Die Eheschließung zwischen Cousin und Cousine bzw. die Cousinenheirat ist eine Form der Verwandtenheirat, d.h. der Heirat zwischen Blutsverwandten. Zur Verwandtenheirat gehören Heiraten zwischen Geschwistern ebenso wie Heiraten zwischen Onkeln und Nichten oder Tanten und Neffen und Heiraten zwischen Cousins und Cousinen. Während Erstere heute als inzenstuös gelten und generell verboten sind, sind Heiraten zwischen Onkeln und Nichten oder Tanten und Neffen und Cousins und Cousinen in vielen Ländern legal, so auch in Deutschland:
„Eine Ehe darf nicht geschlossen werden, wenn … eine der betroffenen Personen verheiratet ist oder mit einer anderen Person als dem künftigen Ehegatten in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebt … [oder] die betroffenen Personen in gerader Linie miteinander verwandt sind (z.B. Mutter und Sohn) oder wenn sie (Halb-)Geschwister sind“ (Bundesministerium der Justiz 2024: 11).
Wie häufig Eheschließungen zwischen zwischen Onkeln und Nichten oder Tanten und Neffen und Cousins und Cousinen sind, ist unbekannt, weil keine entsprechenden Daten gesammelt bzw. Statistiken verfügbar sind.
In der Moderne sind solche Ehen in Deutschland (und vielen anderen westlichen Ländern) jedoch sozial mehr oder weniger geächtet gewesen und dürften vergleichsweise selten gewesen sein. Es steht zu vermuten, dass viele Deutsche gar nicht wissen, ob bzw. dass die Schließung solcher Ehen in Deutschland erlaubt ist, weil sie ohnehin nicht in Betracht gezogen wird.
So gesehen sind Verwandtenheiraten bzw. –ehen in Deutschland eher kein Thema. Mit der Masseneinwanderung von Menschen von außerhalb der westlichen Welt in Länder der westlichen Welt hat sich diese Situation in den westlichen Ländern verändert. In vielen nicht-westlichen Ländern sind Eheschließungen zwischen Onkeln und Nichten oder – seltener – Tanten und Neffen, aber vor allem Eheschließungen zwischen Cousins und Cousinen nämlich nicht nur erlaubt, sondern sind eine häufige oder sogar die bevorzugte Form der Eheschließung:
„Currently, around 20% of the global population resides in areas where such marriages are preferred … The prevalence of consanguineous unions varies across different societies, influenced by factors like religion, culture, and geographical location. In Western and European nations, the occurrence of CM [consanguineous marriages] is less than 0.5%, while in India, the prevalence stands at 9.9% … On the other hand, consanguinity is particularly prevalent in many Arab nations, with rates ranging from 20 to 50% of all marriages. In these regions, first-cousin marriages are especially common, averaging around 20–30% …“ (Khayat et al. 2024: 1 of 12).
D.h.
„Derzeit leben rund 20% der Weltbevölkerung in Gebieten, in denen solche Ehen bevorzugt werden … Die Prävalenz konsanguiner Ehen [d.h. hier: Ehen zwischen Cousins und Cousinen ersten oder zweiten Grades] variiert in den verschiedenen Gesellschaften unter dem Einfluss von Faktoren wie Religion, Kultur und geographischer Lage. In westlichen und europäischen Ländern liegt das Auftreten von CM [konsanguinen Ehen] bei weniger als 0,5%, während in Indien die Prävalenz bei 9,9% liegt … Andererseits ist die Blutsverwandtschaft in vielen arabischen Ländern mit Raten zwischen 20 und 50% aller Ehen besonders verbreitet. In diesen Regionen sind Ehen mit Cousins ersten Grades mit durchschnittlich 20–30% besonders häufig …“ (Khayat et al. 2024: 1 von 12).
