Die Antike und die Künst­liche Intel­ligenz – zwi­schen Mythos und Wirklichkeit

Die grie­chische Mytho­logie kennt eine Menge selt­samer Gerät­schaften: künst­liche Vögel, spre­chende Statuen und drei­füßige Diener. Schmie­degott Hephaistos schuf selbst­fah­rende Fahr­zeuge und Androiden. In der Illias, die ver­mutlich aus der zweiten Hälfte des 8. Jahr­hun­derts v. Chr. stammt, heißt es über Hephaistos, Sohn des obersten olym­pi­schen Gotts Zeus und seiner Gattin Hera: 

(von Frank Schwede)

„Eifrig am Werk, denn Dreifüße schuf er, zwanzig im Ganzen, rings um die Wand sie zu stellen im woh­lerbauten Gemache. Goldene Räder befes­tigte jedem er unten am Boden, dass sie von selbst liefen hinein in der Götter Ver­sammlung, um dann wieder nach Hause zu kehren, ein Wunder zu schauen. Diese waren so weit voll­endet, und nur noch die Ohren fehlten, die kunst­vollen; diese bereitend schlug er die Bände.“

Waren die Dreifüße antike Roboter, die sich eigen­ständig bewegen konnten? Einen ent­schei­denden Hinweis liefert der Ver­fasser selbst, indem er das Adjektiv „auto­matos verwendet.

Auch in Phi­los­tratos von Lemnos Werk Das Leben des Apol­lonios von Tyana, das sich mit dem Leben und Wirken des umstrit­tenen Magier und Weis­heits­lehrers Appol­lonios von Tyana (4 v. Chr.-96 n. Chr.) beschäftigt, ist von Drei­füßen die Rede.

Lemnos, der sich auf die Auf­zeich­nungen von Appo­lonios Jünger Damis von Ninos bezog, schreibt, dass Damis und Appo­lonios in einer geheim­nis­vollen indi­schen Stadt zu Tisch saßen und von frei umher­wan­delnden metal­lenen Drei­füßen bedient wurden.

An einer anderen Stelle dieses Werkes werden dann noch antike Wun­der­waffen beschrieben, mit deren Hilfe jene besagte Stadt, in der Damis und Appo­lonios dinierten, ver­teidigt wurde. Wörtlich heißt es:

„Die wahren Weisen wohnen zwi­schen Hyphrais und Ganges. Dieses Gebiet hat Alex­ander nie betreten, nicht etwa weil er Angst hatte, sondern weil ihn die Opfer, wie ich glaube, davon abhielten. Hätte der jedoch über den Hyphasis gesetzt und das sie umge­bende Land ein­nehmen können, so wäre er doch nicht imstande gewesen, die Burg, welche jene bewohnen, zu erstürmen, auch wenn er zehn­tausend Sol­daten wie Achilleus und drei­ßig­tausend wie Aias mit sich geführt hätte.

Denn die Weisen kämpfen nicht in Schlachten gegen den anzie­henden Feind, sondern als heilige, von den Göttern geliebte Männer werfen sie mit Wun­der­zeichen und Blitz­strahlen zurück. So wird über­liefert, dass auch der ägyp­tische Herakles und der Dio­nysios bei ihrem bewaff­neten Zuge durch das indische Volk gegen die Weisen aus­rückten und dabei Kriegs­ma­schinen ver­wen­deten und durch einen Hand­streich den Platz zu erobern suchten. 

Jene aber, so heißt es, griffen nicht zur Gegenwehr, sondern blieben, wie es den Angreifern vorkam, ruhig. Als beide Helden jedoch näher rückten, wurden sie von Donner und Blitz zurück­ge­worfen, welche von oben herab geschleudert in die Waffen einschlugen.“

Einer der bekann­testen Ver­treter von Blitz und Donner der Antike ist Zeus, der oberste olym­pische Gott der grie­chi­schen Mytho­logie — mäch­tiger als alle anderen grie­chi­schen Götter. Zu seinen Erken­nungs­merk­malen gehörte der Don­nerkeil, mit denen er Blitz schleu­derte, wenn er vom Zorn ergriffen war. Auch dieses wun­dersame Gerät stammt aus der unter­ir­di­schen Schmiede Hephaistos.

