Dieser Beitrag wurde am 25.10.2022 in Zürich als Vortrag gehalten auf der Buchvernissage des Liberalen Instituts. Präsentiert wurde das Buch “Wissenschaft und Politik: Zuverlässige oder unheilige Allianz?”. Der Titel des Vortrages lautete: “Mit welchen wissenschaftlichen Methoden zur Erkenntnis?” und entspricht der Kapitelüberschrift von Andreas Tiedtkes Beitrag im vorgestellten Buch.
Zu Beginn will ich aufzeigen, dass wir «die Wissenschaft» nach verschiedenen Methoden kategorisieren können. Es gibt die «erfahrungsunabhängigen Wissenschaften», die nicht empirisch getestet werden können – oder müssten –, mit Immanuel Kant (1724–1804) können wir sie die A‑priori-Wissenschaften nennen, weil sie «von vornherein» gültige Aussagen enthalten, also Tautologien. Zu diesen A‑priori-Wissenschaften zählt neben der Mathematik und der Logik auch die Praxeologie, also die Wissenschaft von der Logik des Handelns. Und auch die empirischen Wissenschaften können unterschieden werden, und zwar in die Naturwissenschaften und die wissenschaftliche Methode des «eigentümlichen Verstehens».
Die Frage nach den Erkenntnismethoden führt uns gleich mitten in die Praxeologie. Denn nach Erkenntnis zu streben, ist Handeln, Wissen ist ein Mittel für einen Handelnden, um ein Ziel zu erreichen. Die Erkenntnistheorie ist also selbst Teil der Praxeologie. Nicht-Handelnde haben keine Verwendung für Wissen.
… nach Erkenntnis zu streben, ist Handeln, Wissen ist ein Mittel für einen Handelnden, um ein Ziel zu erreichen. Die Erkenntnistheorie ist also selbst Teil der Praxeologie. Nicht-Handelnde haben keine Verwendung für Wissen.
Praxeologie – Schlussfolgerungen aus einer selbst-evidenten Tatsache
Die Praxeologie oder Logik des Handelns geht auf den österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises (1881- 1973) zurück. Dieser erkannte, dass sich die Ökonomie nicht sinnvoll mit dem methodologischen Instrumentarium der Naturwissenschaften beschreiben liess, also der Darstellung von konstanten Zusammenhängen zwischen – im weitesten Sinne – messbaren Grössen. Denn «messen» heisst, etwas mit einem objektiven, sprich unpersönlichen Standard zu vergleichen. In der Ökonomik hingegen – und überhaupt beim menschlichen Handeln – geht es um Wollen, um Vorlieben, also um subjektiven Nutzen. Und Nutzen lässt sich nicht messen im vorbenannten Sinne, weil es keinen objektiven Standard dafür gibt, sondern nur viele subjektive. Es gibt keinen «Ur-Nutzen», der irgendwo herumläge, wie etwa ein Ur-Kilogramm oder ein Ur-Meter.
… Nutzen lässt sich nicht messen im vorbenannten Sinne, weil es keinen objektiven Standard dafür gibt, sondern nur viele subjektive. Es gibt keinen «Ur-Nutzen», der irgendwo herumläge, wie etwa ein Ur-Kilogramm oder ein Ur-Meter.
Die Praxeologie befasst sich mit den Schlussfolgerungen aus der selbstevidenten Tatsache, dass der Mensch handelt, also Mittel einsetzt, um Ziele zu erreichen. Schlussfolgerungen aus der Praxeologie sind beispielsweise,
– dass Werturteile subjektiv sind,
– die Zukunft ungewiss ist,
– dass Recht erst durch Handeln entsteht und diesem nicht etwa vorausgesetzt ist,
– dass Recht und Macht zwei unterschiedliche Paar Stiefel sind oder
– dass sich aus dem Zählen von Wahlakten, also Abstimmungen, weder ein kollektiver Wille ergibt, noch führen Abstimmungen dazu, dass aus einer feindlichen Handlung eine friedliche würde.
Die Handelnden bedienen sich zweier Denkkategorien, der Kausalität und der Finalität. Bei der Kausalität geht es um Ursache und Wirkung, also um Wenn-dann-Beziehungen, bei der Finalität um Um-zu-Beziehungen, also Mittel und Zwecke. Dabei ist das letzte Ziel einer Handlung immer ein psychisches Phänomen: Der Handelnde bezweckt die Verminderung seiner Unzufriedenheit – er möchte zufriedener werden. Die Mittel, die er einsetzt, erhalten für ihn ihren Wert von dem Ziel her, das er damit verfolgt.
