Abge­nutzt: Der Traum von einer bes­seren — weil grünen — Welt

Bun­des­par­teitag der Grünen: „Deutschland. Alles ist drin“

Annalena Baerbock und Robert Habeck sind auf dem Par­teitag mit 98,5 Prozent als Spit­zenduo bestätigt worden, Baerbock zugleich als Kanz­ler­kan­di­datin. Trotzdem war sie nervös und wenig sou­verän. Am 2. Tag des Par­tei­tages war sie fast nicht auf­zu­finden, sie hielt sich zurück und überließ lieber Habeck das Mikrophon. Es wirkte, als ob sich die Kanz­ler­kan­di­datin ver­stecken wollte.

Tags davor, am ersten Par­tei­tagstag, hielt sie eine lange Rede, die aber – ent­gegen den Erwar­tungen ihrer Freunde – kein Glanz­stück und schon gar kein Höhe­punkt war. Die Fehler der ver­gan­genen Wochen räumte sie zwar mit den ersten Worten ab, aber sie klangen wie eine Pflichtübung.

Man merkte Annalena Baerbock in jeder Phase an, dass sie schwer an ihrer ver­patzten Füh­rungs­rolle und den sie dann beglei­tenden Fehlern zu knabbern hatte – womit allzu deutlich wurde, dass der Ver­trau­ens­vor­schuss nach ihrer Kür Ende April durch eigene Fehler vor­zeitig auf­ge­braucht war.

Dieses Ver­trauen genoss jedoch sichtlich die zweite Füh­rungs­figur hinter Baerbock: Robert Habeck. Er griff immer wieder in die Debatten ein, riss auch schon mal das Debat­ten­steuer rum, ermahnte die Zuhörer, er flehte, er beschwor sie – kurz, er spielte meis­terhaft auf dem Klavier eines fes­selnden Debat­ten­führers und wurde damit zur Leit­figur des Par­tei­tages. Er gab den Dele­gierten eine umfas­sende Per­spektive von einer bes­seren, weil grünen, Welt – zumindest nährte er die Hoffnung darauf. Man konnte es fast greifen: Ihm nahmen die Par­tei­freunde den Ruf nach einem grund­sätz­lichen Poli­tik­wechsel gerne ab, weil er eine plau­sible Begründung dazu lie­ferte – viel­leicht ein wenig phi­lo­so­phisch über­lastet zwar (Kern­punkt: „Freiheit“), aber eingängig.

So waren die 98,5 Prozent Zustimmung der Dele­gierten zum Spit­zenduo Baerbock/Habeck letztlich keine Über­ra­schung, zumal Gen­tleman Habeck stets darauf achtete, Baerbock nicht in den Schatten zu drängen. (Gar mancher wird aber wohl mit dem Gedanken gespielt haben…)

Die Partei folgte in kri­ti­schen Punkten dem Kurs ihrer Spitze. Und der lautet, seit Baerbock und Habeck 2018 Vor­sit­zende geworden sind: Bloß nicht zu viel Radi­ka­lität, sonst kann man im Zweifel gar nichts ändern, weil einen niemand mehr wählt. „Ver­än­derung“, sagte Habeck in seiner Rede am Freitag, „ist nur möglich mit der Mehrheit der Men­schen in Deutschland.“

Erstes Fazit: Die Partei steht hinter ihrer Spitze

Die legendäre Streitlust der Grünen scheint ver­gessen. Die schiere Masse von fast 3.300 Ände­rungs­an­trägen ist nämlich kein Indiz für Kritik oder Unzu­frie­denheit. Gerade mal ein paar Dutzend davon schafften es in die offene Abstimmung, und schon am Samstag Abend, nach den ersten Ent­schei­dungen zur Umwelt­po­litik, war klar: Die­je­nigen, die den Entwurf schärfen und deutlich zuspitzen wollen, sind klar unter­legen. Der CO2-Preis bleibt da, wo Annalena Baerbock und Robert Habeck ihn haben wollen, das Ende der Neu­zu­las­sungen für Ver­brenner wird nicht vor­ge­zogen, das Tem­po­limit von 130 auf Auto­bahnen ist inzwi­schen Konsens und die For­derung von Tempo 70 auf Land­straßen vom Tisch.

Die Min­dest­lohn­for­derung bleibt bei 12 Euro, nicht 13.