Zu seinen wohl bis heute bedeu­tendsten Schmie­de­werken gehört der bronzene Riese von Talos, der stäh­lerne Wächter von Kreta, der unver­wundbare. Er hatte nur einen Schwach­punkt – die Fessel um seinen Knöchel. In ihm steckte ein geheim­nis­voller bron­zener Nagel, der nur mit einer dünnen Haut­schicht bedeckt war.

Hinter der Haut verbarg sich eine Vene, durch die das Ichor, das Blut der Unsterb­lichkeit er Götter, zir­ku­lierte. Die Arterie durchzog wie ein dicker Schlauch seinen gesamten Corpus vom Hals bis zu jenem Knöchel, wo sie durch den Nagel ver­stopft war, der am Aus­bluten hinderte.

Talos, der stäh­lerne Wächter von Kreta 

Talos, der in der Mel­idoni-Höhle lebte, war nicht nur der Beschützer Kretas, sondern er über­brachte auch den Bewohnern die Gesetze von König Minos. Täglich umkreiste der stäh­lerne Riese die Insel und peilte mit seinen magi­schen Augen die Schiffe an, die sich der Insel näherten.

Auch in Apol­lonios Epos Argo­nautika, das im 3. Jahr­hundert v. Chr. ent­stand, wird Talos als tech­no­lo­gi­sches Produkt beschrieben. Als bron­zenes, pro­gram­miertes Auto­maton, was aus dem alt­grie­chi­schen über­setzt eigene Bewegung heißt.

In der Argo­nautika sind Iason und die Argo­nauten mitsamt dem Gol­denen Vlieses auf der Heim­fahrt. Ihr Schiff, die Argo, wird schließlich Opfer einer Flaute. Erschöpft vom uner­müd­lichen Rudern steuern die Argo­nauten eine geschützte Bucht zwi­schen zwei hohen Klippen auf Kreta an. Talos ent­deckt die Ein­dring­linge schon von Weitem. Sogleich bricht er riesige Felsen von der Klippe und wirft sie in Richtung der Argo.

Furcht­ergriffen ver­suchen die See­fahrer dem bron­zenen Ungetüm zu ent­kommen. Schließlich hat die mit an Bord der Argo befind­liche Zau­berin und Hexe Medea (medeia = gerissen) einen Plan. Sie beschwor die Geister und ver­an­lasst sie dazu, Talos Trug­bilder vor­zu­gaukeln. Sie ruft: „Wartet! Auch wenn Talos Körper aus Bronze ist, wissen wir nicht, ob er unsterblich ist. Ich glaube, ich kann ihn besiegen.“ Sie wird Talos mit einem Schlag vernichten.

In der Argon­atica setzt Medea dazu ihr beson­deres Wissen ein, Nur sie scheint die Phy­sio­logie des Roboters zu kennen, weil sie weiß, dass Schmie­degott Hephaistos Talos mit nur einer ein­zigen Arterie ver­sehen hat, durch die das Lebens­lexeier der Götter strömt, die am Knöchel mit einem Nagel ver­schlossen wurde.

Es kommt zu einem heroi­schen Duell zwi­schen der geris­senen Hexe und dem schreck­lichen Roboter. Sie murmelt unver­ständ­liches Zeug und fixiert mit einem durch­drin­genden Blick Talos Augen. Die unheil­volle Macht der Tele­pathie zeigt bald darauf Wirkung.

Talos ver­liert die Ori­en­tierung und stolpert, als er ver­sucht, einen wei­teren Findling auf­zu­nehmen, um ihn auf die Argo zu schleudern. Ein scharf­kan­tiger Felsen schlägt eine tiefe Kerbe in seine Fessel und ver­letzt seine einzige lebens­wichtige Ader. Talos ver­liert das Gleich­ge­wicht und stürzt mit lautem Don­ner­getöse ins Meer. In einer der unzäh­ligen Buchten an Kretas Küste rostet der antike Androide ver­mutlich noch heute vor sich hin.

Künst­liche Intel­ligenz fas­zi­niert die Menschheit seit dem frühen 19. Jahr­hundert in Kunst und Wis­sen­schaft glei­cher­maßen. Das weiß auch die US ame­ri­ka­nische Wis­sen­schafts­his­to­ri­kerin Adrienne Mayor.

