Das Geheimnis der stei­nernen Riesen

Im 17. Jahr­hundert waren viele Wis­sen­schaftler davon über­zeugt, dass irgendwo im Osten von Neu­seeland noch ein ganzer Kon­tinent der Ent­de­ckung harre. Arnold Rog­geveen, ein tüch­tiger nie­der­län­di­scher Wein­händler, wollte 1671 mit den Bewohnern dieses Erd­teils Geschäfte machen. Freilich gab es schon damals einen mäch­tigen Amts­schimmel. Als Herr Rog­geveen endlich sämt­liche Geneh­mi­gungen für seine Expe­dition erhalten hatte, hatte er nicht mehr genug Geld, um auch nur ein ein­ziges Schiff los­zu­schicken. Fünfzig Jahre später machte sich sein Sohn Jakob Rog­geveen auf. Einen unbe­kannten Kon­tinent ent­deckte er nicht, dafür am 7. April 1722 die Oster­insel: das ein­samste Eiland der Welt. 3600 Kilo­meter trennen es vom Festland Chiles, 4200 Kilo­meter Meer­wüste von Tahiti und 5200 Kilo­meter Salz­wasser von der eisigen Ant­arktis im Süden.

(von Walter-Jörg Langbein)

Abb 2 Ein trau­riger Anblick: Die stolzen Moai verwittern…

Wer sich intensiv mit der Insel der stei­nernen Riesen aus­ein­an­der­setzt, wird immer wieder mit Wider­sprüchen kon­fron­tiert. 1722 beschreibt Rog­geveen die Insel als “para­die­si­sches Eiland”, strotzend von üppiger Pflan­zenwelt. Holz gab es also in Hülle und Fülle. Nur 48 Jahre später bot sich dem spa­ni­schen See­rei­senden Gon­zales Y Haedo ein ganz anderes Bild. Er ver­merkt in seinen Auf­zeich­nungen, die Insel sei “voll­ständig kahl” gewesen. War das 165 Qua­drat­ki­lo­meter kleine Fleckchen Erde inzwi­schen von einer Natur­ka­ta­strophe heim­ge­sucht worden?

In ähn­liche Wider­sprüche ver­wi­ckeln sich ange­sehene Oster­in­sel­ex­perten, wenn es um die Her­stellung der gewal­tigen Stein­riesen geht. Wilhelm Ziehr schreibt nüchtern: “Da Holz auf der Oster­insel außer­or­dentlich knapp war, bot sich das hin­gegen reichlich vor­handene Tuff­stein an.” Die Künstler griffen also zu Hammer und Meißel, weil es kein Holz zum Schnitzen gab. Trans­por­tieren konnten sie die Kolosse aber nur, so etwa Thor Heyerdahl, weil Holz in Hülle und Fülle vor­handen war! Ob dieser Unwis­senheit, so scheint es, lächeln die stei­nernen Riesen der Südsee auch heute noch ironisch-herablassend.

Abb. 3 Viele der Kolosse liegen zer­brochen am Boden.

Noch im 19. Jahr­hundert gab es wis­sende Ein­hei­mische, die die Geheim­nisse der Rie­sen­fi­guren kannten. Freilich wurden sie anno 1862 von perua­ni­schen Skla­ven­jägern ver­schleppt und vor der Küste Süd­ame­rikas auf den Chincha-Inseln zum Abbau von Guano gezwungen. Als der Bischof von Tahiti, Tepano Jaussen und die eng­lische Regierung gegen diesen Akt der Unmensch­lichkeit pro­tes­tierten, mussten die Skla­ven­jäger ihre Opfer wieder frei­lassen. Freilich lebten von den ursprünglich 1 000 ent­führten Men­schen nur noch “etwa ein­hundert”. Und als diese Elenden in die Heimat zurück­ge­bracht wurden, brachen unterwegs die Pocken aus. Bis auf fünfzehn Men­schen starben alle. Und die infi­zierten die Men­schen auf der Oster­insel! Niemand kennt die genau Zahl der Todes­opfer: es war ein Großteil der Bevölkerung!

1914 sprach Katherine Rout­ledge, die Pio­nierin der Oster­in­sel­for­schung, mit dem letzten “Wis­senden”. Der alte Mann war in einer Heil­an­stalt für Lepra­kranke unter­ge­bracht. Er nahm das Geheimnis der stei­nernen Riesen mit ins Grab. “Das Mys­terium muss Fremden vor­be­halten bleiben!”

Abb. 4 Umge­stürzte Moai, die einst auf Sockeln standen

So sind bis heute viele Fragen nicht wirklich hin­rei­chend beant­wortet worden! Wer schuf warum im Ranu-Raraku-Krater annä­hernd etwa ein­tausend stei­nerne Kolosse? Wie wurden die teil­weise über zwanzig Meter hohen Figuren über die ganze Insel trans­por­tiert, ver­teilt und auf­ge­stellt? Warum wurden sie so pla­ziert, dass sie fast aus­nahmslos einen Punkt in der Mitte der Insel anstarren?

Warum wurde die Arbeit im Stein­bruch urplötzlich unterbrochen?