Das z. B. steht im Wahl­pro­gramm der Grünen*): 

Unter dem Motto „Deutschland. Alles ist drin“ hat der Bun­des­par­teitag der Grünen am Sonntag das Pro­gramm zur Bun­des­tagswahl am 26. Sep­tember beschlossen. Der im März von der Par­tei­spitze vor­ge­legte Entwurf wurde zwar in zahl­losen For­mu­lie­rungen ver­ändert, aber nicht in den Kern­aus­sagen. Neu hin­zu­ge­kommen sind etwa das mil­li­ar­den­teure Ver­sprechen, die Hartz-IV-Zah­lungen um 50 Euro zu erhöhen, die Ablehnung der Beschaffung bewaff­nungs­fä­higer Drohnen für die Bun­deswehr und kon­krete Aus­bau­ziele für Wind- und Solar­kraft. Es werden nun binnen vier Jahren 1,5 Mil­lionen neue Solar­dächer ange­strebt statt bisher eine Million. Bei den Steuern sollen kleine und mittlere Ein­kommen ent- und Top-Ver­diener belastet werden.

Klima und Energie

Kli­ma­schutz soll im Mit­tel­punkt der Regie­rungs­po­litik stehen. Eine „sozial-öko­lo­gische Markt­wirt­schaft“ soll „kli­ma­ge­rechten Wohl­stand“ ermög­lichen. Die Erd­er­wärmung soll begrenzt werden. „Jedes Zehn­telgrad zählt, um das Über­schreiten von rele­vanten Kipp­punkten im Kli­ma­system zu ver­hindern. Es ist daher not­wendig, auf den 1,5‑Grad-Pfad zu kommen.“ Geplant ist ein Kli­ma­schutz-Sofort­pro­gramm. Das Kli­maziel soll ange­hoben werden: 70 Prozent weniger Treib­hausgase im Jahr 2030 als 1990. Derzeit liegt das von der Bun­des­re­gierung nach­ge­bes­serte Ziel bei 65 Prozent. „Unser Ziel ist es, 100 Prozent erneu­erbare Energien bis 2035 zu erreichen.“

Der im Januar ein­ge­führte CO2-Preis für Verkehr und Wärme soll 2023 bereits 60 Euro (derzeit 25 Euro) pro Tonne betragen. Die Ein­nahmen fließen über ein ein­heit­liches Ener­giegeld an die Bürger zurück – „damit Kli­ma­schutz sozial gerecht ist“. An der Senkung des Strom­preis-Auf­schlages zur För­derung Erneu­er­barer Energien (EEG-Umlage) seit Jah­res­anfang wird festgehalten.

Die Grünen wollen sich „dafür ein­setzen“, dass der Koh­le­aus­stieg 2030 statt 2038 voll­endet wird. Ange­kündigt wird eine „Aus­bau­of­fensive“ für Erneu­erbare Energien, ver­bunden mit Zielen wie 1,5 Mil­lionen neuen Solar­dä­chern binnen vier Jahren und einem Inves­ti­ti­ons­pro­gramm für zwei Mil­lionen Wär­me­pumpen bis 2025. „Unser Ziel ist ab sofort ein jähr­licher Zubau von min­destens 5 bis 6 Gigawatt (GW) Wind an Land, ab Mitte der 20er Jahre von 7 bis 8 GW, bei Wind auf See wollen wir 35 GW bis 2035. Bei Solar werden wir den Ausbau von beginnend 10 bis 12 GW auf 18 bis 20 GW pro Jahr steigern ab Mitte der 2020er.“

Neue Hafen­ter­minals für Flüs­sig­erdgas sollen nicht mehr genehmigt werden. „Neue Erdgas-Pipe­lines wie Nord Stream 2 (…) kon­ter­ka­rieren die Ener­gie­wende und sollten gestoppt werden.“

Verkehr

Das Aus bei der Neu­zu­lassung für Ver­bren­ner­autos ab 2030 wird schärfer gefasst, zudem soll es bis dahin min­destens 15 Mil­lionen E‑Fahrzeuge geben. „Ab 2030 dürfen (…) nur noch emis­si­ons­freie Autos neu zuge­lassen werden.“ Dazu sollen euro­päische CO2-Flot­ten­grenz­werte und eine anstei­gende nationale Quote bei­tragen. Der Kauf emis­si­ons­freier Autos soll gefördert werden. „Um zum Bei­spiel Pendler*innen mit nied­rigen Ein­kommen bei der Anpassung zu unter­stützen, legen wir einen Kli­ma­bonus-Fonds auf, der mit groß­zü­gigen Hilfen unter­stützt, etwa beim Umstieg auf Bus und Bahn oder ein emis­si­ons­freies Fahrzeug.“

