Noch immer hat der politische und mediale Mainstream hierzulande eine Abneigung bezüglich dieses Themas! Mehr noch: Die Verhöhnung deutscher Vertreibungsopfer hat Tradition! Hintergründe und Fakten!
Am 1. September 2009 erinnerte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem ARD-Interview an die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Dennoch sei »die Vertreibung von weit über zwölf Millionen Menschen aus den Gebieten des ehemaligen Deutschlands und heutigen Polens natürlich ein Unrecht, und auch das muss benannt werden.«[i]
Am selben Tag äußerte sich die Kanzlerin bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs in Gdansk (dem früheren Danzig) weitaus differenzierter zu den deutschen Vertriebenen.
Nachfolgend Merkels Rede im Original, um dem Vorwurf zuvorzukommen, ich hätte diese aus dem Zusammenhang gerissen (Hervorhebung durch mich):[ii]
Sehr geehrter Herr Staatspräsident,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
heute vor 70 Jahren begann mit dem deutschen Überfall auf Polen das tragischste Kapitel in der Geschichte Europas. Der von Deutschland entfesselte Krieg brachte unermessliches Leid über viele Völker – Jahre der Entrechtung, der Erniedrigung und der Zerstörung.
Kein Land hat so lange unter deutscher Besatzung gelitten wie Polen. In dieser dunklen Zeit, über die wir heute sprechen, wurde das Land verwüstet. Städte und Dörfer wurden zerstört. In der Hauptstadt wurde nach der Niederschlagung des Aufstands 1944 kaum ein Stein auf dem anderen gelassen. Willkür und Gewalt durchzogen den Alltag. Kaum eine polnische Familie blieb davon verschont.
Hier auf der Westerplatte gedenke ich als deutsche Bundeskanzlerin aller Polen, denen unter den Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht unsägliches Leid zugefügt wurde.
Die Schrecken des 20. Jahrhunderts gipfelten im Holocaust – in der systematischen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden.
Ich gedenke der sechs Millionen Juden und aller anderen, die in deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern einen grausamen Tod erlitten.
Ich gedenke der vielen Millionen Menschen, die ihr Leben im Kampf und im Widerstand gegen Deutschland lassen mussten.
Ich gedenke aller, die unschuldig durch Hunger, Kälte und Krankheit, durch die Gewalt des Krieges und seine Folgen sterben mussten.
Ich gedenke der 60 Millionen Menschen, die durch diesen von Deutschland entfesselten Krieg ihr Leben verloren haben.
Es gibt keine Worte, die das Leid dieses Krieges und des Holocaust auch nur annähernd beschreiben könnten.
Ich verneige mich vor den Opfern.
Wir wissen: Die Gräuel des Zweiten Weltkriegs können wir nicht ungeschehen machen. Die Narben werden weiterhin sichtbar bleiben. Aber die Zukunft im Bewusstsein unserer immer währenden Verantwortung gestalten – das ist unser Auftrag.
In diesem Geist hat sich Europa aus einem Kontinent des Schreckens und der Gewalt in einen Kontinent der Freiheit und des Friedens verwandelt. Dass das möglich geworden ist, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Wunder.
Wir Deutschen haben dabei nie vergessen: Deutschlands Partner in Ost und in West haben diesen Weg durch Versöhnungsbereitschaft geebnet. Sie haben uns Deutschen die Hand zur Versöhnung ausgestreckt. Wir haben sie voller Dankbarkeit ergriffen.
Ja, es ist ein Wunder, dass wir in diesem Jahr nicht nur an die Abgründe europäischer Geschichte vor 70 Jahren denken müssen. Es ist ein Wunder, dass wir auch an die glücklichen Tage denken können, die vor 20 Jahren zum Fall der Berliner Mauer, zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Einheit Europas geführt haben. Denn vollendet wurde der Weg Europas zur Freiheit erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs.
