Titelbild: Hintergrund Pixabay, Foto Prof. Mearsheimer: WIkipedia, John Mearsheimer, CC BY-SA 3.0

„Am Ende siegen die Russen!“ Prof. John Mears­heimer spricht Tacheles (+Videos)

Er ist nicht irgendwer, dessen Meinung man unter „Geschwurbel“ abtun kann. Der US-Ame­ri­ka­nische Poli­tik­wis­sen­schaftler Prof. John J. Mears­heimer ist ein Experte in inter­na­tio­nalen Bezie­hungen und Geo­stra­tegie. Er lehrt an der Uni­ver­sität Chicago und ist viel­be­ach­teter Kom­men­tator zum Welt­ge­schehen. Seine Bücher, wie z. B. „Die Tra­gödie der Politik der Groß­mächte“ (The Tragedy of Great Power Politics) und „Lügen, die Staaten ein­ander erzählen“ (Why Leaders Lie: The Truth About Lying in Inter­na­tional Politics) gehören zu den Stan­dard­werken der Wis­sen­schaft. Seine mes­ser­scharfen Ana­lysen sind berühmt – und berüchtigt. Seine Ansicht, dass die Außen­po­litik der USA für den Ukraine-Russland-Kon­flikt ver­ant­wortlich ist, sorgte in den USA für hitzige Dis­kus­sionen. Nun sorgt er mit einer neuen Dia­gnose der Lage für Aufregung.

Seine Sicht­weise ist nicht neu. Schon 2015 – ein Jahr nach dem Maidan-Auf­stand in Kiew und im Schatten der Krim­krise –  hielt er auf einem Alumni-Treffen (Alumni = Absol­venten der Uni) der Uni­ver­sität Chicago einen Vortrag unter dem Titel „Warum ist die Ukraine die Schuld des Westens?“. Seine beein­dru­ckende, scharf­sinnige und scho­nungslose Analyse war explosiv. Er sagte das, was dieses Jahr pas­siert ist, treff­sicher voraus und machte klar, dass sich keine Seite leisten kann, zu ver­lieren. Die Ame­ri­kaner nicht, weil damit ihre Vor­macht­stellung in der Welt ein für alle Mal ver­loren ist. Die Russen nicht, weil damit Ihre Existenz als sou­ve­ränes, großes Land ver­loren ist. Die Ame­ri­kaner würden eine Mario­net­ten­re­gierung eta­blieren und die reichen Boden­schätze des Landes aus­rauben. Seinen dama­ligen Vortrag kann man heute noch auf Youtube sehen. Er wurde  mehr als 27 Mil­lionen Mal angeklickt.

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Nun hat er in einem Beitrag im „The Eco­nomist“ nach­gelegt: „John Mears­heimer on why the West is prin­ci­pally respon­sible for the Ukrainian crisis — The poli­tical sci­entist believes the reckless expansion of NATO pro­voked Russia“ (John Mears­heimer dazu, warum der Westen für die Ukraine-Krise im Prinzip ver­ant­wortlich ist – der Poli­tik­wis­sen­schaftler glaubt, die rück­sichtslose Expansion der NATO pro­vo­zierte Russland). Dafür schlägt ihm die blanke Wut entgegen.

Den Vortrag Prof. John J. Mears­heimers kann man auf der Seite IPG in Deutsch lesen. Es fällt schwer, daraus Pas­sagen als besonders wichtig zu zitieren, da eigentlich jeder Satz wichtig ist und seine Beschrei­bungen der Aus­gangs­si­tuation nüchtern und treffend sind. Er skiz­ziert in kurzen Worten die ständige NATO-Ost­erwei­te­rungen ab 1999: Tsche­chische Republik, Ungarn, Polen, Bul­garien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowkei, Rumänien. Später noch Albanien und Kroatien.

Bei einem Gipfel in Bukarest 2008 wollte die NATO direkt an die Grenze Russ­lands vor­stoßen: Georgien und die Ukraine sollten eben­falls in die NATO auf­ge­nommen werden. Frank­reich und Deutschland ver­hin­derten das, damals noch sehr klar sehend, dass das Russland nicht dulden werde.

Der Kom­promiss hieß:

„Die NATO leitete keine formale Auf­nah­me­pro­zedur ein, sondern gab lediglich eine Erklärung ab, in der es die Bestre­bungen Geor­giens und der Ukraine begrüßte und rund­heraus erklärte: ‚Diese Länder werden der NATO beitreten.‘“

Für Moskau war das eine „unmit­telbare Drohung“ und kein Kompromiss:

Einer rus­si­schen Zeitung zufolge ließ Putin in einem Gespräch mit Bush durch­blicken, ‚dass die Ukraine, sollte sie in die NATO auf­ge­nommen werden, auf­hören werde zu bestehen‘.“

Und doch initi­ierte „Der Westen“ sehenden Auges, dass Russland das nicht hin­nehmen konnte, den blu­tigen, ent­setz­lichen Maidan-Auf­stand und setzte ein west­liches Mario­net­ten­regime in Kiew ein.

