Kants Auf­klärung gilt auch in Coronazeiten

Am 30. Sep­tember 1784 schloss der deutsche Phi­losoph Immanuel Kant im preu­ßi­schen Königsberg einen Text ab, der kurz darauf im Dezember-Heft der „Ber­li­ni­schen Monats­schrift“ unter dem Titel „Beant­wortung der Frage: Was ist Auf­klärung?“ ver­öf­fent­licht wurde (https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/159_kant.pdf ).

(von Thomas May)

Er begann folgendermaßen:

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AUF­KLÄRUNG ist der Ausgang des Men­schen aus seiner selbst­ver­schul­deten Unmün­digkeit. Unmün­digkeit ist das Unver­mögen, sich seines Ver­standes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst­ver­schuldet ist diese Unmün­digkeit, wenn die Ursache der­selben nicht am Mangel des Ver­standes, sondern der Ent­schließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Ver­standes zu bedienen! ist also der Wahl­spruch der Aufklärung.“

Es lohnt sich anlässlich des Phä­nomens Lockdown, der nicht nur in Deutschland, sondern euro­paweit den Bevöl­ke­rungen von oben in unter­schied­lichen Vari­anten als alter­na­tiv­loses „Konzept“ der Virus­ein­dämmung auf­ge­zwungen wird und ver­fas­sungs­mäßig ver­bürgte Grund­rechte außer Kraft setzt, diesen bahn­bre­chenden Text der euro­päi­schen Geistes- und Ideen­ge­schichte im Licht der aktu­ellen Corona-Regime zu reflektieren.

Unver­mögen, Faulheit, Feigheit

Zunächst fällt auf: Sowohl das Unver­mögen als auch der Mangel an Ent­schluss­kraft und Mut, „sich seines Ver­standes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, sind in allen Schichten der Bevöl­kerung weit ver­breitet, scheinen sich während der inzwi­schen fast ein­jäh­rigen „Pandemie“-Zeit in die Zivil­ge­sell­schaften zunehmend „hin­ein­ge­fressen“ zu haben.

BILD: Kant ent­wi­ckelte auch Ideen für Friedens-Ordnungen

Die Unter­tä­nigkeit, mit der die Maß­nahmen und Vor­schriften von den Bürger(inne)n unhin­ter­fragt hin­ge­nommen werden, ver­weist auf die „selbst­ver­schul­deten“ Defizite „Faulheit und Feigheit“ als „Ursachen, warum ein so großer Teil der Men­schen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei­ge­sprochen (natu­ra­liter maio­rennes), dennoch gerne zeit­lebens unmündig bleiben“, wie Kant es formulierte.

Fremd­be­stimmung

Die „Leitung eines anderen“ ist in vie­lerlei Gestalt gegen­wärtig und wirksam: (Regierungs-)Politiker, Wis­sen­schaftler, Jour­na­listen und Fern­seh­mo­de­ra­toren, (selbst­er­nannte) Experten, (regie­rungs­ab­hängige) Insti­tu­tionen, die vor­geben zu wissen, wie das Virus zu besiegen ist, und über Kon­takt­verbote unser Ver­halten bis in die häus­lichen vier Wände regulieren.

Beginnen wir, uns des eigenen Ver­standes zu besinnen und zu bedienen, das heißt, das von den Obrig­keiten über uns Ver­hängte ohne Scheu mittels umfäng­licher Infor­mation kri­tisch zu über­prüfen, ergibt sich sehr schnell ein anderes Bild.

Der zwei­fel­hafte Lockdown

Genau­ge­nommen: Keine einzige Maß­nahme des Lock­downs ist hin­sichtlich ihrer Effi­zienz wis­sen­schaftlich fun­diert und über­haupt als objektiv geeignet erwiesen; das gilt vor allem für die Bereiche und Formen der Kon­takt­re­gu­lierung in Geschäften, Läden, Kirchen, Schulen, Freizeit- und Kul­tur­ein­rich­tungen etc. – ein „dif­fuses Geschehen“ (RKI), aus dem sich keine punkt­ge­nauen Hand­lungs­an­wei­sungen ableiten lassen.

Nimmt man den umstrit­tenen Mund-Nasen-Schutz hinzu, der je nach Studie oder Expertise als bedingt nützlich, wir­kungslos oder schädlich bewertet wird, oder die PCR-Tests, auf denen der ganze zwei­fel­hafte „Überbau“ fußt, die nichts über die Infek­tio­sität aus­sagen und dem Gut­achten eines 22-köp­figen Exper­ten­teams der Uni­ver­sität Würzburg zufolge unbrauchbar sind, oder die in die Tau­sende gehenden „positiv Getes­teten“ in Qua­rantäne, die sich im Nach­hinein über­wiegend als über­flüssig, für die Iso­lierten gleichwohl als sehr belastend her­aus­stellt, bleibt nicht mehr viel übrig.

