Außenminister Heiko Maas, Bild: Wikimedia Commons, Sandro Halank, Bildlizenz CC-BY-SA-3.0.jpg

Die Mär von Deutsch­lands huma­ni­tärer Außenpolitik

Im Tages­schau-Zerr­spiegel: Heiko der Gütige und sein global segens­reiches Wirken
(von Friedhelm Klink­hammer und Volker Bräutigam)
Wir sind die Guten! Weiß doch jeder. Deutschland tritt weltweit für Frieden, Freiheit, Huma­nität und Rechts­wahrung ein. Unser Außen­mi­nister Heiko Maas ist die mensch­ge­wordene Gerad­li­nigkeit. Schaut, wie auf­recht er da steht und geht! – Glaubt man dem regel­mäßig in der Tages­schau nach­ge­be­teten „Deutschland-Trend“ der Umfrage-Fabrik Infratest-Dimap, dann führen Kanz­lerin Merkel und ihr Minister Maas auf der Liste der belieb­testen deut­schen Poli­tiker mit Abstand. (1) Ent­spre­chend huldigt ihnen die Redaktion ARD-aktuell. Der Wahn ist nicht kurz, und von langer Reue kann keine Rede sein.
Die Tages­schau ver­leiht dem Maas seit Jahr und Tag die Aura des poli­tisch Edel­mü­tigen, betätigt sich beflissen als sein Mikro­fon­halter und merkt es anscheinend nicht einmal, wenn sie sich dabei in einem Bei­tragsmix aus Stu­diotext und Film­re­portage selbst widerlegt. So geschehen im Bericht über aus Syrien heim­ge­holte deutsche Kinder von IS-Dschi­ha­disten. Macht doch nichts, das merkt ja keiner?

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Irrtum. Kri­ti­schen Zuschauern – und deren Zahl wächst – ist es sehr wohl auf­ge­fallen. Am 19. August meldete die Tages­schau unter dem Titel
“Bemü­hungen der Bundesregierung:
Kinder von IS-Anhängern in Syrien übergeben”,
es dürften nun drei Wai­sen­kinder sowie ein wei­teres, schwer­krankes Kind endlich heim­kehren. (2) Es war eine dieser typi­schen Nach­richten im „Ersten“, zwar fak­tisch nicht falsch, jedoch der­maßen fri­siert, dass es die Urteils­bildung der Zuschauer in die falsche Richtung lenkt. Mit der Schlag­zeile „Bemü­hungen der Bundesregierung…“wird der Ein­druck ver­mittelt, es sei dem warm­her­zigen Bestreben und inten­siver Anstrengung des Kabi­netts zu danken, dass nun wenigstens schon mal einige (“arme und wehrlose”) Kinder aus uner­träg­lichen kriegs­be­dingten Ver­hält­nissen in einem kur­disch-syri­schen Gefan­ge­nen­lager ins ver­gleichs­weise para­die­sische Deutschland gerettet würden.
Außen­mi­nister Heiko Maas darf die Ver­zerrung noch ver­stärken, indem ihn die Tages­schauer kritik- und distanzlos ins hin­ge­haltene Mikrofon säuseln lassen:
“Es ist sehr erfreulich, dass vier deutsche Kinder, die sich bisher in Nord­syrien in Gewahrsam befunden haben, heute das Land ver­lassen konnten. Wir werden uns dafür ein­setzen, dass auch weitere Kinder Syrien ver­lassen können”. (ebd.)
Dem schön kolo­rierten Bild von der guten Tat der deut­schen Regierung wider­spricht aller­dings die zen­trale Aussage des Films, der dem Beitrag bei­gefügt ist. In unge­wöhnlich kri­ti­scher Tonlage wird darin gesagt, dass die Ver­hand­lungen mit den Kurden “schwierig” und über­haupt erst auf “Druck der Groß­eltern aus Deutschland” vor­an­ge­kommen seien. Ein wei­teres Zitat:
“Der Druck auf die deutsche Regierung steige, weitere Kinder aus Syrien zurück­zu­nehmen”. (ebd.)