Auf Auto­bahnen soll ein „Sicher­heits­tempo“ von 130 Stun­den­ki­lo­metern gelten, innerorts soll Tempo 30 die Regel sein statt 50. „Kurz­stre­cken­flüge wollen wir ab sofort Zug um Zug ver­ringern und bis 2030 über­flüssig machen, indem wir massiv Bahn­an­gebote (…) ausweiten.“

Immer deut­licher wird, was bei einer Macht­über­nahme durch die Grünen zu erwarten ist. So gehören zu den Ideen ein mög­lichst bal­diges Aus für Inlands­flüge und höhere Benzinpreise.

Aber die deutsche Kli­ma­de­batte wird vor allem von gut aus­ge­bil­deten Groß­städtern geführt, die kein son­der­liches Ver­ständnis dafür haben, dass ein Leben auf dem Land anders ver­läuft und andere Anfor­de­rungen stellt.

Außerhalb der Städte ist man besonders emp­findlich, wenn grüne Steuern und Abgaben zu einer neuen Ungleichheit führen. Beim Par­teitag am Wochenende hat sich die Erkenntnis durch­ge­setzt, dass man doch lieber die Realo-Führung unter­stützt. Aber man merkt, wie das Unbe­hagen über den schwie­rigen poli­ti­schen Spagat wächst. Diese Debatte dürfte noch lange nicht zu einem Ende kommen.

Inves­ti­tionen

Die Grünen wollen die Schul­den­bremse im Grund­gesetz umbauen, um über Kredite zusätz­liche jähr­liche Inves­ti­tionen von 50 Mil­li­arden Euro zu finan­zieren – in schnelles Internet, Spit­zen­for­schung, kli­ma­neu­trale Infra­struk­turen, Lade­säulen, Ausbau der Bahn, emis­si­ons­freie Busse, moderne Stadt­ent­wicklung. Derzeit inves­tiert der Bund jedes Jahr etwas über 40 Mil­li­arden Euro. Die Digi­ta­li­sierung der öffent­lichen Ver­waltung soll Pla­nungen und Inves­ti­tionen beschleu­nigen: „Ziel ist, alle Pla­nungs­zeiten zu hal­bieren.“ Die Schul­den­bremse soll „zeit­gemäß“ gestaltet werden, um drin­gende Inves­ti­tionen zu ermöglichen.

Steuern

Um kleine und mittlere Ein­kommen zu ent­lasten, soll der Grund­frei­betrag der Ein­kom­men­steuer erhöht werden. Zur Finan­zierung steigt der Spit­zen­steu­ersatz für hohe Ein­kommen in zwei Stufen um drei und um sechs Pro­zent­punkte: Ab einem Ein­kommen von 100.000 Euro für Allein­ste­hende (200.000 Euro für Paare) läge der Spit­zen­steu­ersatz bei 45 Prozent und ab einem Ein­kommen von 250.000 (500.000) Euro bei 48 Prozent. Die Abgel­tung­s­teuer für Kapi­tal­erträge wird abge­schafft, diese würden wieder der pro­gres­siven Ein­kom­men­steuer unterworfen.

Für Ver­mögen oberhalb von zwei Mil­lionen Euro pro Person soll eine Ver­mö­gen­steuer von jährlich einem Prozent gelten. Die Ver­mö­gen­steuer steht den Ländern zu, die die Ein­nahmen nach Grünen-Vor­stel­lungen für Bildung aus­geben sollen. Mehr­ein­nahmen in Mil­li­ar­denhöhe erhoffen sich die Grünen durch kon­se­quente Bekämpfung von Steu­er­hin­ter­ziehung und Geld­wäsche. Mut­maßlich kli­ma­schäd­liche Sub­ven­tionen etwa für Diesel oder schwere Dienst­wagen sollen redu­ziert werden. „In einem ersten Schritt können wir so über 15 Mil­li­arden Euro jährlich einnehmen.“

Mie­ten­deckel, Min­destlohn, Hartz IV und Rente

Ein Bun­des­gesetz soll gewähr­leisten, „dass Miet­ober­grenzen im Bestand ermög­licht werden und die Miet­preis­bremse ent­fristet und deutlich nach­ge­schärft wird“. Der Begriff Mie­ten­deckel taucht nicht auf. Reguläre Miet­erhö­hungen sollen bei 2,5 Prozent im Jahr innerhalb des Miet­spiegels begrenzt werden. Miet­spiegel sollen Zeit­räume von 20 Jahren umfassen.