In ihrem 2018 erschienen Werk Gods and Robots: Mythen, Machines, and Ancient beschäftigt sich Mayor aus­führlich mit der grie­chi­schen Mytho­logie. Sie schreibt, dass Künst­liche Intel­ligenz und Roboter schon von den grie­chi­schen Schrift­stellern Hesiod und Homer the­ma­ti­siert wurden, die zwi­schen 750 und 650 v. Chr. lebten und wirkten. In Wahrheit aber sind die Mythen ein Spiegel unserer Gegenwart.

Zu allen Zeiten schon hat die Phan­tasie Mythos und Wis­sen­schaft mit­ein­ander ver­bunden. Viele Wis­sen­schafts­his­to­riker glauben, dass antike Mythen über künst­liches Leben im Grunde nur leblose Materie ist, die erst durch einen Gott oder am Ende sogar einer ganzen Heer­schar von Göttern zum Leben erweckt wurde. Der bri­tische Schrift­steller Arthur C. Clarke sagte einmal: „Je fort­schritt­licher die Tech­no­logie, desto magi­scher scheint sie.“ 

Eine Reihe von Wis­sen­schaftlern behauptet, dass das mensch­liche Gehirn eine Blackbox ist, auf die die Rea­lität in Form eines Pro­gramms abge­spei­chert wurde. Trifft das tat­sächlich zu, würde das bedeuten, dass die Menschheit selbst schon eine Form künst­licher Intel­ligenz ist.

Künst­liche Intel­ligenz ist schon jetzt dazu in der Lage, ohne Eingabe von Befehlen Daten­mengen zu sammeln, aus­zu­wählen und zu inter­pre­tieren, ohne das die Urheber der Schöpfung diese ver­stehen. Wurde der Grund­stein der künst­lichen Intel­ligenz schon vor mehr als 2000 Jahren im antiken Grie­chenland gelegt?

Wie wir wissen, war Hephaistos ein aus­ge­sprochen begabter und talen­tierter Meister, der sein Handwerk ver­stand. Es wird ange­nommen, dass er eine große Auswahl an Werk­zeugen her­stellte, die allesamt von Göttern ver­wendet wurden — dar­unter die geflü­gelten San­dalen des Göt­ter­boten Hermes und wie in der Illias zu lesen, sogar weib­liche Androiden:

„Hum­pelnd ging er zur Tür hinaus, und goldene Mägde stützten den Herrn von unten; sie glichen leben­digen Mädchen. Denn sie haben Ver­stand im Inneren und haben auch Stimmen und auch Kraft und lernten von ewigen Göttern die Werke. Und sie keuchten als Stütze des Herrn, der hum­pelte aber hin, wo Thetis war […].“

Adrienne Mayor schreibt, dass alle Androiden im Olymp eigentlich harmlos waren – aber in dem Moment, wo sie die Erde betraten, wurden sie zum Ursprung schreck­lichen Unglücks.

Der mit Abstand berühm­teste weib­liche Android aus der Schmiede Hephaistos ist Pandora. Laut Hesiod wurde der Schmie­degott von seinem Vater damit beauf­tragt, aus Wasser und Erde als ersten weib­lichen Men­schen ein wun­der­schönes Ebenbild der Göt­tinnen zu erschaffen.

Der Mythos wurde zum ersten Mal im 8. oder 7. Jahr­hundert v. Chr. auf­ge­zeichnet in der Theo­gonie und in Werke und Tage, die Hesiod und Böotien zuge­schrieben werden.

Zeus Strafe an die sterb­liche Menschheit sollte in wohl­ver­packt in Form eines Geschenks daher­kommen. Hephaistos schuf ein Scheinbild in Gestalt einer künst­lichen Frau, eine Venus­falle würde man heute sagen.

Die schöne Athena und weitere Götter trugen im Wesent­lichen zur Ent­stehung bei. Und auch der Name Pandora ist kein Zufall, denn er bedeutet All­ge­bende oder Allbegabte.

Pandora wird samt ihrer mit ruch­losen Gaben in Gestalt böser Geister gefüllten Büchse zur Erde geschickt und bald darauf zur Quelle aller Miss­ge­schicke und Sorgen, die die Sterb­lichen von nun an quälen.

In Wahrheit aber sym­bo­li­siert die Büchse der Pandora nur das Unbe­kannte, das Reiz­volle – vor allem die Neugier, die wie die bösen Geister in Pan­doras Büchse auch in einem jeden von uns stecken.

