Blutbann — Kann die Menschheit ihm entrinnen?

Giulia stand kalter Schweiß auf der Stirn. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Todes­angst. Sie hätte sich ohr­feigen können. Wie konnte sie nur auf die Idee kommen, ihre Ver­folger abschütteln zu können, indem sie ihren MINI Cooper raus aus der Stadt lenkte? Im Gewühl des Fei­er­abend­ver­kehrs hätte sie doch alle Chancen gehabt, dass ihr jemand zu Hilfe käme, wenn es brenzlig werden würde. Jetzt war es aber zu spät. Es nutzte nichts, sich Vor­würfe zu machen. Es ging ums nackte Überleben!

Immer wieder starrte sie in den Rück­spiegel. Aber der Abstand zu dem mys­te­riösen Sanka-Kleinbus wurde nicht größer. Wie konnte das sein: Ihr MINI hatte fast 180 PS bei nur 1300 kg Gewicht und sie war nicht im Stand dieses Ungetüm, das min­destens drei Tonnen wiegen musste, abzuhängen?

Giulias Puls raste. Sie hatte den Gerüchten in der Com­munity der mitt­ler­weile nur noch wenigen ‚Unge­spritzten‘ bisher keinen Glauben geschenkt. Aber sie kannte sie nur zu gut. Schließlich hatte sie sich seit Aus­bruch der ‚Pan­demie‘ unzählige Stunden mit den Argu­menten der ‚Schwurbler‘ und ‚Erzähler von Ver­schwö­rungen‘ beschäftigt. Immer mehr dieser ‚Ver­schwö­rungen‘ stellten sich kurze Zeit später als Fakt heraus. Immer mehr nahmen die poli­ti­schen und medialen Ver­laut­ba­rungen Züge eines reli­giösen Dogmas an. Ja, und heute war sie auch einer dieser unso­li­da­ri­schen ‚Volks­schäd­linge‘.

Diese drei Typen mussten sie am Mit­ar­bei­ter­park­platz abge­passt haben. Sie waren ihr sofort auf­ge­fallen, wie sie wild ges­ti­ku­lierend ihre Ziga­retten weg­schnippten und hastig in den Not­arzt­wagen sprangen. Ihr fremd­län­di­sches Aus­sehen passte irgendwie so gar nicht zu einer Sanka-Besatzung. Doch jetzt saßen sie ihr im Nacken. All ihre schlimmsten Befürch­tungen schienen wahr zu werden. Und es war keine abs­trakte Gefahr von Gerüchten und Mut­ma­ßungen. Nein! Sie war mit­tendrin. Sie war das Opfer. Und sie ahnte, was sie wollten:

ihr Blut!

Aber woher wussten die, dass sie ‚unge­impft‘ ist? Es gab im Institut nur einen Kol­legen, der ihr Geheimnis kannte: Rolf! Er hatte ihr gleich zu Anfang der Immu­ni­sie­rungs­kam­pagne einen was­ser­dichten Impf­ausweis besorgt. Doch jetzt war keine Zeit, sich den Kopf darüber zu zer­brechen. Sie musste ihre Ver­folger irgendwie abschütteln.

Zum Glück kannte sie sich hier perfekt aus. Schließlich war sie schon unzählige Male nach der Arbeit zum Haus ihrer Eltern gefahren. Von ihrem bio­me­di­zi­ni­schen Institut in Mar­tinsried, einem Vorort im Süd­westen Mün­chens nach Die­t­ramszell, waren es circa 40 Kilo­meter. Was für eine blöde Idee! Sollte sie denn die alten Leute da auch noch mit hin­ein­ziehen? Wahr­scheinlich folgte sie trotz ihrer acht­und­dreißig Jahre einfach nur einem klein­kind­lichen Schutz­in­stinkt: Heim zu Mama und Papa.