Ver­hand­lungen nur auf­grund gericht­licher Schritte der Ange­hö­rigen und ihres „Drucks“: Das klingt aller­dings ganz anders als das Märchen von den löb­lichen Bemü­hungen der Bun­des­re­gierung, wei­ter­erzählt von der Ham­burger Redaktion ARD-aktuell. Wir betrachten hier, auf Neu­deutsch, Fake news, widerlegt in der eigenen Fol­ge­be­richt­erstattung. Das zarte Pro­pa­gan­da­gewebe hat eine kräftige Laufmasche.
Der Vorgang wirft zunächst die Frage auf, was denn eigentlich so schwierig daran ist, deutsche Kinder aus den kur­di­schen Gefan­ge­nen­lagern heim­zu­holen, da doch die Kurden nichts lieber sähen, als die Ver­ant­wortung für sie und ihre Eltern los­zu­werden. Wenn´s also gar nicht die Kurden sind, die da Pro­bleme machen, wer wohl dann?
Gleich kommen wir drauf. Zunächst eine Selbst­ver­ständ­lichkeit: Die Kinder können nichts dafür, dass sie Eltern haben, die dem IS ange­hörten. Es sind, soviel weiß man inzwi­schen, min­destens 117 Jungen und Mädchen. Das berichtete sogar die ARD-aktuell. (3)
Bei der Suche nach wei­teren Ant­worten stößt man auf Erstaun­liches: Das Aus­wärtige Amt, geleitet von Heiko dem Groß­her­zigen, „mauert“ seit vielen Monaten. Er musste im Eil­ver­fahren von einem nie­der­säch­si­schen Richter dazu ver­donnert werden, einer Mutter und ihren drei Kindern die Heim­reise aus Syrien zu gestatten, ehe er endlich mal in die Gänge kam. Auch darüber infor­mierte die ARD-aktuell. (4) Aller­dings nicht in ihrem Fern­seh­an­gebot, sondern nur ver­schämt in der unauf­fäl­ligen Internet-Nische tagesschau.de:
„In der Bun­des­re­gierung werden ange­sichts von zahl­reichen wei­teren Klagen von IS-Ange­hö­rigen und ihren Familien schon bald weitere Gerichts­ent­schei­dungen erwartet. Trotz mona­te­langer (Her­vor­hebung d.V.) Dis­kus­sionen haben sich die betei­ligten Minis­terien bisher auf keine Linie einigen können, wie mit dieser Pro­ble­matik umge­gangen werden soll.“ (ebd.)
Unter den „betei­ligten Minis­terien“ sind min­destens das Innen­mi­nis­terium und das Außen­mi­nis­terium zu ver­stehen, auch das Jus­tiz­mi­nis­terium ist wohl tan­giert. Mit „Pro­ble­matik“ ist gemeint, dass viele Kinder in den Lagern noch Eltern haben; mit deren Rückkehr jedoch haben die minis­te­ri­ellen Beden­ken­träger Schwie­rig­keiten. Sie fürchten den Re-Import poten­zi­eller Kri­mi­neller und hegen die Sorge, sich hier­zu­lande mit Dschi­ha­disten und Ter­ro­risten straf­rechtlich auf­wendig befassen zu müssen.
Die „Linie“ des Aus­wär­tigen Amts im nie­der­säch­si­schen Prozess war deshalb:
„Die Kinder ja, die Mutter nein.“ (ebd.)
Jetzt haben wir´s. Nicht die „Ver­hand­lungen mit den Kurden“ sind „schwierig“, wie die Tages­schau behauptete, damit die Bun­des­re­gierung nicht gar zu schäbig dasteht. Sondern die regie­rungs­in­ternen „mona­te­langen Dis­kus­sionen“ werfen Pro­bleme auf. Das hätte die Tages­schau zwar kühl und knapp so sagen müssen. Hat sie aber nicht gesagt.