Offenbar waren zahllose Stein­metz­teams gleich­zeitig am Werk. Wer sich im Krater umsieht, findet Kolosse in allen Ent­wick­lungs­stadien. Besonders imposant sind jene, die bereits fast voll­ständig dem Tuff­stein abge­trotzt werden konnten. Sie kleben nur noch an einem schmalen Streifen am Stein. Sie wirken wie stei­nerne Schiffe, auf schmalem Bug ruhend. Andere wie­derum scheinen eben erst begonnen worden zu sein.

Der neu­gierige Besucher an der Schwelle zum dritten Jahr­tausend ist ver­sucht, sich einen Moment wartend zu setzen. Eigentlich kann es doch nur Minuten dauern, bis die Arbeiter wieder ihre Werk­zeuge zur Hand nehmen. Das muntere Treiben im Stein­bruch muss doch gleich wieder auf­ge­nommen werden!

Abb. 5 Ein Moai liegt begraben in der Erde — die Natur wuchert

Staunend schreite ich eine lie­gende Figur ab. Stolze 23 Meter ist sie lang. Erstaunlich: die Bild­hauer haben gewaltige Mengen an Stein zwi­schen Figur und Decke her­aus­ge­schlagen, so als ob das Material but­ter­weich gewesen sei. Warum haben sie ihr Werk nicht voll­endet? Direkt am Stein­bruch selbst dösen geduldig fertige Riesen. Sie warten darauf, abtrans­por­tiert zu werden, irgendwo auf der Insel auf­ge­stellt zu werden. Seit wie vielen Jahr­hun­derten mögen sie schon so ausharren?

256 Statuen habe ich sorgsam unter­sucht. Sie alle sollen mit wuch­tigen Hieben mit pri­mi­tiven Stein­werk­zeugen gemeißelt worden sein. Nicht eine weist einen Fehler auf. Schlug denn nie ein Arbeiter einmal daneben? Offen­sichtlich nicht: alle Statuen sind ohne Makel.….zumindest jene, die noch gut erhalten sind! Das aber sind bei­leibe nicht alle der Kolosse!

Welt­be­rühmt ist die Oster­insel wegen der stei­nernen Riesen, die schon so manchen Wis­sen­schaftler zum Spe­ku­lieren gebracht haben. Mit impo­santen Bildern von den Kolossen sollen Tou­risten als Besucher geworben werden. Auch wurden in den ver­gan­genen Jahren einige der klei­neren und mit­tel­großen Statuen mit Hilfe eines gewal­tigen Krans wieder auf­ge­stellt. Einigen wenigen wurden sogar die ton­nen­schweren “Hüte” wieder auf die Häupter gesetzt. Der Ein­druck aber trügt gewaltig!

Abb. 6 Der Autor im Stein­bruch auf einer unvoll­endeten Figur
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Der über­wie­gende Teil der Oster­in­sel­riesen steht nicht, sondern liegt. Nun streiten sich die Gelehrten, ob die Statuen im Rahmen von krie­ge­ri­schen Stam­mes­fehden umge­stürzt oder durch Erd­beben zu Fall gekommen sind. Wich­tiger als dieser aka­de­mische Disput ist freilich eine mehr als bekla­gens­werte Tat­sache! Der über­wie­gende Teil der Oster­in­sel­riesen befindet sich in einem erbärm­lichen Zustand! Unzählige Kolosse liegen zu Füßen von eben­falls ver­fal­lenen stei­nernen Podesten, auf denen sie einst standen. Ihre mas­sigen Leiber sind mehrfach gesprungen. Oftmals sind die Trümmer kaum noch als Über­reste einst impo­santer Statuen zu erkennen.

Wer wie der Ver­fasser vor Ort die Augen nicht ver­schließt, der muss erkennen: ein rapide fort­schrei­tender Ver­falls­prozess kann nicht bestritten werden. Die Zeug­nisse der nach wie vor rät­sel­haften Oster­in­sel­kultur ver­rotten förmlich. Das Gestein der Figuren ist porös. Feuch­tigkeit dringt ein. Auf dem Eiland treten erheb­liche Tem­pe­ra­tur­schwan­kungen auf. Schicht für Schicht platzt ab. Mikro­or­ga­nismen nisten sich in ent­ste­henden Sprüngen ein. Gewiss, an einigen zen­tralen Punkten der Oster­insel passen gestrenge Wächter darauf auf, dass Tou­risten das stei­nerne Erbe der Insel nicht beschä­digen. Gleich­zeitig wird nichts unter­nommen, um den rapiden Zerfall der stei­nernen Riesen auch nur zu bremsen.

Der Welt­rei­sende Ernst von Hesse-Wartegg (1851–1913) stu­dierte zu Beginn unseres Jahr­hun­derts die Kultur der Oster­insel. In seinem üppigen zwei­bän­digen Werk “Die Wunder der Welt” hält er fest, dass die gewal­tigen Statuen von “unbe­kannten Schöpfern” gemeißelt wurden und “wahr­scheinlich zu den ältesten Skulp­turen der Menschheit” gezählt werden müssen. Es kann sehr wohl sein, dass zu Beginn des 21. Jahr­hun­derts ein großer Teil dieser Meis­ter­leis­tungen vor­ge­schicht­licher Stein­metzen irrepa­rabel zer­stört sein werden.….noch bevor alle Geheim­nisse der Oster­insel gelöst werden können!

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Bild-Quellen

Alle: Walter-Jörg Langbein


Quelle: atlantisforschung.de