Flüchtlinge 1945 In Richtung Westen bewegen sich die zahllosen Flüchtlinge,Bundesarchiv, Bild 146-1985-021-09 / Unknown author / CC-BY-SA 3.0 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_146-1985-021-09,_Fl%C3%BCchtlinge.jpg#/media/File:Bundesarchiv_Bild_146-1985-021-09,_Fl%C3%BCchtlinge.jpg

»Die Ver­treibung der Deut­schen« – Das best­ge­hütete Geheimnis des Zweiten Weltkriegs!

Noch immer hat der poli­tische und mediale Main­stream hier­zu­lande eine Abneigung bezüglich dieses Themas! Mehr noch: Die Ver­höhnung deut­scher Ver­trei­bungs­opfer hat Tra­dition! Hin­ter­gründe und Fakten!

Am 1. Sep­tember 2009 erin­nerte Bun­des­kanz­lerin Angela Merkel in einem ARD-Interview an die deut­schen Ver­brechen während des Zweiten Welt­kriegs. Dennoch sei »die Ver­treibung von weit über zwölf Mil­lionen Men­schen aus den Gebieten des ehe­ma­ligen Deutsch­lands und heu­tigen Polens natürlich ein Unrecht, und auch das muss benannt werden.«[i]

Am selben Tag äußerte sich die Kanz­lerin bei der Gedenk­ver­an­staltung zum 70. Jah­restag des Aus­bruchs des Zweiten Welt­kriegs in Gdansk (dem frü­heren Danzig) weitaus dif­fe­ren­zierter zu den deut­schen Vertriebenen.

Nach­folgend Merkels Rede im Ori­ginal, um dem Vorwurf zuvor­zu­kommen, ich hätte diese aus dem Zusam­menhang gerissen (Her­vor­hebung durch mich):[ii]

Sehr geehrter Herr Staatspräsident,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
liebe Kol­le­ginnen und Kollegen,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

heute vor 70 Jahren begann mit dem deut­schen Überfall auf Polen das tra­gischste Kapitel in der Geschichte Europas. Der von Deutschland ent­fes­selte Krieg brachte uner­mess­liches Leid über viele Völker – Jahre der Ent­rechtung, der Ernied­rigung und der Zerstörung.

Kein Land hat so lange unter deut­scher Besatzung gelitten wie Polen. In dieser dunklen Zeit, über die wir heute sprechen, wurde das Land ver­wüstet. Städte und Dörfer wurden zer­stört. In der Haupt­stadt wurde nach der Nie­der­schlagung des Auf­stands 1944 kaum ein Stein auf dem anderen gelassen. Willkür und Gewalt durch­zogen den Alltag. Kaum eine pol­nische Familie blieb davon verschont.

Hier auf der Wes­ter­platte gedenke ich als deutsche Bun­des­kanz­lerin aller Polen, denen unter den Ver­brechen der deut­schen Besat­zungs­macht unsäg­liches Leid zugefügt wurde.

Die Schrecken des 20. Jahr­hun­derts gip­felten im Holo­caust – in der sys­te­ma­ti­schen Ver­folgung und Ermordung der euro­päi­schen Juden.

Ich gedenke der sechs Mil­lionen Juden und aller anderen, die in deut­schen Kon­zen­tra­tions- und Ver­nich­tungs­lagern einen grau­samen Tod erlitten.

Ich gedenke der vielen Mil­lionen Men­schen, die ihr Leben im Kampf und im Wider­stand gegen Deutschland lassen mussten.

Ich gedenke aller, die unschuldig durch Hunger, Kälte und Krankheit, durch die Gewalt des Krieges und seine Folgen sterben mussten.

Ich gedenke der 60 Mil­lionen Men­schen, die durch diesen von Deutschland ent­fes­selten Krieg ihr Leben ver­loren haben.

Es gibt keine Worte, die das Leid dieses Krieges und des Holo­caust auch nur annä­hernd beschreiben könnten.

