In verschiedenen europäischen Ländern wird der 8. Mai als der „Tag der Befreiung“ vom Nationalsozialismus, der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit das Ende des Zweiten Weltkrieges gedacht. Der deutsche Historiker Hubertus Knabe schrieb hinsichtlich dieser „Befreiung“:
„(…). die Deutschen waren weit davon entfernt, den alliierten Streitkräften jubelnd entgegenzulaufen. Dazu trug nicht nur das schockierende Verhalten der Rotarmisten gegenüber der Zivilbevölkerung bei. Vielmehr identifizierte sich die Bevölkerung bis zum bitteren Ende mehrheitlich mit dem Regime der Nationalsozialisten. Im Unterschied zu vielen anderen Ländern kam es in Deutschland weder zur Bildung von Partisaneneinheiten noch zu lokalen Aufständen. Auch der Widerstand blieb marginal.“
Weiter: „Als die Deutschen endlich niedergerungen waren, dachten die Alliierten folgerichtig nicht daran, ihnen nun die Freiheit zu schenken. Bedingungslose Kapitulation bedeutete vielmehr, dass Deutschland jedes Recht verloren hatte, über seine Zukunft selbst zu befinden. Ausländische Truppen besetzten sein gesamtes Territorium. In der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 legten die vier Alliierten fest, dass sämtliche Regierungsgewalt bis hinunter zu den Kommunen bei den Besatzungsmächten lag. Jede – auch anti-nazistische – politische Betätigung musste von ihnen genehmigt werden. Die Situation im Mai 1945 ähnelte mehr einer Militärdiktatur als einem demokratischen Neubeginn.“
Und: „Für Millionen Deutsche bedeutete das Kriegsende sogar das Gegenteil von Befreiung. Durch die Kapitulation der Wehrmacht gerieten die meisten deutschen Soldaten in Gefangenschaft, am Ende waren es elf Millionen. Mehr als zwölf Millionen Deutsche wurden zudem aus ihrer Heimat in den Ostgebieten und in Ostmitteleuropa vertrieben. Auch in den vier Besatzungszonen wurden Hunderttausende Zivilisten verhaftet. Die Sowjetunion installierte in ihrer Zone bruchlos eine neue Diktatur, die bis 1989 fortbestand.“
Quelle: https://hubertus-knabe.de/75-jahre-kriegsende/
In der Tat war das Kriegsende eine „Befreiung“ für die Häftlinge in den deutschen Konzentrationslagern, den ausländischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, ebenso wie für die innerdeutschen Gegner des Nazi-Regimes.
Der britische Premier Winston Churchill schrieb in einem Brief an seinen Außenminister Anthony Eden vom 11. Juli 1944 zum Genozid an den Juden:
„Es besteht kein Zweifel, dass es sich hier um das wahrscheinlich größte und schrecklichste Verbrechen der ganzen Weltgeschichte handelt, das von angeblich zivilisierten Menschen im Namen eines großen Staates und eines führenden Volkes Europas mit wissenschaftlichen Mitteln verübt wird.“
Das gilt bis heute!
Dennoch ist der 7./8. Mai 1945 für die Deutschen im engen Sinne zwar ein Tag der Befreiung vom NS-Regime, aber ansonsten der Tag der bedingungslosen Kapitulation, der Besetzung eines Feindstaates durch die Alliierten, ganz abgesehen vom Leid von 14 Millionen (bis 20 Millionen) Vertriebenen und einer anschließenden Militärdiktatur.
Und nicht zu vergessen: Diese „Befreiung“ brachte für die Ostdeutschen für viele Jahrzehnte eine neue Diktatur, nämlich die unter der SED!
Die Direktive an den Oberbefehlshaber der US-Besatzungstruppen in Deutschland (JCS 1067) (April 1945) belegt dies eindeutig!
Wie der Begriff „Befreiung“ überhaupt in die bundesdeutschen Köpfe kam, beschreibt Historiker Knabe:
„In der Bundesrepublik setzte die Umdeutung des Kriegsendes erst sehr viel später ein. Eine Zäsur bildete dabei die Rede des christdemokratischen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker von 1985. Bei einer Gedenkstunde zum vierzigsten Jahrestag der Kapitulation erklärte er im Deutschen Bundestag: ‚Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.‘“
Und: „Diese Feststellung war umso bemerkenswerter, als von Weizsäckers Vater bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war und er selbst ihn damals mit verteidigt hatte (…)Nach von Weizsäckers Rede wurde die Fiktion eines antifaschistischen Deutschland, das von den Alliierten befreit worden sei, auch in Westdeutschland begierig aufgegriffen. Nach und nach avancierte sie fast zu einer Art Staatsräson der Bundesrepublik.“
Quelle: https://hubertus-knabe.de/75-jahre-kriegsende/
Guido Grandt — Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors www.guidograndt.de