Howard Phillips Love­craft und das geheim­nis­volle Necronomicon

„Es gibt mehr Dinge zwi­schen Himmel und Erde, als sich Eure Schul­weisheit träumen lässt..“

Das Zitat des Dichters trifft wohl aber nicht nur auf die Dinge zwi­schen Himmel und Erde zu, sondern auch auf jene ver­bor­genen Dinge unter der Erde.

Geradezu berüchtigt für mys­te­riöse Höhlen- und Tun­nel­systeme ist Süd­amerika. Zahl­reiche Ein­gänge zu diesen soge­nannten „Chin­kanas“ sind abge­riegelt worden. Der Zutritt wurde ver­boten, da schon etliche Aben­teurer auf der Suche nach den sagen­haften Inka-Schätzen in den uner­forschten Abgründen für immer ver­schwunden sind. Andere kamen mit schwer­wie­genden psy­cho­lo­gi­schen Schäden zurück. Aus ihren frag­men­ta­ri­schen Berichten geht hervor, dass sich diese Schatz­sucher in den unter­ir­di­schen Laby­rinthen mit Wesen kon­fron­tiert sahen, die sie als „Schlangen-„ oder „Ech­sen­men­schen“ beschrieben.

Solche Berichte mögen dem Nor­mal­bürger des Internet-Zeit­alters absurd erscheinen, da er weder in der Schule noch in den Mas­sen­medien je etwas darüber erfahren hat. In frü­heren Kul­turen jedoch war das Wissen um die Existenz solcher Wesen All­ge­meingut. Dieses Wissen hat sich nicht nur unter den Indios Süd­ame­rikas, sondern auch in Indien und in den Regionen des Himalaya bis zum heu­tigen Tag erhalten. Die Bevöl­kerung der betref­fenden Gegenden kennt seit Men­schen­ge­denken die Nagas, unter­ir­disch lebende „Schlan­gen­men­schen“. Diese Rep­ti­loiden wurden und werden sogar von bestimmten Stämmen verehrt. Meist geschieht das aus einer archai­schen Angst heraus, manchmal auch wegen bestimmter magi­scher Inter­essen. Viele Hindus wissen noch heute von den alten Legenden über die Nagas, die in aus­ge­dehnten Höh­len­sys­temen unter dem Himalaya leben sollen. Es heißt, dass diese Wesen mit Hilfe von mecha­ni­schen Appa­raten, den soge­nannten Vimanas, auch fliegen können. Außerdem sollen sie über eine unge­heure Intel­ligenz und eine geradezu magisch anmu­tende Macht ver­fügen. Die Nagas sind den Men­schen nicht unbe­dingt wohl­ge­sonnen, ins­be­sondere dann nicht, wenn diese als For­scher oder Aben­teurer in ihre unter­ir­di­schen Refugien ein­dringen. Die Hindu-Über­lie­ferung weiß auch von sagen­haften Schätzen zu berichten, die in den Naga-Höhlen zu finden sind. Die Schlan­gen­men­schen sollen über Jahr­tau­sende hinweg edle Metalle und wert­volle Mine­ralien in unge­heuer großen Mengen ange­häuft haben.

Doch nicht nur dem Hoch­plateau von Tibet und im Himalaya sollen sich unter­ir­dische Reiche dieser Schlan­gen­men­schen finden, sondern auch in Nord­amerika. Die Hopi-Indianer wissen über sie fol­gendes zu berichten:

„Die Ech­sen­men­schen sind kalt­blütig. Die Wärme der Emotion ist in ihnen nicht vor­handen. Sie suchen die Wärme außerhalb von sich selbst und können nur über­leben, indem sie die Wärme vom Feuer und von anderen Wesen stehlen. Das ist die Lebensart des Reptils. Die Kinder des Reptils haben in der Geschichte der Menschheit eben­falls ihre Spuren hin­ter­lassen. Täu­schung und Lüge, Angst und Aufruhr, das sind die Spuren, die ver­raten, dass die Kinder des Reptils am Werk waren. Sie ver­suchen, in die Welt der Sonne ein­zu­dringen, indem sie sich vom Feuer anderer Wesen ernähren. Vergeßt dies nie! Haltet deshalb euer Feuer immer gut unter Kon­trolle! Betrachtet die Spur des Reptils, und ihr stoßt durch alle Zeiten hin­durch auf die Fälle größter Arglist und Irre­führung. Es war die Schlange, die von den Men­schen verehrt werden wollte. Und es war die Schlange, die nach des Men­schen Seele griff. Die­je­nigen, die deine Emo­tionen, deinen Geist und deine Seele wollen – das sind die Kinder des Reptils.“