Wenn die Ehen von Menschen aus solchen Ländern in einem westlichen Ziel-/Aufnahmeland unterschiedslos anerkannt werden bzw. Cousinenheirat in einem westlichen Ziel-/Aufnahmeland nicht generell verboten ist, dann ist damit zu rechnen, dass Cousinenheiraten in westlichen Ziel-/Aufnahmeländern zu einem deutlich häufigeren Phänomen werden als sie es dort bislang waren – weil Migranten bestehende Cousinenheiraten importieren oder im Ziel-/Aufnahmeland aufgrund mitgebrachter sozio-kultureller Traditionen neue Cousinenheiraten schließen werden.
Eheschließungen zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades finden statt, wenn jemand das Kind einer Schwester oder eines Bruders des Vaters oder der Mutter heiratet oder anders gesagt: wenn jemand das Kind einer eigenen Tante oder eines eigenen Onkels heiratet. Es sind also grundsätzlich vier Varianten von Cousinenheiraten ersten Grades möglich:
(1) „Ich“ heirate das Kind des Bruders meines Vaters (meine/n Parallel-Cousin(-/e) väterlicherseits);
(2) „Ich“ heirate das Kind der Schwester meines Vaters (meine/n Kreuz-Cousin(-/e) väterlicherweits);
(3) „Ich“ (ego) heirate das Kind der Schwester meiner Mutter (meine/n Parallel-Cousin(-/e) mütterlicherseits);
(4) „Ich“ heirate das Kind des Bruders meiner Mutter (meine/n Kreuz-Cousin(-/e) mütterlicherseits).
Unabhängig davon, welcher dieser Varianten eine Heirat zwischen Cousin und Cousine ersten Grades entspricht, beträgt der Inzuchtskoeffizient („coefficient of inbreeding“; COI) für Kinder, die sie gegebenenfalls miteinander zeugen, 1/16 (oder 6,25%).
Was bedeutet das?
Der Inzuchtskoeffizient, der auf Sewall Wright (1922) zurückgeht und auch „Fixierungsindex“ heißt und (deshalb) normalerweise durch ein „F“ angezeigt wird, gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der beide Kopien von Genen, die jemand vom/von den ersten gemeinsamen Vorfahren seiner Eltern geerbt haben kann – im Fall von Kindern von Cousins/Cousinen ersten Grades sind das ihre Großeltern – , identisch miteinander (d.h. homozygot) sind (Charlesworth & Charlesworth 1987: 238).
Die Berechnung des Inzuchtskoeffizienten F für ein Individuum („ego“) erfolgt über ein Pfaddiagramm, anhand dessen festgestellt wird, wie viele Verbindungen von dem/den ersten gemeinsamen Vorfahren (hier: von den Großeltern) zu den Eltern von „ego“ führen. Im Fall von Ehen zwischen Cousins/Cousinen ersten Grades sind das 4 Verbindungen. Diese (mit „N“ bezeichneten) Verbindungen werden in die Formel Fx = ∑ (0.5)n+1 eingegeben, und der Wert, den wir erhalten, wird x 2 genommen, so dass sich für Kinder von Cousins/Cousinen ersten Grades eine Inzuchtskoeffizient von 0,03125 x 2 = 0,0625 oder 1/16 ergibt.
Das bedeutet, dass
„… on average, their progeny will be homozygous … at 6.25% (1/16) of gene loci (i.e., they will have received identical gene copies from each parent at these sites in their genome)“ (Bennett et al.: 2002 100),
d.h.
„… im Durchschnitt werden ihre Nachkommen auf 6,25% (1/16) der ihrer Gene homozygot … sein (d.h. sie werden von jedem Elternteil identische Genkopien an diesen Stellen in ihrem Genom erhalten haben)“ (Bennett et al.: 2002 100).
(„[I]m Durchschnitt“ deshalb, weil dieser prozentuale Anteil aufgrund des Auftretens von Mutationen variieren kann.)