Erst der Ein­zel­richter machte dem Ber­liner Zoff ein Ende, wenn auch nur im kon­kreten Einzelfall:
„Gericht ent­scheidet heikle Grund­satz­frage nicht“ (ebd.),
steht da als holprig for­mu­lierter Zwi­schen­titel im Text auf tagesschau.de. Als „heikle Grund­satz­frage“ bezeichnen unsere regie­rungs­frommen Staats­funker, was in dem Eil­ver­fahren selbst­ver­ständlich nicht ver­handelt worden war: dass nämlich einem deut­schen Staats­bürger die Ein­reise nach Deutschland auch dann nicht ver­weigert werden darf, wenn er sich im Ausland strafbar gemacht hat. Unser Vor­schlag an ARD-aktuell-Qua­li­täts­schreiber: Nach­schlagen im Grund­ge­setzbuch hilft bei der Rechts­findung und schützt euch vor heiklen Grundsatzfragen.
Wie ging das noch gleich in der hier bespro­chenen Fernseh-Tages­schau? O‑Ton des Meis­ter­di­plo­maten Heiko Maas:
“Es ist sehr erfreulich, dass vier deutsche Kinder … heute das Land ver­lassen konnten. Wir werden uns dafür ein­setzen, dass auch weitere Kinder…” (s.o.)
Im poli­ti­schen Alltag mag Cha­rak­ter­lo­sigkeit als Norm gelten. Einen vor Eitelkeit plat­zenden Minister sich selbst dar­stellen zu lassen und ihn nicht auf die Unver­ein­barkeit seiner großen Sprüche mit seiner poli­ti­schen Praxis fest­zu­nageln, das zeigt: Nor­mierte Cha­rak­ter­lo­sigkeit kenn­zeichnet mitt­ler­weile auch den Tagesschau-Journalismus.
Die Dop­pel­bö­digkeit der “Tagesschau”-Darstellung ist ver­mutlich darauf zurück­zu­führen, dass die Redaktion ver­meiden wollte, den größten und belieb­testen Außen­mi­nister aller Zeiten und mit ihm die gesamte Bun­des­re­gierung in ungüns­tigem Licht erscheinen zu lassen. Das wäre der typische Reflex von glatt­ge­bü­gelten Kon­for­misten, die sich für Jour­na­listen halten, obwohl sie gar nicht anders können, als die her­aus­ge­ho­benen Sub­jekte in Par­lament und Politik kri­tiklos in warmen Farben zu malen. Wenn sie im Zuge dieser Schön­fär­berei die Arbeit eigener kri­ti­scher Kol­legen kon­ter­ka­rieren, die sich um kor­rekte Dar­stellung bemüht hatten: Macht doch nichts… (s.o.).
Das Märchen – vulgo: Nar­rativ – von der guten und gerechten deut­schen Außen­po­litik wird mit Krampf immer wieder auf­gesagt. Vieles, was zu kri­ti­sieren und zu ver­ur­teilen wäre an der deut­schen Außen­po­litik, wird ver­schleiert oder ver­schwindet in den Tagesschau-Kulissen:
Die Betei­ligung der Bun­deswehr am Abschlachten der Zivil­be­völ­kerung im ira­ki­schen Mossul (5) wird genauso ver­schwiegen wie die poli­tische Unter­stützung Berlins für den rechts­extrem-faschis­toiden bra­si­lia­ni­schen Prä­si­denten Bol­sonaro (6) und für die regie­renden hon­du­ra­ni­schen und kolum­bia­ni­schen Ultras. (7) Über die Blut­säufer-Des­potie Saudi-Arabien (Tages­schau-Jargon: „sau­dische Mon­archie“) wird zwar ver­mittelt, sie dürfe eigentlich keine Jour­na­listen tot­foltern und zer­stü­ckeln (8), aber dass sie wieder deutsche Waffen bezieht (9), mit denen sie jeme­ni­tische Kinder mas­sa­kriert, fällt unter den Tisch. Israels Sicherheit ist bekanntlich deutsche Staats­räson (10); für die Tages­schau heißt das, Nach­richten über israe­lische Luft­an­griffe auf syrische und ira­kische Ziele (11) immer wieder zu unter­schlagen und unge­zählte Völ­ker­rechts­ver­let­zungen Israels sowie die meisten seiner Ver­brechen in den besetzten Teilen Paläs­tinas (12) einfach zu igno­rieren. Olig­archen und neo­na­zis­tische Ban­diten der Ukraine werden als Helden der Demo­kratie gefeiert (13) und gleich­zeitig wird in Vene­zuela und Syrien mit men­schen­feind­lichen Sank­tionen selbst Kindern und hilf­losen Alten die Lebens­grundlage ent­zogen, ohne dass die Tages­schau es zum Dau­er­thema macht.