Die anderen A‑priori-Wissenschaften: Mathematik und Logik
Wie die Praxeologie sind auch die Mathematik und die Logik A‑priori-Wissenschaften, das heisst, sie sind mit Erfahrung nicht überprüfbar, sondern sind deduktiv, es geht also um schlussfolgern ausgehend von Axiomen, also Grundannahmen.
Ludwig von Mises sagte über das Charakteristikum apriorischen Wissens, dass die Negation dieses Wissens oder etwas, das im Widerspruch dazu stünde, nicht als wahr gedacht werden kann. Da jede Argumentation – dafür oder dagegen – die apriorischen Kategorien bereits voraussetzt, ist jeder Versuch sinnlos, diese zu beweisen oder zu widerlegen. Um behaupten zu können, es gebe kein apriorisches Wissen, muss die Kenntnis des apriorischen Wissens bereits vorausgesetzt werden.
… das Charakteristikum apriorischen Wissens [ist], dass die Negation dieses Wissens oder etwas, das im Widerspruch dazu stünde, nicht als wahr gedacht werden kann.
Die A‑posteriori-Wissenschaften (erfahrungsbasiert)
Die erfahrungsbasierten oder empirischen Wissenschaften können wiederum in zwei verschiedene Kategorien eingeteilt werden, die Naturwissenschaften und das Verstehen.
Naturwissenschaft und Technik
Bei den Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie, sofern nicht Verhaltensbiologie, etc.) geht es um konstante Zusammenhänge zwischen messbaren, also im weitesten Sinne sensorisch wahrnehmbaren Grössen. Dabei bedeutet messen das Vergleichen mit einem objektiven, sprich unpersönlichen Standard. Die Ergebnisse der Messungen sind unabhängig von der Person des Messenden. Ein Meter ist gleich lang, ein Kilo gleich schwer, Chlor bei Raumtemperatur gasförmig und die Wellenlänge von blauem Licht ist dieselbe, unabhängig davon, ob Paul oder Gerda die Messung vornehmen.
Für die Testbarkeit einer naturwissenschaftlichen Hypothese ist entscheidend, dass prinzipiell jedermann jederzeit die Tests wiederholen kann und dass sich die massgeblichen Ursachen für die konstanten Zusammenhänge isolieren lassen. Beides hängt zusammen, denn ohne Isolierung der massgeblichen Ursachen und Wirkungen, ergibt sich keine (annähernd) exakte Wiederholbarkeit.
Naturwissenschaften und Technik liefern kein absolut sicheres Wissen, aber die wissenschaftlichen und ingenieursmässigen Methoden von Naturwissenschaft und Technik geniessen bei den Menschen ein hohes Vertrauen – und das zu Recht. Sie haben viele für die Praxis, also das Handeln, zuverlässige Erkenntnisse hervorgebracht. Die mit den Methoden von Naturwissenschaft und Technik gewonnenen Erkenntnisse liefern insofern «sichereres» Wissen verglichen mit den «weicheren Methoden», der «Soft Science» des eigentümlichen Verstehens, auf das wir nun zu sprechen kommen.
Eigentümliches Verstehen und Mutmassen
Während es bei den Naturwissenschaften um objektiv testbare Zusammenhänge geht, kommt mit der wissenschaftlichen Methode des Verstehens ein subjektives Element ins Spiel, nämlich das eigentümliche (meint: persönliche oder subjektive) Relevanzurteil. Das Verstehen ist die klassische Methode der empirischen Geisteswissenschaften, der Sozial- und Geschichtswissenschaften.
Das Verstehen ist die klassische Methode der empirischen Geisteswissenschaften, der Sozial- und Geschichtswissenschaften.
Die wissenschaftliche Methode des eigentümlichen Verstehens beruht letztlich auf persönlichen Relevanzurteilen, zu Deutsch: Bedeutsamkeitsurteilen. Beispielsweise wie bedeutsam war der Vertrag von Versailles für die späteren Ereignisse in der Weimarer Republik. Oder wie bedeutsam war die Einführung eines Mindestlohnes für die Anhebung des Wohlstandes der Arbeiter.