In der Tradition der Solidarność in Polen haben die Menschen damals überall das Tor zur Freiheit mutig aufgestoßen. Wir Deutschen werden das nie vergessen – nicht die Rolle unserer Freunde in Polen, Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei; nicht die Rolle Michail Gorbatschows und unserer westlichen Partner und Verbündeten; und nicht die Rolle der moralischen Kraft der Wahrheit, die keiner so überzeugend und glaubwürdig verkörperte wie Papst Johannes Paul II.
Es lag auch deshalb in der besonderen deutschen Verantwortung, Polen und den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas den Weg in die Europäische Union und die Nato zu ebnen und ihnen zur Seite zu stehen.
Ja, es ist ein Wunder, eine Gnade, dass wir Europäer heute in Freiheit und Frieden leben können. Kaum etwas könnte den Unterschied zu 1939 besser versinnbildlichen als die enge, die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen und die vielfältigen freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern.
Die Einigung Europas und die Freundschaft Deutschlands mit seinen Nachbarn finden ihre Stärke darin, dass wir uns unserer Geschichte stellen. Dies bringen die Vorsitzenden der deutschen und polnischen Bischofskonferenzen in ihrer jüngst veröffentlichten Erklärung zum heutigen Jahrestag folgendermaßen auf den Punkt: „Gemeinsam müssen wir in die Zukunft blicken, auf die wir zugehen möchten, ohne die geschichtliche Wahrheit in all ihren Aspekten zu vergessen noch zu gering zu achten.“
Wenn wir in meinem Land bis heute auch an das Schicksal der Deutschen denken, die in Folge des Krieges ihre Heimat verloren haben, dann tun wir das stets genau in dem von den Bischöfen beschriebenen Sinne. Dann tun wir das in dem Bewusstsein der Verantwortung Deutschlands, die am Anfang von allem stand. Dann tun wir das, ohne irgendetwas an der immer währenden geschichtlichen Verantwortung Deutschlands umschreiben zu wollen – das wird niemals geschehen.
Und in genau diesem Bewusstsein bin ich heute, 70 Jahre später, hierher nach Danzig gekommen – in diese einst leidgeprüfte, nun aber glanzvoll restaurierte Stadt.
Sehr geehrter Herr Staatspräsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, dass Sie mich als deutsche Bundeskanzlerin zum heutigen Gedenktag eingeladen haben, berührt mich sehr. Ich verstehe dies als ein Zeichen unserer vertrauensvollen Nachbarschaft, unserer engen Partnerschaft und wirklichen Freundschaft zwischen unseren Ländern, zwischen den Menschen in Deutschland und Polen. Ich möchte Ihnen dafür ausdrücklich danken!
Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchte an diesem Tag einen Spagat zu machen, der ihr jedoch gründlich misslungen ist, wie auch Kommentatoren vermerkten. Dazu noch unter falschen Fakten.
M. Douglas, US-amerikanischer Professor für Geschichte an der Colgate University in Hamilton, New York brachte es zu Tage, als er beschrieb, dass die deutsche Kanzlerin anscheinend glaubte, dass alle der »weit über zwölf Millionen Menschen«, die nach dem Krieg vertrieben wurden, aus dem Vorkriegsdeutschland oder aus Polen kamen. Tatsächlich ignorierte sie damit die zahlreichen Deportierten aus Südosteuropa und implizierte, dass ehemalige Sudetenland habe schon 1938 zum Deutschen Reich gehört.[iii]
Noch sechs Jahre zuvor hörte sich Merkel ganz anders an. Als Vorsitzende der CDU Deutschland meinte sie am 6. September 2003 in ihrer Rede zum Tag der Heimat: »Das erinnert uns daran, dass die Befreiung Europas und auch Deutschlands vom Nationalsozialismus damals für viele Deutsche keineswegs anbrechende Freiheit und das Ende von Leid bedeutete. In der östlichen Hälfte Europas und in Mittel- und Ostdeutschland übernahm eine neue totalitäre Diktatur die Herrschaft. Wir müssen die Geschichte von Flucht und Vertreibung als Teil unserer gesamtdeutschen Geschichte ansehen und wir müssen sie weiter vermitteln. Dies gehört für mich zum historischen Bestand unserer Nation und zu einer zukunftsfähigen Kultur des Erinnerns.«[iv]
Erneut ein Beleg dafür, wie sich die Kanzlerin in der Frage der Vertriebenen über die Jahre hinweg »windet.«
Natürlich ist das Thema der deutschen Vertriebenen jetzt noch, 77 Jahre nach Kriegsende ein politisches Minenfeld mit ungeheurem Konfliktpotenzial. Auch daran erinnert der US-Geschichtsprofessor Douglas: »Vielmehr gab es in Deutschland und ganz Mitteleuropa in der Nachkriegsepoche starke offizielle und inoffizielle Versuche, den Diskurs (über die deutschen Vertriebenen/GG) von Öffentlichkeit und Medien darüber zu kontrollieren und die Diskussion in erwünschte Bahnen zu lenken.« Dabei wurden mitunter Äußerungen von Landsmannschaften-Funktionären gleich als revanchistisch oder revisionistisch angesehen. Das gilt wohl bis heute so.