Ich ver­neige mich vor den Opfern.

Wir wissen: Die Gräuel des Zweiten Welt­kriegs können wir nicht unge­schehen machen. Die Narben werden wei­terhin sichtbar bleiben. Aber die Zukunft im Bewusst­sein unserer immer wäh­renden Ver­ant­wortung gestalten – das ist unser Auftrag.

In diesem Geist hat sich Europa aus einem Kon­tinent des Schre­ckens und der Gewalt in einen Kon­tinent der Freiheit und des Friedens ver­wandelt. Dass das möglich geworden ist, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Wunder.

Wir Deut­schen haben dabei nie ver­gessen: Deutsch­lands Partner in Ost und in West haben diesen Weg durch Ver­söh­nungs­be­reit­schaft geebnet. Sie haben uns Deut­schen die Hand zur Ver­söhnung aus­ge­streckt. Wir haben sie voller Dank­barkeit ergriffen.

Ja, es ist ein Wunder, dass wir in diesem Jahr nicht nur an die Abgründe euro­päi­scher Geschichte vor 70 Jahren denken müssen. Es ist ein Wunder, dass wir auch an die glück­lichen Tage denken können, die vor 20 Jahren zum Fall der Ber­liner Mauer, zur Wie­der­ver­ei­nigung Deutsch­lands und zur Einheit Europas geführt haben. Denn voll­endet wurde der Weg Europas zur Freiheit erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs.

In der Tra­dition der Soli­darność in Polen haben die Men­schen damals überall das Tor zur Freiheit mutig auf­ge­stoßen. Wir Deut­schen werden das nie ver­gessen – nicht die Rolle unserer Freunde in Polen, Ungarn und der dama­ligen Tsche­cho­slo­wakei; nicht die Rolle Michail Gor­bat­schows und unserer west­lichen Partner und Ver­bün­deten; und nicht die Rolle der mora­li­schen Kraft der Wahrheit, die keiner so über­zeugend und glaub­würdig ver­kör­perte wie Papst Johannes Paul II.

Es lag auch deshalb in der beson­deren deut­schen Ver­ant­wortung, Polen und den anderen Staaten Mittel- und Ost­eu­ropas den Weg in die Euro­päische Union und die Nato zu ebnen und ihnen zur Seite zu stehen.

Ja, es ist ein Wunder, eine Gnade, dass wir Europäer heute in Freiheit und Frieden leben können. Kaum etwas könnte den Unter­schied zu 1939 besser ver­sinn­bild­lichen als die enge, die ver­trau­ens­volle Zusam­men­arbeit zwi­schen Deutschland und Polen und die viel­fäl­tigen freund­schaft­lichen Bezie­hungen zwi­schen unseren beiden Ländern.

Die Einigung Europas und die Freund­schaft Deutsch­lands mit seinen Nachbarn finden ihre Stärke darin, dass wir uns unserer Geschichte stellen. Dies bringen die Vor­sit­zenden der deut­schen und pol­ni­schen Bischofs­kon­fe­renzen in ihrer jüngst ver­öf­fent­lichten Erklärung zum heu­tigen Jah­restag fol­gen­der­maßen auf den Punkt: „Gemeinsam müssen wir in die Zukunft blicken, auf die wir zugehen möchten, ohne die geschicht­liche Wahrheit in all ihren Aspekten zu ver­gessen noch zu gering zu achten.“

Wenn wir in meinem Land bis heute auch an das Schicksal der Deut­schen denken, die in Folge des Krieges ihre Heimat ver­loren haben, dann tun wir das stets genau in dem von den Bischöfen beschrie­benen Sinne. Dann tun wir das in dem Bewusstsein der Ver­ant­wortung Deutsch­lands, die am Anfang von allem stand. Dann tun wir das, ohne irgend­etwas an der immer wäh­renden geschicht­lichen Ver­ant­wortung Deutsch­lands umschreiben zu wollen – das wird niemals geschehen.

