Der »deutsche Sonderweg«

Was ist mit den Deut­schen los? Seit Jahr­hun­derten zer­fallen sie wie­derholt in ver­schiedene poli­tische oder reli­giöse Lager und bekämpfen sich gegen­seitig, wenn nötig, bis aufs Blut. Heute mag das große his­to­rische Trauma der Nazi-Zeit nach­wirken, denn diese Epoche wirkt wie ein gol­dener Stern, der sich in ein Grab ver­wandelt und alles Licht und Positive in seiner Dun­kelheit begräbt. Das ver­stellt den Blick darauf, dass es noch eine andere Geschichte gibt, eine, die in den Schulen kaum mehr gelehrt wird.

Jede poli­tische Kultur braucht eine Vor­ge­schichte, die sie stützt und legi­ti­miert, damit die eigene Gesell­schaft sie ver­stehen kann. Und zur posi­tiven Iden­ti­fi­kation mit der eigenen Kultur gehört mehr als die ständige Ver­meidung des Bösen, selbst wenn der Zweite Welt­krieg wirklich mehr als schrecklich war. Aber die alleinige Fixierung darauf macht neu­ro­tisch, iso­liert und ver­längert den »deut­schen Son­derweg«, den es übrigens in der neueren Geschichte schon lange gibt, und es stellt sich die Frage nach dem Warum.

Die deutsche Geschichte ist letztlich eine leid­volle und wech­sel­hafte Erzählung. Einige Men­schen in Deutschland wähnen sich in einem Krypto Casino, im wahrsten Sinne des Wortes von „kryp­tisch“ … und das ist es auch. Was treibt die Deut­schen immer wieder in die Extreme? Diese Frage muss zwingend dau­erhaft beant­wortet werden.

Die Guten und die Schlechten

Her­vor­ragend ließ sich das in der Coro­nazeit beob­achten. Es gab nur „richtig“ und „falsch“. Die Guten und die Schlechten. Das aber war in der DDR nicht anders, und dieses Prinzip galt auch im Dritten Reich. Die „Adolf-Treuen” und die Bösen, die man als guter Nachbar gerne denun­ziert. Dieses Prinzip funk­tio­niert tat­sächlich so richtg gut und seit so langer Zeit in Deutschland.

Scheinbar gibt es ein deut­sches Gen, welches Men­schen in kür­zester Zeit zu Höchst­leis­tungen befähigt, gleich­zeitig aber eine gewisse Nai­vität auf­kommen lässt, die dafür sorgt, dass die Men­schen sich immer in zwei oder mehr Rich­tungen divi­dieren lassen.

Dass ver­schiedene Völker ver­schiedene Gene in sich tragen, ist poli­tisch unkorrekt. Alle Men­schen seien gleich, heißt es inzwi­schen, ent­gegen aller objektiv wahr­nehm­baren Dif­fe­renzen. Aber niemand glaubt das wirklich, was auch schwierig erscheint, wenn man auf der anderen Seite seine eigene Fami­li­en­her­kunft anhand von Genomen im Internet bestellen kann und die Abstammung bis auf die Popu­lation genau nach­voll­ziehbar ist. Wenn das möglich ist, warum sollten die Mäch­tigsten der Welt diese deutsche Schwäche nicht bedienen und ein Volk mani­pu­lieren? Diese These ist natürlich nur eine Spekulation.

Es gab in der neueren deut­schen Geschichte nur einen kurzen Moment, in der Spaltung und Miss­trauen über­wunden wurde, und die auch zu einer der erfolg­reichsten Epoche Deutsch­lands zählt, auch wenn inzwi­schen ungern darüber gesprochen wird.

Ein kurzer Rückblick:

Der Drei­ßig­jährige Krieg in Deutschland (1618–48) war eine der schweren Kata­strophen des Landes. In einigen Gegenden wurden durch den Krieg zwei Drittel der Bevöl­kerung aus­ge­löscht. Am Ende lag das Land see­lisch schwer trau­ma­ti­siert in Trümmern. Er wurde um zwei Prin­zipien gekämpft: um die Dominanz der katho­li­schen oder evan­ge­li­schen Kon­fession, und um die Vor­herr­schaft des Kaisers im Reich oder um die Unab­hän­gigkeit der Fürsten.

Er endete mit der Unab­hän­gigkeit der Fürsten. Das Ergebnis war: Klein­staa­terei. Was noch vor 1.000 Jahren keine Rolle gespielt hätte, konnte dem Anspruch an die kom­mende indus­trielle Revo­lution nicht stand­halten. Denn jeder Klein­fürst konnte nun bestimmen, welcher Glaube und welche Rechte in seinem Klein­staat galten. Davon gab es mehr als 300. Kon­fes­sionell wirkte Deutschland ab dato wie ein Fli­cken­teppich: Das wirkt bis heute, wie man an den Wahlen erkennt. Evan­ge­lisch wählt eher SPD, katho­lisch CDU. Nach dem Ende des Krieges bedeutete eine Ehe zwi­schen den zwei Glau­bens­rich­tungen das Ende der jewei­ligen Familienzugehörigkeit.