»Innerhalb Deutschlands hat sich nach dem Krieg die Kontroverse um den Umgang mit den Vertreibungen fast nur um ‚Erinnerung‘ statt um ‚Geschichte‘ gedreht – anders gesagt stand die Frage im Mittelpunkt, wie man sich an sie erinnern und sie darstellen soll, nicht woran erinnert werden soll«, meint Douglas treffend.
Und weiter: »Über fast alle wichtigen Punkte herrschen nach wie vor große Meinungsunterschiede und noch größere Verwirrung: so grundlegende Fragen wie die Zahl der Todesopfer während der Vertreibungen (und selbst die Frage, was als vertreibungsbedingter Todesfall zu zählen ist); wie viele Menschen, unter welchen Bedingungen vor ihrer Deportation interniert waren; ob die Hauptverantwortung für die Operation bei den Vertreibungsstaaten selbst liegt, bei der Sowjetunion oder den Westalliierten; und ob die Vertreibungen einen Bruch des Völkerrechts darstellten oder in Übereinstimmung damit stattfanden.«[v]
Kurzum: Hierzulande gibt es noch immer eine große Verwirrung in der hiesigen Öffentlichkeit über Wesen und Umfang der Vertreibungen, bei der Deutschland mehr als ein Viertel seines Territoriums verlor (unter anderem Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen). Die tatsächliche Zahl der Vertriebenen liegt bei etwa 14 Millionen (bis 20 Millionen wie in diesem Buch bereits aufgezeigt). Fast drei von zehn Deutschen sind selbst vertrieben worden oder sind Kinder oder Enkel von Vertriebenen. So wie ich.
M. Douglas enthüllt: »Während die Geschichte der Vertreibungen in Deutschland zu wenig bekannt ist, kann man für den Rest der Welt ohne Übertreibung sagen, dass sie bis heute das am besten gehütete Geheimnis des Zweiten Weltkriegs ist.«[vi]
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Quellen:
[i] R. M. Douglas: „Ordnungsgemäße Überführung – Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg“, München 2012, S. 9
[ii] BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG Nr. 90–1 vom 1. September 2009 Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs am 1. September 2009 in Danzig (https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975954/771112/776ecafe4d1715e2919550e9c62c5b33/90–1‑bk-data.pdf?download=1)
[iii] R. M. Douglas: „Ordnungsgemäße Überführung – Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg“, München 2012, S. 11
[iv] zitiert nach: »Zentrum gegen Vertreibungen: Rede der Vorsitzenden Erika Steinbach MdB in der Konrad-Adenauer-Stiftung 9. Juni 2015« (https://www.z‑g-v.de/zgv/veranstaltungen-unserer-stiftung/flucht-vertreibung-deportation-962015/)
[v] R. M. Douglas: „Ordnungsgemäße Überführung – Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg“, München 2012, S. 12, 13
[vi] R. M. Douglas: „Ordnungsgemäße Überführung – Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg“, München 2012, S. 14
Guido Grandt — Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors www.guidograndt.de
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