Und in genau diesem Bewusstsein bin ich heute, 70 Jahre später, hierher nach Danzig gekommen – in diese einst leid­ge­prüfte, nun aber glanzvoll restau­rierte Stadt.

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Sehr geehrter Herr Staats­prä­sident, sehr geehrter Herr Minis­ter­prä­sident, dass Sie mich als deutsche Bun­des­kanz­lerin zum heu­tigen Gedenktag ein­ge­laden haben, berührt mich sehr. Ich ver­stehe dies als ein Zeichen unserer ver­trau­ens­vollen Nach­bar­schaft, unserer engen Part­ner­schaft und wirk­lichen Freund­schaft zwi­schen unseren Ländern, zwi­schen den Men­schen in Deutschland und Polen. Ich möchte Ihnen dafür aus­drücklich danken!

Bun­des­kanz­lerin Angela Merkel ver­suchte an diesem Tag einen Spagat zu machen, der ihr jedoch gründlich miss­lungen ist, wie auch Kom­men­ta­toren ver­merkten. Dazu noch unter fal­schen Fakten.

M. Douglas, US-ame­ri­ka­ni­scher Pro­fessor für Geschichte an der Colgate Uni­versity in Hamilton, New York brachte es zu Tage, als er beschrieb, dass die deutsche Kanz­lerin anscheinend glaubte, dass alle der »weit über zwölf Mil­lionen Men­schen«, die nach dem Krieg ver­trieben wurden, aus dem Vor­kriegs­deutschland oder aus Polen kamen. Tat­sächlich igno­rierte sie damit die zahl­reichen Depor­tierten aus Süd­ost­europa und impli­zierte, dass ehe­malige Sude­tenland habe schon 1938 zum Deut­schen Reich gehört.[iii]

Noch sechs Jahre zuvor hörte sich Merkel ganz anders an. Als Vor­sit­zende der CDU Deutschland meinte sie am 6. Sep­tember 2003 in ihrer Rede zum Tag der Heimat:  »Das erinnert uns daran, dass die Befreiung Europas und auch Deutsch­lands vom Natio­nal­so­zia­lismus damals für viele Deutsche kei­neswegs anbre­chende Freiheit und das Ende von Leid bedeutete.  In der öst­lichen Hälfte Europas und in Mittel- und Ost­deutschland übernahm eine neue tota­litäre Dik­tatur die Herr­schaft. Wir müssen die Geschichte von Flucht und Ver­treibung als Teil unserer gesamt­deut­schen Geschichte ansehen und wir müssen sie weiter ver­mitteln. Dies gehört für mich zum his­to­ri­schen Bestand unserer Nation und zu einer zukunfts­fä­higen Kultur des Erin­nerns.«[iv]

Erneut ein Beleg dafür, wie sich die Kanz­lerin in der Frage der Ver­trie­benen über die Jahre hinweg »windet.«

Natürlich ist das Thema der deut­schen Ver­trie­benen jetzt noch, 77 Jahre nach Kriegsende ein poli­ti­sches Minenfeld mit unge­heurem Kon­flikt­po­tenzial. Auch daran erinnert der US-Geschichts­pro­fessor Douglas: »Vielmehr gab es in Deutschland und ganz Mit­tel­europa in der Nach­kriegs­epoche starke offi­zielle und inof­fi­zielle Ver­suche, den Diskurs (über die deut­schen Vertriebenen/GG) von Öffent­lichkeit und Medien darüber zu kon­trol­lieren und die Dis­kussion in erwünschte Bahnen zu lenken.« Dabei wurden mit­unter Äuße­rungen von Lands­mann­schaften-Funk­tio­nären gleich als revan­chis­tisch oder revi­sio­nis­tisch ange­sehen. Das gilt wohl bis heute so.