Die wissenschaftliche Methode des eigentümlichen Verstehens beruht letztlich auf persönlichen Relevanzurteilen …
Anders als Werturteile sind Bedeutsamkeitsurteile nicht Ausdruck einer Vorliebe, sondern eine persönliche Einschätzung, wie relevant (bedeutsam) ein Ereignis A für ein Ereignis B ist.
Ludwig von Mises schrieb:
Die Entdeckung und Abgrenzung des Verstehens war eine der wichtigsten Beiträge der Erkenntnistheorie. […] Der Anwendungsbereich von Verstehen ist das geistige Begreifen von Phänomenen, die nicht vollkommen mit den Mitteln der Logik, der Mathematik, der Praxeologie und der Naturwissenschaften aufgeklärt werden können, insoweit sie von diesen Wissenschaften eben nicht erklärt werden können.
Annahmen, die mit der Methode des Verstehens getroffen werden, können anhand der objektiven, also unpersönlichen Methoden der anderen Wissenschaftszweige überprüft werden, also ob sie
– gegen Denkgesetze verstossen,
– mathematische Fehler enthalten oder
– im Widerspruch stehen zu naturwissenschaftlich Erkenntnissen.
Beispielsweise kann die Aussage, ein Mindestlohn habe allgemein den Wohlstand der Arbeitnehmer gehoben, widerlegt werden, denn aus der Praxeologie wissen wir, dass ein Mindestlohn unterhalb des Marktlohnes wirkungslos bleibt, ein Mindestlohn oberhalb des Marktlohnes unter sonst gleichen Umständen tendenziell zu Arbeitslosigkeit führt.
Sofern aber mit der Methode des Verstehens aufgestellte Thesen nicht gegen eine der vorgenannten «harten» Wissenschaften «verstossen», verbleibt ein persönliches Element, das nicht nach einem objektiven Standard testbar ist. Das ist genau der Grund, warum die Analysen der Historiker, der Soziologen oder der empirischen Volkswirte so weit auseinandergehen. Der geschichtliche Prozess ist unumkehrbar, fortschreitend und nicht wiederholbar. Es wirken viele Ursachen zusammen, die nicht isoliert werden können. Es ist ein komplexer Prozess mit Rückkoppelungen, was sogar so weit geht, dass die Äusserungen von Intellektuellen oder Volkswirten zu Verhaltensänderungen führen können, die es ohne diese Äusserungen gar nicht gegeben hätte.
Zudem sind uns im Bereich des Verstehens manchmal zwar einige Faktoren bekannt, die wir für bedeutsam für ein gewisses Ereignis halten, aber oft nicht alle. Und der Streit darüber, welches die relevanten Faktoren sind und wie relevant diese Faktoren sind, lässt sich nicht nach überpersönlichen Kriterien entscheiden, weil es viele verschiedene Ursachen gibt, diese nicht isolierbar sind und das Geschehen oder «die Krise» nicht wiederholbar sind.
Sofern Annahmen nicht die Analyse der Vergangenheit betreffen, sondern künftiges Geschehen, können wir anstatt von Verstehen von Mutmassen sprechen. Aufgrund beispielsweise wirtschaftsgeschichtlicher oder sozialgeschichtlicher Analysen werden Voraussagen oder Einschätzungen für die künftige Entwicklung gegeben. Da diese Einschätzungen auf Grund von Analysen vergangener komplexer nicht-wiederholbarer Geschehnisse getroffen werden, enthalten sie ebenso persönliche Bedeutsamkeitsurteile.
Im Übrigen spricht überhaupt nichts per se gegen die Methode des eigentümlichen Verstehens beziehungsweise Mutmassens. Viele wollen ihre Vergangenheit verstehen. Die Menschen mutmassen, wie sich Freund X verhalten wird, wenn man selbst y tut. Jeder Unternehmer mutmasst bei der Produktionsplanung, wie viele Waren seine Kunden nächstes Jahr abnehmen werden.
Es steht uns in solchen Fällen schlicht keine sicherere Methode zur Verfügung als die des eigentümlichen Verstehens beziehungsweise Mutmassens. Wir greifen zurück auf unsere Erfahrungen, treffen Einschätzungen, nutzen unsere Intuition und erstellen Modellrechnungen.