Das kol­lektive Gedächtnis

Schwerer wog aller­dings: Das kol­lektive Gedächtnis hat diesen Krieg, dieses fürch­ter­liche Schlachtfest, nicht ver­ar­beiten können. Im Wettlauf der Nationen war Deutschland aus­ge­schieden, die Men­schen mit Leid, Elend und Trauma beschäftigt. Frank­reich und England zogen wirt­schaftlich an Deutschland vorbei. Erst über zwei­hundert Jahre später begann das Land sich auf sein „Können“ zu besinnen, war aller­dings in zwei Blöcke zer­fallen: Preußen und Öster­reich mit dem heu­tigen Süd­deutschland in der Mitte. Und dann pas­sierte das, was – so scheint es rück­wirkend aus Sicht einiger – nie hätte pas­sieren dürfen.

Eine neue Zeit

Otto von Bis­marck stand 1871 als Reichs­kanzler auf dem Schach­brett und schaffte für einen Wim­pern­schlag der Geschichte das fast Unmög­liche. Er ver­einte die deutsche Nation. Er unter­drückte poli­tische Gegner, warnte sie scharf vor Ein­mi­schungen in die deutsche Politik und führte die modernsten Sozi­al­ge­setze aller Zeiten ein.

Ein­dringlich mahnte er immer wieder, auch noch kurz vor seinem Tod: „Deutschland muss eine mili­tä­rische Aus­ein­an­der­setzung mit Russland unter allen Umständen ver­meiden.“ Bis heute ist er eine der umstrit­tensten Figuren der deut­schen Geschichte, da er als Minister von Preußen drei Kriege führte – als Kanzler aber den Frieden for­derte. Nicht wenige würden seinen Namen und seine Denk­mäler gerne kom­plett aus der Geschichte tilgen.

1871 bis 1914

Man muss kein Freund oder Anhänger dieser Zeit sein, aber die reinen Sta­tis­tiken belegen, kaum jemals ging es Deutschland besser. Ab 1871 nahmen Industrie und Wirt­schaft einen rasanten Auf­schwung: Deutschland ent­wi­ckelte sich im letzten Drittel des 19. Jahr­hun­derts von einem über­wie­genden Agrar­staat zu einem indus­triell und groß­städ­tisch geprägten Land. Zwi­schen 1871 und 1914 ver­sechs­fachte sich Deutsch­lands indus­trielle Pro­duktion, die Aus­fuhren ver­vier­fachten sich.

Der Auf­stieg Deutsch­lands vollzog sich in einer Schnel­ligkeit, die vielen Nach­bar­staaten große Sorgen bereitete. Deutschland zog an allen Indus­trie­staaten der Welt vorbei, auch an England – was nicht nur Wut und Empörung aus­löste, sondern puren Hass. Die Städte blühten auf und ent­wi­ckelten moderne Industrie, unge­wöhn­liche Archi­tektur, groß­artige Brücken, mit nie dage­we­senen Ideen. Die Schwe­bebahn in Wup­pertal zeugt von dieser auf­stre­benden Nation.

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Der Erste Weltkrieg

Der Erste Welt­krieg legte Deutschland erneut in Trümmer. Nach dem Krieg und den Ver­trägen von Ver­sailles war Deutschland außen­po­li­tisch weit­gehend iso­liert. Lange Zeit galt, dass das deutsche Kai­ser­reich wegen seiner Groß­macht­träume die Haupt­ver­ant­wortung am Aus­bruch des Ersten Welt­kriegs trug. In seinem bahn­bre­chenden Werk kommt der renom­mierte His­to­riker und Best­sel­ler­autor Chris­topher Clark zu einer völlig anderen Ein­schätzung. Clark beschreibt in die „Schlaf­wandler“ minutiös die Inter­essen und Moti­va­tionen ein­zelner Länder.

Das 2012 erschienene Buch ändert nichts mehr an der dama­ligen Situation. Die alleinige Kriegs­schuld trug das Kai­ser­reich, es hatte rund ein Siebtel seiner Gebiete ver­loren, musste hohe Repa­ra­ti­ons­zah­lungen leisten, die das Wirt­schaften unmöglich machte und damit war die nächste Kata­strophe bereits vorprogrammiert.

Seit dieser 1871 hat es in Deutschland – bis auf kurze Moment bei einer Fußball-WM – keine tat­sächlich geeinte Nation mehr gegeben. Also: Alles so wie immer.