Umfas­sende Nach­richten über Waf­fen­ex­porte an ara­bische Mörder-Regimes? Über Schmiergeld und poli­tische Unter­stützung für Weiß­helm­träger, die Kumpane von Dschi­ha­disten? (14, 15) Über die Mit­tä­ter­schaft der Bun­des­luft­waffe an dem US-Kriegs­ver­brechen im syri­schen Der-es-Zur? (16) Über die Umtriebe deut­scher Par­tei­stif­tungen in Latein­amerika? Pustekuchen.
Nicht zu reden von der Ignoranz, mit der die ARD-aktuell-Redaktion eine Politik kaschieren hilft, die Kanz­lerin Merkel als „Flucht­ur­sachen bekämpfen“ ausgibt: Deutsch­lands Unter­stützung für libysche Auto­kraten in Tri­polis, damit die die Flücht­linge aus Schwarz­afrika von Ter­ror­kom­mandos abfangen lassen, sie in grausige, KZ-ähn­liche Lager sperren und den Rest nach Ruanda abschieben (17) – auf dass sie dort und nicht erst im Mit­telmeer ver­recken, was andauernd nur Ärger und Schlag­zeilen macht.
Deutsch­lands Außen­po­litik hat unleugbar eine mör­de­rische Kom­po­nente. Wer diese Agenda ver­treten kann, ohne sich davon anfressen zu lassen und einen Psy­cho­knacks zu kriegen, der muss bis obenhin mit Selbst­ge­rech­tigkeit abge­füllt sein, so dass gar kein Platz mehr ist für nor­males Rechts­emp­finden und Anstands­gefühl. Er braucht einen Moral­kompass, der auf keinen Magnetpol mehr anspricht.
Die Liste deut­scher außen­po­li­ti­scher Wider­wär­tig­keiten ist ellenlang, und das jour­na­lis­tische Ver­sagen ange­sichts der zahl­losen Lum­pe­reien scheint kein Ende zu finden. Unter dem Ver­laut­ba­rungs-Deckel gehalten wird derzeit gerade, dass bereits Pla­nungen laufen, deut­sches Militär als impe­riale Schutz­truppe wirt­schaft­licher Inter­essen im Nahen Osten gegen den Iran auf­zu­stellen. (18) Es bleibt, wie so vieles, der Auf­merk­samkeit der deut­schen Bevöl­kerung vorenthalten.
Aus­führlich berichtet die Tages­schau hin­gegen über alles, was geeignet ist, deutsche Politik vor den Augen der eigenen Bevöl­kerung in ein gül­denes Licht zu tauchen. Öko­no­mi­scher Erfolg (für Kapital und Kon­zerne) und glo­baler Huma­ni­täts­an­spruch werden als Typik der guten deut­schen Politik gefeiert.