Und immer wieder liegen Laien wie auch Experten falsch, von Fussball-Experten über Hauptstromökonomen bis hin zu Unternehmern oder ganz normalen Menschen in ihrem Alltag. Verstehen ist die Methode, die jeder von uns anwendet, wenn er die Vergangenheit verstehen will oder Mutmassungen über die Zukunft anstellt.
Das «informierte» Verstehen und Mutmassen der Experten
Der Unterschied zwischen dem Verstehen und Mutmassen von Laien und Experten ist kein kategorischer, sondern ein gradueller. Der Unterschied ist, dass die Experten in ihrem jeweiligen Fachgebiet «informiertere» Mutmassungen anstellen können als der Laie, informierter insbesondere im Sinne von «weitestgehend von Widersprüchen befreit».
Aber auch das informierte Mutmassen der Experten, die in ihrem Metier über besonders viel Expertise und Renommee verfügen, führt keineswegs zu sichererem Wissen. Gerade Expertenmeinungen gehen oft diametral auseinander. Informiertes Mutmassen und Verstehen könnte man gegenüber den vorgenannten «harten Wissenschaften» deshalb auch als «Soft Science» bezeichnen, da mit dieser Methodik keine vergleichbare, überindividuelle Gewissheit zu erlangen ist.
… auch das informierte Mutmassen der Experten, die in ihrem Metier über besonders viel Expertise und Renommee verfügen, führt keineswegs zu sichererem Wissen.
Wissenschaften mit kombinierter Methodik
Heute ordnen die Leitmedien einige Wissenschaftszweige grobschlächtig den Naturwissenschaften zu, obwohl es sich um eine Kombination aus dem Verstehen der Geisteswissenschaften und der Methode der Naturwissenschaften handelt. Zu diesen Hybrid-Wissenschaften mit kombinierter Methodologie gehören beispielsweise die heutigen Klimawissenschaften, die Meteorologie und zum Teil auch die Biologie und die Psychologie, sofern sie sich mit Verhalten oder Handeln befassen, wie auch die Wissenschaften, die sich mit dem Verlauf von Krankheitswellen befassen.
Die informierten Mutmassungen der Klima-Experten
In der Klimawissenschaft gelten zum Beispiel einige Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge als gesichert, etwa wie sich in geschlossenen Systemen eine Erhöhung der CO2-Konzentration auf die Temperatur auswirkt. Die Erde ist jedoch kein vergleichbares geschlossenes System: Vielmehr gibt es weitere Einflussfaktoren auf die Temperatur, wie etwa die Wolkenbildung, Sonneneinstrahlung, Luft- und Meeresströmungen etc. Und diese reagieren wiederum untereinander. Zudem findet mit der Photosynthese ein «Gegenprozess» statt: Pflanzen verwenden CO2, um ihre Struktur aufzubauen. Darüber hinaus ist das Erdklima nicht wiederholbar. Es handelt sich also beim Erdklima um ein komplexes geschichtliches Phänomen mit Rückkoppelungen.
Wie bedeutsam der Faktor «menschliche CO2-Emmissionen» im Hinblick auf Temperatur und Meeresspiegel ist, lässt sich also nicht zweifelsfrei feststellen, weil Daten, die aus historischen, komplexen Phänomenen gewonnen werden, von vornherein nicht den Beweis für kausale Zusammenhänge erbringen können.
Und selbst wenn sich zwei Klimawissenschaftler im Hinblick auf die Datensätze völlig einig sind und wenn die Bedeutsamkeit, die sie gewissen Einflussfaktoren beimessen, weder naturgesetzlichen noch mathematischen oder logischen Erkenntnissen widersprechen, können sie dennoch zu unterschiedlichen Prognosen gelangen. Und ebenso kann ein und derselbe Klimawissenschaftler zu zwei verschiedenen Zeitpunkten zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen.
Die informierten Mutmassungen der Corona-Experten
Auch bei den Mutmassungen im Zusammenhang mit den staatlichen Zwangsmassnahmen im Hinblick auf die Krankheitswelle «Corona» (in den Jahren 2020 bis 2022) haben wir es mit informierten eigentümlichen Mutmassungen zu tun. Auch hier kamen verschiedene Experten zu verschiedenen Mutmassungen im Hinblick auf Ansteckung, Gefährlichkeit und welche Massnahmen zu ergreifen wären. Und auch bei einer Krankheitswelle fehlt es an der Wiederholbarkeit und der Isolierbarkeit der Zusammenhänge zwischen Grössen. Es handelt sich bei einer Pandemie daher ebenfalls um ein komplexes geschichtliches Phänomen mit Rückkoppelungen.