Die Legenden der Hopi von den Ech­sen­men­schen und die Berichte über die Nagas in Indien lassen an Cthulhu, Yog-Sothoth und all die anderen Geschöpfe der Großen Alten denken. Diese Wesen beschreibt der Schrift­steller H. P. Love­craft in seinen Erzäh­lungen als ein „in uralten Tagen von den Sternen her­ab­ge­stie­genes Gezücht“. Ihnen widmete er sein ganzes lite­ra­ri­sches Schaffen. Love­craft wird heute zu den Vätern der phan­tas­ti­schen Lite­ratur gerechnet. Dennoch drängt sich Ver­mutung auf, er habe die Schrift­stel­lerei nur als ein Ventil genutzt, um sich das namenlose Grauen von der Seele zu schreiben, mit dem er irgendwann einmal in seiner Jugend kon­fron­tiert wurde, und das ihn sein ganzes Leben lang begleiten sollte.

Howard Phillips Love­craft wurde am 20. August 1890 in Pro­vi­dence, Rhode Island, geboren. Er stammte aus ein­fachen Ver­hält­nissen. Nach einer unauf­fäl­ligen Kindheit und Jugend begann Love­craft, der sich in seiner Auto­bio­graphie als einen „mecha­ni­schen Mate­ria­listen“ bezeichnete, das Leben eines Son­der­lings zu führen, der Kon­takte mit der Außenwelt scheute und der mit seinen Freunden und mit Autoren­kol­legen in den USA und Europa fast nur schriftlich ver­kehrte. Er starb am 15. März 1937. Sein hin­ter­las­senes Werk ist nicht umfang­reich. Zu seinen Leb­zeiten erschien nur ein ein­ziges Buch – „Der Schatten über Inns­mouth“, das 1936 ver­öf­fent­licht wurde. Etwa 40 Kurz­ge­schichten und 12 Erzäh­lungen publi­zierte Love­craft in ver­schie­denen Maga­zinen, vor allem in der Zeit­schrift „Weird Tales“ (Unheim­liche Geschichten). Sein Bio­graph Giorgio Manelli schrieb über ihn:

„Love­craft will kein Visionär sein, sondern ein Chronist des Grauens, ein Chronist der Unterwelt. Love­craft hat einen beson­derer Ehrgeiz kul­ti­viert – es ist die Erfindung einer Mytho­logie, die Beschreibung eines geschlos­senen, totalen Uni­versums; ein viel­leicht über­for­dernder, jeden­falls aber groß­zü­giger Ehrgeiz eines außer­or­dent­lichen Schriftstellers.“

Seine grund­le­gende Idee, dass der Mensch sich fürchtet vor dem Unbe­kannten und Unheim­lichen aus den uner­mess­lichen Tiefen des Uni­versums, ver­wendete Love­craft erfolg­reich bei der Schöpfung seiner Cthulhu-Mytho­logie. Es ist durchaus beden­kenswert, ob Love­craft Jahr­zehnte vor Autoren wie Erich von Däniken oder Robert Charroux den Kontakt mit einer außer­ir­di­schen Zivi­li­sation nur aus einem „groß­zü­gigen Ehrgeiz“ heraus pos­tu­lierte, oder ob seine Erzäh­lungen reale his­to­rische Vor­bilder haben. Der Cthulhu-Mythos jeden­falls ist die Wie­der­be­lebung uralter Sagen und Dämo­nen­ge­schichten, wie etwa der Legenden über die Nagas und die Ech­sen­men­schen, in einem kos­mi­schen Rahmen. Love­craft beschreibt eine Rasse außer­ir­di­scher Wesen, die vor Jahr­mil­lionen die Erde beherrschten. Er nennt sie „Große Alte“. Diese Wesen zogen sich später laut Love­craft in andere Dimen­sionen zurück, doch sie sind noch existent und warten auf den geeig­neten Augen­blick, die Erde erneut zu besiedeln. Sie sind jedoch voll­kommen anders, als alles, was sich mensch­liche Phan­tasie je ersinnen könnte. Deshalb ist der Kontakt mit diesen Wesen für Men­schen ver­der­ben­bringend. Men­schen sterben oder ver­fallen dem Wahnsinn, wenn sie in das wahre Antlitz der „Großen Alten“ schauen. Dabei beschreibt Love­craft diese fremden Wesen nicht als grund­sätzlich böse, sondern als so anders geartet, dass ein Kontakt mit ihnen für Men­schen eben nicht gut ist.