„Die neue Regierung in Kiew war pro-westlich und anti-rus­sisch bis ins Mark; vier ranghohe Mit­glieder können durchaus legitim als Neo­fa­schisten bezeichnet werden.“

 Dar­aufhin besetzte der rus­sische Prä­sident Putin die Krim, was er nach­träglich durch freie Wahlen auf der Krim zemen­tierte. Es heißt, dass Prä­sident Putin auf­grund von Geheim­dienst­in­for­ma­tionen befürchten musste, dass die Ame­ri­kaner planten, einen Stütz­punkt auf der Halb­insel direkt an Russland ein­zu­richten. Und er signa­li­sierte der Kiewer Regierung:

… dass er eher die Staats­struktur der Ukraine zer­stören würde, als tatenlos dabei zuzu­sehen, wie sie zu einem Bollwerk des Westens vor Russ­lands Haustür wurde. Zu diesem Zweck stellt er seither den rus­si­schen Sepa­ra­tisten in der Ost­ukraine Berater, Waffen und diplo­ma­tische Unter­stützung zur Ver­fügung, damit sie das Land in einen Bür­ger­krieg treiben. Er zog an der ukrai­ni­schen Grenze eine große Arme zusammen und drohte mit einer Invasion, sollte die Regierung in Kiew gegen die Rebellen vor­gehen. (…) Putins Ver­halten ist nicht schwer zu ver­stehen. Die Ukraine ist für Russland ein Puf­fer­staat mit enormer stra­te­gi­scher Bedeutung. Kein rus­si­scher Staatschef würde es hin­nehmen, dass eine Mili­tär­al­lianz, die noch bis vor kurzem Moskaus Erz­feind war, in die Ukraine vor­stößt. (…) Man stelle sich die Empörung in Washington vor, wenn China ein mäch­tiges Mili­tär­bündnis schmiedete und ver­suchte, Kanada und Mexiko dafür zu gewinnen.“

Damit ist die Situation zwar auf einen sehr ein­fachen Nenner gebracht, dennoch klar umrissen. Die Gründe, warum Russland aus seiner Sicht in der Ukraine ein­greifen muss, liegen auf der Hand.

Prof. Mears­heimer sieht also den jetzt aus­ge­bro­chenen Krieg in der Ukraine als logische Kon­se­quenz rus­si­schen Han­delns auf die fort­ge­setzten Pro­vo­ka­tionen, Miss­ach­tungen der Pro­teste Russ­lands, Igno­rieren aller klaren War­nungen und „roten Linien“. Nun kann keine der beiden Par­teien zurück. In dieser Situation legt Prof. Mears­heimer in einem 22-minü­tigen Statement seine Pro­gnose dar:

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„Der Krieg in der Ukraine ist die gefähr­lichste inter­na­tionale Krise seit der Kuba­krise im Jahr 1962“ (John J. Mears­heimer 2022)

„Es besteht kein Zweifel, dass Wla­dimir Putin der­jenige ist, der den Krieg begonnen hat und für seine weitere Führung ver­ant­wortlich ist. Aber warum er es getan hat, ist eine andere Sache. Die vor­herr­schende Ansicht im Westen ist, dass er ein wahn­sin­niger, irra­tional aggres­siver Führer ist, der ent­schlossen ist, ein grö­ßeres Russland nach dem Muster der ehe­ma­ligen Sowjet­union zu schaffen. Somit trägt nur er die volle Ver­ant­wortung für die Krise in der Ukraine. (…) Aber diese Ansicht ist falsch. Der Westen und ins­be­sondere Amerika ist maß­geblich für die Krise ver­ant­wortlich, die im Februar 2014 begann. Sie hat sich inzwi­schen zu einem Krieg ent­wi­ckelt, der nicht nur die Ukraine zu zer­stören droht, sondern sogar das Potenzial hat, zu einem Atom­krieg zwi­schen Russland und der Nato zu eska­lieren.“ (John J. Mears­heimer 2022)

„Meine Schluss­fol­gerung ist, dass wir uns in einer äußerst gefähr­lichen Situation befinden, wobei die west­liche Politik diese Gefahren ver­schärft. Für die rus­sische Führung hat das, was in der Ukraine pas­siert, nichts mit irgend­welchen ‚impe­rialen Ambi­tionen‘ zu tun. Es geht darum, das anzu­gehen, was sie als unmit­telbare Bedrohung für die Zukunft Russ­lands ansehen.“ (John J. Mears­heimer 2022)

„Im Wett­streit zwi­schen den Russen und uns werden die Russen gewinnen. Warum sage ich das? Bedenken wir: Wer besitzt die größere Ent­schlos­senheit? Wer macht sich die grö­ßeren Sorgen in dieser Situation? Russen oder Ame­ri­kaner? Die Ame­ri­kaner sorgen sich nicht so sehr um die Ukraine. Die Ame­ri­kaner haben klar gemacht, dass sie nicht einmal für die Ukrainer kämpfen und sterben wollen. So wichtig sind sie nicht für uns. Für die Russen – und das haben sie klar­ge­macht – ist es eine exis­ten­zielle Bedrohung. Die Balance der Ent­schlos­senheit, glaube ich, spricht für sie. Während wir weiter die Leiter der Eska­lation hin­auf­klettern, vermute ich, dass die Russen sich durch­setzen werden, nicht die Ame­ri­kaner. (…) Die Frage ist jetzt: Wer wird diesen Krieg ver­lieren? Ich denke, es macht für die Ame­ri­kaner nicht so viel aus, wenn sich die Russen in der Ukraine durch­setzen. Ich denke, die wahren Ver­lierer in diesem Krieg sind die Ukrainer.“

 „Wir haben einen Stock genommen und den Bär ins Auge gestochen, und wenn man das tut, wird der Bär wahr­scheinlich nicht lächeln. Er wird sich wahr­scheinlich wehren. Das pas­siert hier. Und dieser Bär wird die Ukraine in Fetzen reißen.“ (John J. Mears­heimer 2022)