Deshalb kann selbst im Nachhinein nicht gesagt werden, wer Recht hatte. Denn welche Faktoren sich wie ausgewirkt haben, hängt eben von persönlichen Bedeutsamkeitsurteilen ab. Man kann eine Pandemie nicht unter den gleichen Bedingungen wiederholen, die Zusammenhänge sind komplex, also nicht isolierbar und rückgekoppelt.
Überbevölkerung
Ein weiteres populäres Narrativ ist das von der Überbevölkerung. Hier bringen Experten vor, dass es zu viele Menschen auf dem Planeten gäbe. Dabei handelt es sich um ein persönliches Bedeutsamkeitsurteil, wenn einer etwa meint, «zu viel» im Hinblick auf das, was die Erde ressourcenmässig verkraften kann. Und wenn einer meint, weniger wären besser aus seiner Sicht, etwa weil dann die Natur unberührter wäre, dann handelt es sich um ein subjektives Werturteil.
Grenzen des Wachstums
Auch das Narrativ der «Grenzen des Wachstums» ist ein beliebtes, um politisches Handeln zu begründen. Dabei ist Wohlstand von vornherein nicht messbar, weil er ein psychisches Phänomen ist. Was aber keine Grösse der Aussenwelt ist, kann in der Aussenwelt auch an keine physische Grenze stossen.
Wie sicher oder objektiv ist das mit welcher Methode gewonnene Wissen?
Das Verständnis – oder die Einschätzungen – die mit den Methoden des Verstehens und Mutmassens oder kombinierten Methoden erlangt werden können, sind gegenüber den Erkenntnissen, die wir mit den apriorischen Wissenschaften und den Naturwissenschaften erlangen können, weniger sicher und auch nicht objektiv.
Bei den klassischen Naturwissenschaften haben wir objektive Standards, die für jedermann zu jeder Zeit gleich sind, wie etwa Kilogramm, gasförmig, rot, Apfel und so weiter. Es hängt nicht von persönlichen Bedeutsamkeitsurteilen ab, wie ein Experiment verläuft oder wie eine technische Anwendung funktioniert.
Die Logik selbst ist für jedermann gleich. Die Axiome mögen angezweifelt werden, aber sobald man die Axiome als gültig anerkennt, sind die Schlussfolgerungen zwingend – oder eben nicht. Die A‑priori-Wissenschaften liefern also sicheres Wissen in diesem Sinne.
Im tatsächlichen Verlauf der Ereignisse bei komplexen Phänomenen mit Rückkoppelungen, wie etwa der Erdgeschichte, der Klimageschichte oder der Menschheitsgeschichte, reichen uns die apriorischen Wissenschaften und die Naturwissenschaften jedoch nicht aus, um zu verstehen, was passiert ist, oder abzuschätzen, was passieren wird. Hier kommen das Verstehen und Mutmassen zum Einsatz als Erkenntnismittel sowie kombinierte Methoden mit anderen Wissenschaften. Und hier liegt vergleichbar unsicheres Wissen vor, weil konstante, isolierbare Zusammenhänge nicht bekannt sind und die Bedeutsamkeitsurteile persönliche Einschätzungen sind.
… hier liegt vergleichbar unsicheres Wissen vor, weil konstante, isolierbare Zusammenhänge nicht bekannt sind und die Bedeutsamkeitsurteile persönliche Einschätzungen sind.
Das mit den Methoden des Verstehens und Mutmassens gewonnene «Wissen» kann also von vornherein nicht als objektiv «wahr» oder «falsch» erwiesen werden, weil diesen Methoden zu eigen ist, dass sie persönliche Bedeutsamkeitsurteile enthalten, die eben nicht objektiv testbar sind. Es ist deshalb kein Wunder, dass sich die Hypothesen der Experten widersprechen, die diese Methoden verwenden, sondern es liegt in der Natur der Sache, ist in der Methodik selbst begründet.
Was bedeutet Unsicherheit in Bezug auf die Beweislast für die Begründung von Zwang?