„Den gesetz­lichen Min­destlohn werden wir sofort auf zwölf Euro anheben“, kün­digen die Grünen an. Weitere Erhö­hungen sollten „min­destens der Ent­wicklung der Tarif­löhne ent­sprechen“. Hartz IV wird durch eine „Garan­tie­si­cherung“ ersetzt: „In einem ersten Schritt werden wir den Regelsatz um min­destens 50 Euro und damit spürbar anheben.“ Eine Kin­der­grund­si­cherung soll Kin­dergeld, Kin­der­zu­schlag und Grund­si­cherung bündeln.

Die Sicherung des Ren­ten­ni­veaus „bei min­destens 48 Prozent hat für uns hohe Prio­rität“. Bei Bedarf sollen Steu­er­zu­schüsse erhöht werden. Die staatlich geför­derte private Alters­vor­sorge nach dem Modell der Riester-Rente soll durch einen „öffentlich ver­wal­teten Bür­ger­fonds“ ersetzt werden. Bei Gesundheit und Pflege „ist eine soli­da­risch finan­zierte Bür­ger­ver­si­cherung“ das Ziel, in die auch Beamte, Selbst­ständige und Unter­nehmer ein­zahlen. Dafür sollen auch auf Kapi­tal­ein­kommen Bei­träge zur Sozi­al­ver­si­cherung erhoben werden.

Ver­tei­di­gungs­po­litik

Bei der Beschaffung bewaff­neter Drohnen zum Schutz von Bun­deswehr-Sol­daten in Ein­satz­ge­bieten posi­tio­nieren sich die Grünen neu. In einer sehr knappen Abstimmung lehnten sie diese nicht mehr kate­go­risch ab. Es müsse „klar­ge­macht werden, für welche Ein­satz­sze­narien der Bun­deswehr die bewaff­neten Drohnen über­haupt ein­ge­setzt werden sollen, bevor über diese Beschaffung ent­schieden werden kann“.

Das Nato-Ziel, zwei Prozent der Wirt­schafts­leistung für Ver­tei­digung aus­zu­geben, lehnen die Grünen hin­gegen unver­ändert ab.

(Quelle/Original: https://www.t‑online.de/nachrichten/deutschland/bundestagswahl/id_90213376/bundestagswahl-2021-das-steht-im-wahlprogramm-der-gruenen.html)

Auf dem Par­teitag wird immer wieder deutlich, dass die Grünen endlich wieder an die Macht wollen. Allzu radikale Pro­jekte stören da nur. Das mag dem linken Par­tei­flügel nicht gefallen, doch Habeck und Baerbock sprechen es offen aus: Sie schauen auf die Mitte, da wo Mehr­heiten gewonnen werden können. Nach der Kan­di­da­tenkür Ende April waren die Vor­aus­set­zungen für einen erfolg­reichen Wahl­kampf der Grünen glänzend. Das ist vorbei, aber wenn die Partei und ihre Spit­zen­kan­di­datin jetzt wieder Tritt fassen, sind die Vor­aus­set­zungen immer noch gut. Neue Fehler sollten aber jetzt besser nicht mehr dazukommen!

Der Par­tei­vor­stand setzte sich in über­ra­schend vielen Pro­gramm­punkten durch – wenn auch nicht mit einem Sieg auf ganzer Linie. Und die Pro­gramm­de­batte hatte gezeigt, dass die Par­tei­tags­de­le­gierten mit großer Geschlos­senheit den Realo-Kurs ihrer beiden Füh­rungs­leute mittragen.

Dass jedoch jeweils zwi­schen einem Drittel und einem Sechstel der Dele­gierten für die radi­ka­leren Anträge stimmte, sollte der Par­tei­führung dennoch zu denken geben. Es ist ein Hinweis darauf, welche Debatten ihr bevor­stehen, wenn sie tat­sächlich eines Tages mit­re­gieren sollte. Aller­dings, der von manchen erwartete „Auf­stand der Basis“ blieb aus. Die Reihen blieben fest geschlossen.


Dieser lesens­werte Beitrag erschien zuerst auf dem Blog von Peter Helmes – www.conservo.wordpress.com