Diese Praxis zeigt seit Jahr­zehnten Wirkung. Die Außen­mi­nister zählen stets zu den belieb­testen Poli­tikern. Das galt für den grünen Kriegs­hetzer und Lügner „Joschka“ Fischer, den Ehr­geizling Stein­meier (der prä­si­diale Kar­riere machte trotz seiner fiesen Aktionen als Kanz­ler­amts­mi­nister und als Pro­moter der Hartz-Gesetze sowie der Zer­störung der gesetz­lichen Rente) in gleichem Umfang, wie es für die groß­mäulige Fehl­be­setzung Heiko Maas gilt. Er ran­giert sogar im „Polit­ba­ro­meter“ des eher SPD-fernen ZDF-heu­te­journal derzeit auf Platz 3 der Beliebt­heits­skala, obwohl gerade mal die Hälfte der Bevöl­kerung „mit seiner Arbeit zufrieden“ ist. (19) Auf Platz 2 nach der Kanz­lerin haben die fürs ZDF tätigen Demo­skopen jetzt den Grünen Robert Habeck gesetzt. Es ist aller­orten spürbar, wie erfolg­reich die Fern­seh­nach­richten das deutsche Publikum davor bewahren, sich mutig des eigenen Ver­standes zu bedienen. (20)
Der jour­na­lis­tische Pfusch der ARD-aktuell zeigt sich auch an anderer Stelle der hier dis­ku­tierten Tages­schau (20 Uhr) vom 19. August 2019:
Das räu­be­rische Auf­bringen und Entern des ira­ni­schen Tankers „Grace1“ am 4. Juli vor Gibraltar durch die bri­tische Marine – London hatte sich dazu von den USA ver­leiten lassen – war tagelang Auf­macher in den Nach­richten weltweit. Kri­tisch wurde ange­merkt, diese Miss­achtung aller inter­na­tio­nalen Rechts­normen sei dazu angetan, einen wei­teren Krieg im Nahen Osten her­auf­zu­be­schwören. (21) Bei der Tages­schau schnallte man das erst einmal nicht. Nach einer Woche kam die Redaktion dann zwar mit einer Story nieder (22). Aber darin ging es zunächst bloß um die Behauptung US-ame­ri­ka­ni­scher und bri­ti­scher Militärs, die Iraner hätten ihrer­seits einen bri­ti­schen Tanker in der Straße von Hormus aggressiv behindert. Beweise dafür fehlten. Nur bei­läufig und erst ganz am Schluss des Bei­trages hörten die 10 Mil­lionen deut­schen Fern­seh­zu­schauer, dass es eine Woche zuvor (!) in der Straße von Gibraltar den Vorfall mit der „Grace1“ gegeben hatte.
Kri­tik­würdige, völ­ker­rechts­widrige Politik des Westens mar­gi­na­li­sieren und hinter einer def­tigen Portion kri­ti­scher Schein­in­for­mation über angeb­liche Gegner ver­stecken: Das ist ein klas­si­sches Pro­pa­gan­da­modell („Angriff ist die beste Ver­tei­digung“). Die Tages­schau ver­suchte zwar, objektiv zu erscheinen. Ihre gedrech­selte, ver­korkste Wortwahl und die Unter­schlagung wich­tiger Zusatz­in­for­ma­tionen machten jedoch deutlich, dass der dreiste Akt der Pira­terie gegen den Iran ver­harmlost werden sollte:
“Im bri­ti­schen Gibraltar wird der unter der Flagge Panamas fah­rende Super­tanker „Grace 1“ mit Öl aus dem Iran an die Kette gelegt.” (23)
Hunde legt man an die Kette. Schiffe hin­gegen, auch ver­meintlich schuldhaft geführte, legen an und machen fest. Mit Leinen (Tauen), nicht Ketten. Klas­si­sches Kom­mando: „Leinen los!“ Klar doch, nur eine sprach­liche Peti­tesse, aber signi­fikant: Die Ham­burger Redaktion (räumlich wenige Kilo­meter ent­fernt von einem der größten See­häfen Europas, stündlich legen dort Schiffe an) kupfert bloß mies for­mu­lierte Agen­tur­texte ab und denkt nicht selbst groß drüber nach.
Trotz der fraglos hohen geo­po­li­ti­schen Bedeutung kamen Freigabe und Wei­ter­fahrt des Tankers am 19. August erst an letzter Stelle der Tages­schau-Nach­richten vor. War da über­haupt was gewesen? Jour­na­lis­tische Nebelwerferei:
“Der Tanker, der wochenlang vor der bri­ti­schen Enklave Gibraltar fest­ge­halten wurde, hat in der ver­gan­genen Nacht wieder Fahrt aufgenommen…die Behörden in Gibraltar hatten das Schiff Anfang Juli beschlag­nahmt wegen des Ver­dachts auf illegale Öllie­fe­rungen an Syrien.” (24)
Dar­ge­stellt wird damit nur der sichtbare Gesche­hens­ablauf. Auf­trags­widrig unter­lässt es die Redaktion, ein­zu­ordnen, was hier Sache war: Entern und Auf­bringen des Tankers sind demons­trative Rechts­brüche, sowohl nach dem Völ­ker­recht als auch nach der Inter­na­tio­nalen See­rechts­kon­vention, genauer: dem „See­rechts­über­ein­kommen der Ver­einten Nationen.“ (25) Die Fest­nahme des Kapitäns und eines Offi­ziers des Tankers war auch straf­rechtlich relevant: Freiheitsberaubung.