Bei den Narrativen betreffend etwa Klimaveränderungen oder Krankheitswellen begründen die Politiker ihre angestrebten Zwangsmassnahmen nicht alleine mit Macht oder politischen Mehrheiten, sondern sie versuchen, den Einsatz von Zwang «wissenschaftlich» zu «begründen»; Massnahmen wie etwa Energiesteuern, Produktverbote (Glühbirnen, Haushaltsstaubsauger mit hoher Leistung), Maskenzwang, Impfzwang und so weiter.
Ich sage bewusst «begründen» und nicht «rechtfertigen», weil Recht dem Handeln nicht vorausgesetzt ist. Vielmehr wird Recht erst durch normative Interaktion, also Vereinbarungen, begründet. Im Gegensatz zu einem Maskenzwang würde eine Maskenpflicht bedeuten, dass sich jemand freiwillig, also ungezwungen, zum Tragen einer Maske verpflichtet.
Mit begründen meine ich, dass sie für den Zwang, also das Androhen und letztlich Liefern von Übeln wie Zwangsgeld, Zwangshaft und Gewalt, eine Begründung suchen, die nicht alleine darin besteht, dass sie nun einmal die Macht dazu haben. Sie versuchen, den Gezwungenen nachzuweisen, dass diese selbst potenzielle Schädiger sind und dass sie, die Politiker, den Zwang einsetzen, um die Bedrohten selbst und deren Mitmenschen vor Gefahren zu schützen.
Im Justizwesen erkannte man über die Jahrhunderte, dass Zwang selbst das Zufügen eines Übels ist. Wenn also jemand behauptet, dass er den Zwang nur einsetzt, um Gefahren abzuwenden oder Schaden zu vergelten, dann muss er dies beweisen können. Ansonsten würde man ja mit Sicherheit Schaden zufügen, um eine womöglich gar nicht drohende Gefahr abzuwenden oder eine nicht geschehene Tat zu vergelten.
Prinzipien friedlichen Handelns – in dubio pro reo und primum non nocere
Die Juristen entwickelten daher für den Strafprozess Prinzipien, die denklogisch notwendig sind, wenn man verhindern möchte, dass man selbst initiierender Schädiger wird. Etwa der Grundsatz in dubio pro reo, also im Zweifel für den Angeklagten. Denn wenn eine feindliche Handlung nicht mit «an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit» nachgewiesen werden kann, dann handelt es sich beim Einsatz von Zwang eben nicht um Vergeltung, sondern selbst um einen Angriff.
Eine andere Formulierung für «mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit» der Justiz ist, dass «keine vernünftigen Zweifel mehr verbleiben dürfen». In einem weiten Sinne kann man in dubio pro reo auch verstehen als «im Zweifel füge kein Leid zu». Es handelt sich um ein apriorisches Prinzip friedlichen Zusammenlebens, wie auch der bekannte Satz primum, non nocere!, also «zuallererst füge kein Leid zu».
Heute argumentieren manche Politiker für den Einsatz von Zwang mit «wissenschaftlichen Begründungen», die a priori nicht Beweis für das Behauptete erbringen können. Wie wir gesehen haben, liefert die Methode des informierten Mutmassens im Hinblick auf komplexe historische Phänomene von vornherein kein sicheres Wissen. Beim Strafprozess geht es um einen abgeschlossenen Sachverhalt in der Vergangenheit, bei den Mutmassungen der Experten zu Krankheitswellen oder Klimaveränderungen geht es um lange Zeitspannen, oft Jahre oder Jahrzehnte, sodass eine evidenzbasierte Überprüfung hier und heute gar nicht möglich ist. Zudem werden abweichende Expertenmeinungen oder die Experten, die sie äussern, „gecancelt“ oder verächtlich gemacht. Eine Diskussion wird unterbunden. Das «The-science-is-settled-Argument» der Politiker und der für sie tätigen Experten steht im Widerspruch zu dem, was wir a priori über die Methode des informierten Mutmassens aussagen können.
Heute argumentieren manche Politiker für den Einsatz Zwang mit «wissenschaftlichen Begründungen», die a priori nicht Beweis für das Behauptete erbringen können.