Woher aber bezog Love­craft die Ideen für seine für den Cthulhu-Mythos? Immer wieder taucht in seinen Werken ein geheim­nis­volles, ver­bo­tenes Buch auf, das von den unheim­lichen Ster­nen­göttern der Vorzeit kündet. Love­craft bezeichnet dieses Buch als „Necro­no­micon“, was sich am besten mit dem „Buch der Toten Namen“ über­setzen lässt. Dieses Necro­no­micon soll nach Love­craft von einem ara­bi­schen Autor mit Namen Abdul Alhazred um 700 n. Chr. ver­fasst worden sein. Der Ori­gi­nal­titel des Werkes lautet Al Azif, was mit „Die Insek­ten­wesen“ über­setzt werden kann. Love­craft fasste die Geschichte des Necro­no­micon und seines Autors selbst zusammen:

„Abdul Alhared, ein ver­rückter Dichter aus Sanaa in Jemen, der während der Zeit der Oma­jiden – Kalifen wirkte, suchte die Ruinen von Babylon und die unter­ir­di­schen Geheim­nisse von Memphis auf. Er lebte zehn Jahre lang allein in der großen süd­ara­bi­schen Wüste, dem Roba El Kha­liyeh oder „Leeren Raum“ der antiken oder „Dahna“ oder „Kar­me­sin­roten Wüste“ der heu­tigen Araber, die von bösen Schutz­geistern und Unge­heuern des Todes bewohnt sein soll. Von dieser Wüste erzählt man sich unter denen, die so tun, als wären sie zu ihr vor­ge­drungen, viele seltsame und unglaub­liche Wunder. In seinen letzten Lebens­jahren ließ sich Alhazred schließlich in Damaskus nieder, wo das Necro­no­micon (Al Azif) geschrieben wurde. Von seinem schließ­lichen Tod oder Ver­schwinden (738 n. Chr.) erzählt man sich die ent­setz­lichsten und wider­sprüch­lichsten Dinge. Ebn Chal­likan (ein Bio­graph aus dem 12. Jahr­hundert) behauptet, er sei am hell­lichten Tag von einem unsicht­baren Unge­heuer ergriffen, und vor den Augen einer großen Zahl vor Schreck erstarrter Zeugen ver­schlungen worden. Über seinen Wahnsinn ist so manches in Umlauf. Er behauptete, das mär­chen­hafte Irem oder die Stadt der Säulen gesehen und in den Ruinen einer gewissen Stadt ohne Namen in der Wüste die erschre­ckenden Annalen und Geheim­nisse einer Rasse ent­deckt zu haben, die älter ist als die Menschheit. Er war nur ein indif­fe­renter Moslem und ver­ehrte Wesen­heiten, die er Yog-Sothoth oder Cthulhu nannte.