Ver­dammt noch mal, was ist nur mit dem Smart­phone los? Sooft sie es auch pro­bierte, immer nur: kein Empfang! Hatten die viel­leicht einen Stör­sender akti­viert? Wieder kroch die pure Angst in ihr hoch. Auf einer etwas län­geren geraden Strecke setzte der Wagen ihrer Ver­folger doch tat­sächlich zum Über­holen an. Er musste wohl Rake­ten­an­trieb haben. Geis­tes­ge­gen­wärtig zog sie auf die Gegen­fahrbahn. Bremsen quietschten. Wie in einem Hams­terrad drehten sich Giulias Gedanken auf der Suche nach einem Ausweg im Kreis. Die Sonne stand tief im Westen. Bald würde es dunkel sein.

Die Straße wurde jetzt abschüssig. Hinter der nächsten Biegung kam die Abzweigung, wo der Weg durch den Wald hin­unter zu dem Weiher führte, zu dem sie als Kinder immer mit dem Rad zum Baden fuhren. Das war die Chance!

Giulia machte eine Voll­bremsung und bog in den Forstweg ein. Ihre Ver­folger bemerkten es einige Sekunden zu spät und fuhren vorbei. Im Rück­spiegel sah sie jedoch, dass sie wen­deten. Aber sie hatte wert­volle Zeit gewonnen.

Längst hatte die Däm­merung ein­ge­setzt, aber sie traute sich nicht, die Schein­werfer ein­zu­schalten. Ein paar Hundert Meter, bevor sie den Weiher erreichte, kam die Stelle, an der der Weg ein Rinnsal über­querte und nur über ein paar alters­schwache Holz­bohlen führte. Sie hatte nicht Zeit, nach­zu­denken, doch ihr MINI meis­terte die Situation gefahrlos.

Als sie am Gewässer ankam, war der Weg zu Ende. Giulia lenkte den Wagen abseits, in eine Ansammlung wilder Brom­beer­sträucher und stieg mit klop­fendem Herzen aus. Kurz darauf hörte sie den Wagen ihrer Ver­folger näher­kommen. Dann – ein lautes Krachen und ein wildes Auf­heulen des Motors. Sie steckten fest!

Soweit es ihre Angst in dieser Situation zuließ, kam fast so etwas wie Scha­den­freude in ihr auf. Doch kaum hatte sie neuen Mut und etwas Hoffnung geschöpft, hörte sie Hun­de­gebell näher­kommen. In wilder Panik stol­perte sie am Ufer entlang durch das Unterholz. Inzwi­schen war es dunkel geworden. Das Bellen kam uner­bittlich näher. Starr vor Angst und Ver­zweiflung kauerte sie wie ein waid­wundes Reh am Boden. – Da geschah es:

Ein glei­ßender Licht­schein, aus­gehend von einem Objekt, das circa fünfzig Meter über dem Weiher zu schweben schien, tauchte die Sze­nerie in gespens­tische Sur­rea­lität. Die beiden Hunde waren jetzt bis auf wenige Meter her­an­ge­kommen und setzten an, ihre Beute zu stellen. In diesem Moment rollten lautlos fünf Licht­wirbel über die Was­ser­ober­fläche. ‘Kugel­blitze?‘, schoss es Giulia durch den Kopf. Zuerst wurden die Hunde unter lautem Winseln nie­der­ge­streckt. Kurz darauf ver­stummten in einiger Ent­fernung auch die in ost­eu­ro­päi­schen Dia­lekten aus­ge­sto­ßenen Flüche ihrer Verfolger.

Giulia glaubte sich in einem Alb­traum gefangen. Das letzte, was sie empfand, bevor sie ohn­mächtig wurde, war das Gefühl, von einer unsicht­baren Kraft sanft empor­ge­hoben zu werden. Dann schwanden ihr die Sinne. …

So beginnt der neue Roman von Bernd Huber.

 

Nach dem Erfolgs­roman BRAINBOW hat der Autor Bernd Huber mit BLUTBANN noch mal eine Schippe drauf­gelegt. Ich nenne ihn mitt­ler­weile den Erfinder des

‚ESO­TE­RI­SCHEN SCIENCE-FICTION-ROMANS‘.

Reiner Feistle, All­stern Verlag