Gänzlich unter­schlägt die Tages­schau, dass das Oberste Gericht der Kron­ko­lonie Gibraltar und der Gou­verneur des Mini­staates die Courage hatten, sich gegen die impe­rialen Rechts­brecher in Washington sowie deren ebenso kri­mi­nelle Vasallen in London und für die Geltung inter­na­tio­nalen Rechts ein­zu­setzen – für den Welt­frieden. Keine Selbst­ver­ständ­lichkeit! Wenn man ihren Mut mit dem Ber­liner Niveau ver­gleicht, kann das zum sofor­tigen Griff nach der Wod­ka­flasche verleiten.
Kri­tisch denken und ver­gleichen soll man eben nicht. Da sei die Tages­schau vor. Ihre wie­der­holte Behauptung, es habe der Ver­dacht einer „ille­galen“ Öllie­ferung an Syrien bestanden, pflanzte dem Zuschauer die Über­zeugung ins Hirn, der Iran trage die Schuld an der kri­ti­schen Situation. Zur Her­stellung dieses ver­queren Urteils reicht es völlig aus, mehrmals von “Ver­dacht“ zu reden, wo es allen­falls „Ver­däch­tigung“ heißen dürfte. oder „Bezich­tigung“. Ein feiner, aber ent­schei­dender Unter­schied: Der Ver­dacht basiert bekanntlich auf (min­destens) einem äußeren Anlass (sonst heißt er „halt­loser Ver­dacht“), eine Ver­däch­tigung hin­gegen kann man jederzeit völlig grundlos vom Stapel lassen. Haben wir es bei den Tages­schau-Redak­teuren mit purer Unfä­higkeit zu tun, sprachlich korrekt zu bleiben – oder mit der Absicht, per schräger Wortwahl unauf­fällig zu manipulieren?
Wäre es hilf­reich, die Tages­schau-Redak­teure und ihren Chef täglich vor der Arbeits­auf­nahme 50 mal Knie­beugen machen und dazu jeweils den Satz auf­sagen zu lassen: „Sprache ist der Schlüssel des Denkens.“?
Die Sank­ti­ons­po­litik der USA gegen den Iran und gegen Syrien ist impe­rialer Macht­aus­druck unter Bruch des Völ­ker­rechts. Nichts anderes. Die Sank­ti­ons­po­litik Deutsch­lands und der EU gegen Syrien ist nicht minder rechts­widrig, auch wenn die Pro­pa­gan­da­kom­panie der Bun­des­re­gierung das vor der Presse bestreitet: Der mör­de­rische Wirt­schafts- und Finanz­krieg gegen Syrien ist weder durch Beschlüsse des UN-Sicher­heitsrats gedeckt, noch respek­tiert er die Prin­zipien der UN-Charta. Es fehlt demnach jeg­liche Rechts­grundlage, ira­nische Öllie­fe­rungen als „illegal“, als unge­setzlich zu bezeichnen; gleichviel, ob das Öl nach Syrien oder zu einem anderen Emp­fänger gebracht werden soll.
Was von Washington zum Gesetz gemacht werden kann, mag den Rest der Welt unter Druck setzen und even­tuell ein­schüchtern, aber rechtlich bindend – „legal“ – ist es außerhalb der USA nicht. Die schon per se völ­ker­rechts­wid­rigen EU-Sank­tionen gegen Syrien sind eben­falls nicht einfach auf Iran anwendbar. Der­ge­stalt Droh­po­litik zu betreiben heißt, die UN-Charta sys­te­ma­tisch zu untergraben.
Daran hätte die Tages­schau erinnern müssen. Hat sie aber nicht.
