kehrt die beab­sich­tigte Sym­bolik in dem gerollten und saug­fä­higem Papier nicht erkennen, denn das Toi­let­ten­papier in dieser Form wurde erst Ende des 19. Jahr­hun­derts erfunden. Diese Kunst­aktion der „Frank­furter Haupt­schule” bleibt also einer­seits in der Metapher stecken, füllt diese aber auf der anderen Seite mit Bedeutung: Die Real­schul- oder Gym­na­si­al­emp­fehlung wurde zurecht verweigert.


Quelle: unbesorgt.de