Sym­bo­li­siert am Ende der Mythos der Pandora unser eigenes Leben, das uns zuweilen auch wie ein unbe­kannter Geist erscheint, ein­ge­schlossen in Pan­doras mys­ti­scher Büchse, die wir jeden Tag aufs Neue offenen, um unseren eigenen Geist daraus zu ent­lassen, den wir Alltag nennen und der uns Tag ein Tag aus in die Weite des uns Unbe­kannten führt? Es ist unser Leben, es ist unsere Zukunft

Die Geister, die sich jedem Neu­gie­rigen ent­ge­gen­stellen, der die unheim­liche Büchse öffnet, sind mul­tipel. Niemand weiß, ob die Geister gut, schlecht oder neutral sind.

Am Ende des Mythos ver­schmelzen Pandora und die Hoffnung zu einem schönen Übel, einer ver­füh­re­ri­schen Falle, die ver­lo­ckend ist, während sie ins­geheim eine poten­tielle Kata­strophe ver­birgt. Es bleibt uns in der Tat selbst über­lassen, wie wir die Geister bewerten.

Die Büchse der Pandora ist mehr als nur ein Mythos. Auch nach mehr als 2000 Jahren hat er weder an Glanz noch an Aktua­lität ver­loren. Und das hat einen ein­zigen guten Grund.

Unsere Zukunft steht in der Vergangenheit

Wir hoffen immer nur auf das Beste für uns selbst und natürlich für den Rest der Welt – dabei ver­lieren wir allzu oft unseren eigenen Kompass aus den Augen. Wir rennen blind in unser eigenes Ver­derben, weil wir noch immer die Blinden unter den Suchenden sind, ohne dass wir das merken und uns dessen Tat­sache bewusst sind.

Die gesamte Menschheit hat nichts aus ihrer unheil­vollen Geschichte gelernt. Sie wie­derholt die­selben alten Fehler immer wieder aufs Neue. Die gesamte antike Mytho­logie ist voll mit tyran­ni­schen Herr­schern, die Künst­liche Intel­ligenz gegen die sterb­liche Bevöl­kerung ein­setzen, um sie zu kontrollieren.

Die antike Mytho­logie ist nichts anderes als ein Spie­gelbild unserer Gegenwart, weil sich die Men­schen seit mehr als 2000 Jahren im Kreis bewegen und immer wieder in die Gruben fallen, sich die Nase blutig schlagen und nach einem Erlöser schreien, der in Wahrheit in ihnen selbst steckt. Nur wer seine Fehler erkennt und sie nicht wie­derholt, kann erlöst werden aus dem Übel.

Men­schen, die nicht aus Fehlern lernen, werden niemals erlöst werden – da hilft auch noch so viel Hoffnung nichts. Aus Fehlern lernen heißt, sich weiter ent­wi­ckeln und auf­zu­steigen im eigenen Bewusstsein. Das ist die Erlösung, auf die die Menschheit seit mehr als 2000 Jahren wartet.

Zeus, Vater der aller Götter, war ein schreck­licher Tyrann, der sich ins­geheim freute, wenn die Men­schen in seine Fallen tappen. Zeus ist also nichts anderes als die mythische Per­so­ni­fi­zierung unserer Welt­herr­scher, die wir gerne Eliten nennen.

Wie wir sehen, war die Menschheit auch schon in der Antike blind auf dem Auge der Freiheit, sonst hätte sie irgendwann einmal erkannt, dass es nur eine Wahl im Leben gibt: nämlich die zwi­schen Freiheit und Regierung.

Pandora, die schöne Androidin mit dem Aus­sehen einer attrak­tiven wie unschul­digen Jungfrau sym­bo­li­siert nichts anderes die Ver­führung, die von Göttern gelenkt und pro­gram­miert werden, der wir täglich aus­ge­setzt sind und der wir allzu oft erliegen, weil sie so ver­lo­ckend ist. Ein Adam und Eva Pendant.

Die Götter von einst sind die Welt­herr­scher von heute, die uns täglich aufs Neue der Ver­führung aus­setzen, um Macht und Kon­trolle zu behalten. Und täglich lockt uns Pandora in anmu­tender Schönheit mit der Kraft der Ver­führung. Der fran­zö­sische Schrift­steller André Malraux sagte einmal: Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Ver­gan­genheit blättern.

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