Schädlich fol­gen­reich ist ihr abwe­giger Hinweis auf die angeb­liche Ille­ga­lität der Öllie­fe­rungen allemal: Je öfter man eine der­artige Infor­mation hört oder liest, desto eher wird sie als „wahr“ begriffen. Dieser Effekt ist so nach­drücklich, dass bestimmte Aus­sagen sogar dann als wahr im Gedächtnis bleiben, wenn sie nach einiger Zeit vom Urheber selbst als falsch dekla­riert worden waren. (26) Der erste Ein­druck ist ent­scheidend. Sollten ARD-aktuell-Jour­na­listen das etwa nicht selbst ganz genau wissen?
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Die Vor­stellung von einem ille­galen Ölge­schäft wird auch mit der Folge-Bericht­erstattung über den Tanker wach­ge­halten und ver­stärkt, nachdem der aus dem Hafen Gibraltar endlich wieder aus­laufen konnte. ARD-aktuell meldet, dass das Schiff keinen grie­chi­schen Hafen ansteuern dürfe, dass sein Kurs über­wacht und dass kon­trol­liert werde, ob es nicht doch einen syri­schen Hafen anlaufe. Sie meldet nicht, dass dieses eben­falls rechts­widrige Vor­gehen gegen den Öltanker nur auf­grund kri­mi­nellen Drucks der USA von­stat­ten­gehen kann.
Zu den schänd­lichen Ver­säum­nissen der ARD-aktuell-Redaktion zählt, dass sie die Rechts­wid­rigkeit des Pira­tenakts vor Gibraltar kon­se­quent igno­rierte. Die Beschlag­nahme der „Grace1“ am 4. Juli durch ein bri­ti­sches Mari­ne­kom­mando in der Straße von Gibraltar finde
„keine Rechts­grundlage im See­völ­ker­recht“ (27),
heißt es in einem Gut­achten des Wis­sen­schaft­lichen Dienstes des Bun­des­tages, das von der Fraktion “Die Linke” bean­tragt worden war. Spä­testens darüber hätte berichtet werden müssen. Aber die Tages­schau ver­schwieg es. Wen wundert das noch? Die Qua­li­täts­jour­naille huldigt dem Rechts­ni­hi­lismus. Sie macht sich darin mit der Bun­des­re­gierung gemein. In scham­loser Kum­panei igno­rieren beide, Regierung und Tröte Tages­schau, das Rechts­gut­achten der wis­sen­schaft­lichen Dienste des Bun­des­tages. Die arro­gante Art, wie der Sprecher des Außen­mi­nisters in der Bun­des­pres­se­kon­ferenz nicht zum ersten Mal Fragen nach der Völ­ker­rechts­kon­for­mität abzu­bügeln ver­sucht, sagt alles. (28)
Das pas­sierte innerhalb der ver­gan­genen elf Monate nun schon zum dritten Mal. (29) Die Juristen des Bun­des­tages beschei­nigen der Bun­des­re­gierung völ­ker­rechts­wid­riges Handeln (Syrien, Vene­zuela und nunmehr im Zusam­menhang mit der „Grace 1“). Kanz­lerin und Minister kümmert´s nicht.
Und die ARD-aktuell? Ihre Bezug­nahme auf das Völ­ker­recht findet ebenso wie die ein­seitige Nach­rich­ten­auswahl und ‑gestaltung nach Schema F statt: Es wird nur dann ein Rechts­bruch rekla­miert, wenn er den “Bösen” zuge­schrieben werden kann, ob nun begründet oder nicht („Annexion“ der Krim!) Dass sich die “West­liche Wer­te­ge­mein­schaft” selbst einen Dreck um inter­na­tionale Rechts­normen schert (Jugo­slawien, Irak, Vene­zuela, Syrien, Iran, Jemen, Libyen usw. usw.), und zwar gewohn­heits­mäßig und Tag für Tag, ist dem Ham­burger Qua­li­täts­laden nicht mal ein müdes Schul­ter­zucken wert.
Bitte gedanklich Schutz­kleidung anlegen, liebe Leser, auch die Brille nicht ver­gessen: ARD-aktuell wird unwei­gerlich und schon in wenigen Tagen die nächste Mei­nungs­um­frage abfeuern. Ein neu­er­licher audio-visu­eller Angriff auf die geistige Inte­grität des Publikums steht bevor. Wir wollen uns vor Augen halten: Heiko Maas ist so beliebt (s. Anm. 1), weil unge­zählte Befra­gungs­opfer der Demo­skopen keinen Dunst von ihm und seinen Akti­vi­täten haben.