»Innerhalb Deutsch­lands hat sich nach dem Krieg die Kon­tro­verse um den Umgang mit den Ver­trei­bungen fast nur um ‚Erin­nerung‘ statt um ‚Geschichte‘ gedreht – anders gesagt stand die Frage im Mit­tel­punkt, wie man sich an sie erinnern und sie dar­stellen soll, nicht woran erinnert werden soll«, meint Douglas treffend.

Und weiter: »Über fast alle wich­tigen Punkte herr­schen nach wie vor große Mei­nungs­un­ter­schiede und noch größere Ver­wirrung: so grund­le­gende Fragen wie die Zahl der Todes­opfer während der Ver­trei­bungen (und selbst die Frage, was als ver­trei­bungs­be­dingter Todesfall zu zählen ist); wie viele Men­schen, unter welchen Bedin­gungen vor ihrer Depor­tation inter­niert waren; ob die Haupt­ver­ant­wortung für die Ope­ration bei den Ver­trei­bungs­staaten selbst liegt, bei der Sowjet­union oder den West­al­li­ierten; und ob die Ver­trei­bungen einen Bruch des Völ­ker­rechts dar­stellten oder in Über­ein­stimmung damit statt­fanden.«[v]

Kurzum: Hier­zu­lande gibt es noch immer eine große Ver­wirrung in der hie­sigen Öffent­lichkeit über Wesen und Umfang der Ver­trei­bungen, bei der Deutschland mehr als ein Viertel seines Ter­ri­to­riums verlor (unter anderem Schlesien, Pommern, Ost- und West­preußen). Die tat­säch­liche Zahl der Ver­trie­benen liegt bei etwa 14 Mil­lionen (bis 20 Mil­lionen wie in diesem Buch bereits auf­ge­zeigt). Fast drei von zehn Deut­schen sind selbst ver­trieben worden oder sind Kinder oder Enkel von Ver­trie­benen. So wie ich.

M. Douglas ent­hüllt: »Während die Geschichte der Ver­trei­bungen in Deutschland zu wenig bekannt ist, kann man für den Rest der Welt ohne Über­treibung sagen, dass sie bis heute das am besten gehütete Geheimnis des Zweiten Welt­kriegs ist.«[vi]

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Quellen:

[i] R. M. Douglas: „Ord­nungs­gemäße Über­führung – Die Ver­treibung der Deut­schen nach dem Zweiten Welt­krieg“, München 2012, S. 9

[ii] BUL­LETIN DER BUN­DES­RE­GIERUNG Nr. 90–1 vom 1. Sep­tember 2009 Rede von Bun­des­kanz­lerin Dr. Angela Merkel bei der Gedenk­ver­an­staltung zum 70. Jah­restag des Aus­bruchs des Zweiten Welt­kriegs am 1. Sep­tember 2009 in Danzig (https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975954/771112/776ecafe4d1715e2919550e9c62c5b33/90–1‑bk-data.pdf?download=1)

[iii] R. M. Douglas: „Ord­nungs­gemäße Über­führung – Die Ver­treibung der Deut­schen nach dem Zweiten Welt­krieg“, München 2012, S. 11

[iv] zitiert nach: »Zentrum gegen Ver­trei­bungen: Rede der Vor­sit­zenden Erika Steinbach MdB in der Konrad-Ade­nauer-Stiftung 9. Juni 2015« (https://www.z‑g-v.de/zgv/veranstaltungen-unserer-stiftung/flucht-vertreibung-deportation-962015/)

[v] R. M. Douglas: „Ord­nungs­gemäße Über­führung – Die Ver­treibung der Deut­schen nach dem Zweiten Welt­krieg“, München 2012, S. 12, 13

[vi] R. M. Douglas: „Ord­nungs­gemäße Über­führung – Die Ver­treibung der Deut­schen nach dem Zweiten Welt­krieg“, München 2012, S. 14


Guido Grandt — Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors www.guidograndt.de