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Um 950 n. Chr. wurde das Azif, das unter den Phi­lo­sophen der Zeit beträcht­liche, wenn auch heim­liche Ver­breitung gefunden hatte, von Theo­dorus Philatus in Kon­stan­ti­nopel unter dem Titel Necro­no­micon heimlich ins Grie­chische über­setzt. Ein Jahr­hundert lang regte es gewisse Schwarz­künstler zu ent­setz­lichen Ver­suchen an, bis es von dem Kir­chen­vater Michael unter­drückt und ver­brannt wurde. Danach hörte man nur noch ver­stohlen von ihm, doch fer­tigte Olas Wormius in der Folge im Mit­tel­alter (1228) eine latei­nische Über­setzung an, und der latei­nische Text wurde zweimal gedruckt – einmal im fünf­zehnten Jahr­hundert in Fraktur (offen­sichtlich in Deutschland) und einmal im sieb­zehnten (viel­leicht spa­ni­schen Ursprungs). Beide Aus­gaben ent­halten keine biblio­gra­phi­schen Angaben und lassen sich nur anhand von typo­gra­phi­schen Merk­malen im Innern in Raum und Zeit fest­legen. Das Werk, sowohl die latei­nische wie die grie­chische Ausgabe, wurde 1232 von Papst Gregor IX. unmit­telbar nach der Über­setzung ins Latei­nische auf den Index gesetzt, was Auf­merk­samkeit auf das Buch lenkte. Schon zur Zeit des Wormius ging das ara­bische Ori­ginal ver­loren, worauf er in seiner ein­lei­tenden Erklärung hin­weist. Von der grie­chi­schen Ausgabe – die zwi­schen 1500 und 1550 in Italien gedruckt wurde, hat man nicht gehört, dass sie irgendwo auf­ge­taucht wäre. Eine von Dr. Dee ange­fer­tigte Über­setzung blieb unge­druckt und ist nur in Bruch­stücken erhalten, die vom ursprüng­lichen Manu­skript gerettet wurden. Von den noch jetzt exis­tie­renden latei­ni­schen Texten weiß man, dass sich ein Exemplar (aus dem fünf­zehnten Jahr­hundert) im British Museum befindet, ein wei­teres wird in der Biblio­t­hèque Nationale in Paris auf­be­wahrt. Exem­plare aus dem 17. Jahr­hundert befinden sich in der Widener Bibliothek in Harvard, auch in der Bibliothek der Uni­ver­sität von Buenos Aires gibt es eines. Unzählige andere exis­tieren ver­steckt… Das Buch wird von den Behörden der meisten Staaten unbarm­herzig unter­drückt, ebenso von allen Reli­gi­ons­ge­mein­schaften. Seine Lektüre führt zu ent­setz­lichen Folgen…“

Zahl­reiche His­to­riker und Lite­ra­tur­kri­tiker haben sich ange­strengt bemüht, das sagen­um­wobene Necro­no­micon als Aus­geburt von Love­crafts leb­hafter Phan­tasie dar­zu­stellen. Dennoch fand dieses Werk seinen festen Platz in der okkulten Lite­ratur. Es hat vor allem Beschwö­rungs­formeln zum Inhalt, die dazu dienen sollen, den „Großen Alten“ Tore im Raum und in der Zeit zu öffnen, um sie wieder auf die Erde zurück­kehren zu lassen. Dies würde dann aller­dings das Ende der mensch­lichen Zivi­li­sation bedeuten. Ob es ein his­to­ri­sches Vorbild für Love­crafts Necro­no­micon gab, konnte bislang nicht abschließend geklärt werden. Dennoch dürfte die Beschäf­tigung mit uralten Doku­menten und Über­lie­fe­rungen die Ursache für Love­crafts merk­wür­digen Lebens­wandel und für seine seltsame Angst vor der Außenwelt gewesen zu sein. Dieses ver­botene Buch scheint das Symbol für ein ebenso uraltes wie erschre­ckendes Wissen zu sein, von dem Love­craft Kenntnis erhalten hatte.

Als Quelle für Love­crafts Infor­ma­tionen kommt Lord Dunsany, ein groß­zü­giger För­derer Love­crafts, in Frage. Der irische Adlige war bekannt für sein außer­or­dent­liches Interesse an okkulten Geheim­nissen und ein Ver­trauter des Dichters W. B. Yeats. Lord Dunsany ver­fasste auch selbst zahl­reiche phan­tas­tische Erzäh­lungen, die eine ganz eigen­ständige Mytho­logie zum Inhalt haben. Es steht außer Frage, dass er einen wesent­lichen Einfluß auf das lite­ra­rische Schaffen des jungen Love­craft ausübte. Dies belegt ein­drucksvoll ein im Jahr 1922 von Love­craft ver­fasster Aufsatz, in dem er Lord Dunsany als „den viel­leicht ein­zig­ar­tigsten, ori­gi­nellsten und phan­ta­sie­vollsten unter den derzeit lebenden Autoren“ bezeichnet.


Quelle: tabularasamagazin.de