Außer den vielen Toten, deren Zahl in Deutschland die 30.000 über­schritten hat. Wenn wir uns ver­ge­gen­wär­tigen, dass etwa zwei Drittel der („an und mit“ Covid-19) Ver­stor­benen über 80 Jahre alt waren, sagt uns unser eigener Ver­stand, dass zual­lererst der Schutz der Alten und Älteren ent­schieden, gezielt und umfassend im Sinne des „Cocooning“verbessert werden muss.

Dafür muss man weder weite Teile der Wirt­schaft und das öffent­liche Leben „her­un­ter­fahren“ und  auf Dauer einen Staats­bankrott ris­kieren noch die ein­zelnen Bürger(innen) in ihrer Bewe­gungs- und Kon­takt­freiheit unter­schiedslos ein­engen und ihnen sinnlose Opfer abver­langen und sie sogar noch mit (gesund­heit­lichen) Fol­ge­schäden belasten.

Macht- und Steue­rungs­mittel der Obrigkeit

Anschaulich beschreibt Kant im Wei­teren, welcher Mittel sich Obrig­keiten bedienen, um die Men­schen in ihrem Sinne zu steuern und in Unmün­digkeit zu halten:

„Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorg­fältig ver­hü­teten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gän­gel­wagen, darin sie sie ein­sper­reten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es ver­suchen, allein zu gehen.“

Eine hoch­ak­tuelle Passage – wir werden hellhörig!

Ja, uns Bürger(inne)n, die wir von kopflos und kurz­sichtig agie­renden Poli­tikern wie „Hausvieh“ irre­ge­leitet werden, vom RKI mit Zah­len­ko­lonnen täglich über­schwemmt und ver­wirrt, von den Öffentlich-Recht­lichen mit Super­la­tiven des Schre­ckens im Dau­er­modus panisch gestimmt und weich­ge­klopft werden, kommt das bekannt vor.

Ja, wir Bürger(innen) im „Gän­gel­wagen“ der Kon­takt­be­schrän­kungen scheuen uns, unter Beob­achtung die „Ein­sperrung“ zu über­winden, über Regeln hin­weg­zu­gehen – dabei sind nach Kant gerade „Sat­zungen und Formeln … die Fuß­schellen einer immer­wäh­renden Unmündigkeit“.

Und ja, es wird den angstfrei und konträr Den­kenden gezeigt, welche „Gefahr ihnen drohet“ bei Über­schreitung, seien es soziale Ächtung, Buß­gelder, Benach­tei­ligung oder Schuld­zu­weisung am Tod von Oma oder Opa.

Trotzdem sollten sich Men­schen nicht abschrecken lassen, „allein zu gehen“, denn sie „würden durch eini­gemal Fallen wohl endlich gehen lernen“, resü­miert Kant.

Kant today

Der Text des deut­schen Phi­lo­sophen, in dem der Impetus des zivilen Unge­horsams angelegt ist, liest sich ange­sichts der aktu­ellen mas­siven Ein­schrän­kungen von Grund- und Frei­heits­rechten wie ein flam­mender Appell an die Bürger(innen) Europas:

.⁕ Lasst euch nicht von staat­lichen Obrig­keiten und „Auto­ri­täten“ in Politik, Medien und Gesell­schaft in die Rolle unmün­diger Kinder zurück­drängen, auf die Stufe von Leib­ei­genen herabwürdigen.

.⁕ Ent­scheidet unter Beachtung des „kate­go­ri­schen Impe­rativs“ mit (Sach-)Verstand in eigener Ver­ant­wortung – die kann und darf kein Poli­tiker, kein Wis­sen­schaftler, kein Gesund­heits­funk­tionär dem Ein­zelnen (ab)nehmen.

.⁕ Beharrt auf eurer Ent­schei­dungs­kom­petenz; lasst euch nicht ein­schüchtern und ein­reden, nur eure „Vor­münder“ hätten das erfor­der­liche „Know-how“ …

Vor dem Hin­ter­grund eines dro­henden Rück­falls auf eine vor­de­mo­kra­tische, vor­auf­klä­re­rische Stufe ist Kants Maxime „Sapere aude!“ am Ende des Jahres 2020 nicht weniger aktuell als 1784.

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Der Autor Thomas May ist Lehrer i. R. – Er unter­richtete die Fächer Deutsch und Katho­lische Reli­gi­ons­lehre. Der in Sen­den­horst (Müns­terland) lebende Autor ist ein Neffe des bekannten Prä­laten und Kir­chen­rechtlers Prof. Dr. Georg May (Mainz).


Dieser lesens­werte Beitrag erschien zuerst auf dem Blog von Peter Helmes – www.conservo.wordpress.com