Zwangsmassnahmen nach dem Prinzip «Better-safe-than-sorry»
Das heute von den politischen Unternehmern propagierte «Better-safe-than-sorry-Prinzip» ist eine Umkehrung, eine Verdrehung der Prinzipien friedlichen Zusammenlebens primum non nocere und in dubio pro reo ins Gegenteil. Wenn jedermann, jederzeit beweisen können müsste, dass er kein Gefährder oder Schädiger ist, da ansonsten Zwangsmassnahmen gegen ihn eingesetzt werden, dann sind der Anwendung von Zwang und dem Zufügen von Übeln keine Grenzen gesetzt.
Und wir reden hier nicht über Kleinigkeiten. Die angeführten Zwangsmassnahmen führen dazu, dass Menschen ärmer werden, sich schlechter mit Lebensmitteln oder medizinisch versorgen können, sie ihre Familienplanung ändern müssen, sie schlechter Luft bekommen, medizinische Behandlungen aufschieben und so weiter. Betrachtet man eine grosse Anzahl von Menschen, bringen solche Zwangsmassnahmen Not, Elend und Tod. Und niemand ist in einer Position, den Nutzen, den solche Zwangsmassnahmen vorgeblich stiften, gegen das Leid «abzuwägen», das sie erzeugen, weil Nutzen und Leid eben subjektive Phänomene sind, die nicht mit einem unpersönlichen Standard verglichen werden können.
Wenden Menschen Zwang gemäss dem «Better-safe-than-sorry-Prinzip» gegen ihre Mitmenschen an, hat das zur Folge, dass es zu unzähligen aggressiven Handlungen gegen friedliche Menschen kommen muss, weil die Misshandelten mit den Methoden des eigentümlichen Verstehens und Mutmassens von vornherein ihre «Unschuld» genauso wenig beweisen können, wie die Aggressoren nicht in der Lage sind, eine künftige Schädigung zu beweisen.
Eine Gesellschaft, in der die Machthaber gemäss dem gedanklichen Konzept des «Better-safe-than-sorry-Prinzips» Zwangsmassnahmen gegen Menschen durchsetzen, ist keine friedliche oder freundlich kooperierende Gesellschaft, sondern es ist ein Gewalterlebnispark, in dem Chaos und Unfriede herrschen. Die Menschen versuchen desto mehr, dem Zwang auszuweichen, je schädlicher sie die Forderungen der Politiker bewerten. Je höher das Grenzleid, dass durch die Massnahme erzeugt wird, desto mehr ist der Betroffene bereit aufzugeben, um ihm zu entkommen. Jeder entscheidet dann selbst, «welcher Hügel es wert ist, auf ihm zu sterben». Um Umgehungen und Verstösse zu verhindern, müssen die Politiker ein dichtes Netz an Überwachungen schaffen, die Strafen müssen hart sein und es müssen Exempel statuiert werden. Wächst der Unmut gegen die Politiker, müssen Versammlungen verboten und Dissidenten abgestraft werden, um die Organisation von Widerstand zu verhindern.
Eine Gesellschaft, in der die Machthaber gemäss dem gedanklichen Konzept des «Better-safe-than-sorry-Prinzips» Zwangsmassnahmen gegen Menschen durchsetzen, ist keine friedliche oder freundlich kooperierende Gesellschaft, sondern es ist ein Gewalterlebnispark, in dem Chaos und Unfriede herrschen.
Schlussendlich führen das «Better-safe-than-sorry-Prinzip» und die Erhebung der Methode des informierten Mutmassens in den Rang «gesicherten Wissens» in den Totalitarismus, wie wir ihn aus dem 20. Jahrhundert kennen. Der Alltag wird nicht von freundlicher Kooperation bestimmt, sondern von Propaganda, Kommando und letztlich Zwang und Gewalt.
Dr. Andreas Tiedtke ist Rechtsanwalt, Unternehmer und Autor. Er publizierte bereits zahlreiche Artikel zur Österreichischen Schule der Nationalökonomie und deren wissenschaftlicher Methode, der Praxeologie (Handlungslogik). Im Mai 2021 erschien sein Buch über die Logik des Handelns „Der Kompass zum lebendigen Leben“. Im Jahr 2022 wirkte er an dem Buch “Wissenschaft und Politik: Zuverlässige oder unheilige Allianz” (Herausgeber: Olivier Kessler, Peter Ruch) mit, zu dem er im 1. Kapitel den 1. Abschnitt beitrug: “Mit welchen wissenschaftlichen Methoden zu welcher Erkenntnis?”.
Quelle: misesde.org
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.