Wir sind die Guten! Weiß doch jeder. Das ist die Haupt­sache. Gelle?
Quellen:
(1) https://www.infratest-dimap.de/fileadmin/user_upload/DT1908_Bericht.pdf
(2) https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-583297.html
(3) https://www.tagesschau.de/investigativ/wdr/is-kinder-131.html
(4) https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/is-kinder-133.html
(5) https://www.graswurzel.net/gwr/2017/06/die-bundeswehr-und-die-hoelle-von-mossul/
(6) https://www.spiegel.de/politik/deutschland/heiko-maas-trifft-jair-bolsonaro-besuch-beim-tropen-trump-a-1265252.html
(7) https://www.tagesschau.de/ausland/maas-kolumbien-venezuela-101.html
(8) https://www.tagesschau.de/ausland/mordfall-kashoggi-101.html
(9) https://www.dw.com/de/wieder-waffenexporte-richtung-saudi-arabien/a‑48295875
(10) https://www.bpb.de/apuz/199894/israels-sicherheit-als-deutsche-staatsraeson?p=all
(11) https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/hat-israel-luftangriffe-von-syrien-auf-irak-ausgeweitet-16309727.html
(12) https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/israel-und-besetzte-gebiete
(13) https://www.tagesschau.de/inland/merkel-poroschenko-139.html
(14) https://www.rubikon.news/artikel/die-weisshelm-terroristen
(15) https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/160923-weisshelme/283680
(16) https://flutterbareer.wordpress.com/2019/02/03/usa-bombardiert-syrische-armee/
(17) https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8017/
(18) https://www.heise.de/tp/features/Strasse-von-Hormuz-Deeskalation-durch-Einsatz-europaeischer-Kriegsschiffe-4493583.html
(19) https://www.forschungsgruppe.de/Aktuelles/Politbarometer/
(20)https://de.statista.com/statistik/daten/studie/746/umfrage/zufriedenheit-mit-der-politischen-arbeit-von-ausgewaehlten-politikern/
(21) https://www.globalresearch.ca/piracy-war/5684176
(22) https://www.tagesschau.de/ausland/gibraltar-tanker-festnahme-101.html
(23) https://www.tagesschau.de/ausland/konflikt-persischer-golf-101.html (Eintrag 4. Juli 2019 in der hier dar­ge­stellten Chronologie)
(24) https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-583311.html
(25) https://de.wikipedia.org/wiki/Seerechtsübereinkommen
(26) https://portal.hogrefe.com/dorsch/wahrheitseffekt/
(27) https://www.kn-online.de/Nachrichten/Politik/Bundestagsgutachten-Festsetzung-des-iranischen-Tankers-Grace-1-vor-Gibraltar-war-voelkerrechtswidrig
(28) http://www.jungundnaiv.de/2019/08/21/bundesregierung-fuer-desinteressierte-bpk-vom-21-august-2019/ (Ira­ni­scher Tanker/Völkerrecht – ab 19:22)
(29) https://www.anti-spiegel.ru/2019/3‑fall-in-11-monaten-wissenschaftlicher-dienst-des-bundestages-wirft-regierung-unterstuetzung-von-voelkerrechtsbruechen-vor/
Das Autoren-Team: 
Friedhelm Klink­hammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mit­ar­beiter des NDR, zeit­weise Vor­sit­zender des NDR-Gesamt­per­so­nalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräu­tigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mit­ar­beiter des NDR, zunächst in der Tages­schau, von 1992 an in der Kul­tur­re­daktion für N3. Danach Lehr­auftrag an der Fu-Jen-Uni­ver­sität in Taipeh. 
Anmerkung der Autoren:
Unsere Bei­träge stehen zur freien Ver­fügung. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Mas­sen­ver­blödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden zumeist auf der Seite https://publikumskonferenz.de/blog dokumentiert.

Quelle: publikumskonferenz.de