Den höchsten Inzuchtskoeffizienten mit 0,25 (bzw. 1/4) oder 25% Homozygotie tragen Kinder aus inzestuösen Beziehungen, also Vater-Tochter, Mutter-Sohn und Bruder-Schwester-Beziehungen. Für Kinder aus Beziehungen zwischen Onkel und Nichte oder Tante und Neffe gilt F = 1/8 (0.125 oder 12,5%). Für Kinder aus Beziehungen zwischen Cousins/Cousinen zweiten Grades beträgt F jedoch nur 1/64 (0.0156), und für solche aus Beziehungen zwischen zwischen Cousins/Cousinen sogar nur 1/256 (0.00390625).
Eine Variante der Heirat zwischen Cousins/Cousinen ist die doppelte Cousinenheirat oder genauer: die doppelte Heirat von Cousins/Cousinen ersten Grades („double first cousin marriage“). Bei ihr heiraten Kinder von Eltern, die jeweils zwei Geschwisterpaare bilden. D.h. zwei Schwestern aus einer Familie heiraten zwei Brüder aus einer anderen, oder eine Frau und ihr Bruder aus einer Familie heiraten einen Mann und dessen Schwester aus einer anderen Familie. Wenn beide Paare Kinder produzieren, dann sind diese Kinder doppelte Cousins/Cousinen ersten Grades; sie haben alle vier Großeltern gemeinsam.
Bei Kindern von doppelten Cousins/Cousinen ersten Grades ist durchschnittlich 1/8 (12,5%) ihres Genoms homozygot; das ist derselbe Anteil, den Kinder aus Beziehungen zwischen Onkeln und Nichten oder Tanten und Neffen haben. Cousinenheirat ist also nicht gleich Cousinenheirat; vielmehr ist es biologisch/genetisch gesehen wichtig, Cousinenheiraten danach zu unterscheiden, ob es sich um Heiraten von Cousinen ersten, zweiten, dritten usw. Grades handelt, und ob es sich um doppelte Cousinenheiraten handelt oder nicht.
In jedem Fall wird vor dem Hintergrund des Inzuchtskoeffizienten nachvollziehbar, warum Eheschließungen zwischen (relativ) nahen Verwandten biologisch besehen problematisch sind:
„The primary medical concern with consanguineous marriages is the heightened risk of genetic disorders. When closely related individuals reproduce, there is a higher probability that both parents carry the same genetic mutation. This situation increases the likelihood of recessive genetic disorders in their children. Recessive disorders, such as cystic fibrosis, thalassemia, and Tay-Sachs disease, occur only if a child inherits two copies of the mutant gene, one from each parent … In consanguineous unions, the chances of both parents carrying the same recessive gene are significantly higher compared to non-consanguineous marriages. As a result, the incidence of autosomal recessive disorders is more frequent in populations where consanguinity is commonly practiced … Moreover, consanguinity can lead to an increase in the expression of deleterious genes, leading to a reduction in overall genetic diversity within a family or community. This reduced genetic diversity can have broader implications beyond single-gene disorders … It may affect complex traits and the overall health of the population, potentially leading to reduced immunity and increased susceptibility to infectious diseases. Additionally, the accumulation of deleterious mutations over generations can result in a higher prevalence of multifactorial diseases, such as heart disease and diabetes, which are influenced by both genetic and environmental factors … Therefore, the implications of consanguineous marriages extend beyond the immediate risk of single-gene disorders, impacting the broader health and genetic resilience of communities where it is practiced“ (Khayat et al. 2024: 1 von 12).
D.h.
„Das primäre medizinische Problem bei blutsverwandten Ehen ist das erhöhte Risiko für genetische Störungen. Wenn sich eng verwandte Individuen [miteinander] vermehren, besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass beide Elternteile die gleiche genetische Mutation tragen. Diese Situation erhöht die Wahrscheinlichkeit rezessiver genetischer Störungen [d.h. Störungen, die auftreten, weil eine Variante eines Gens, das normalerweise gegenüber anderen Varianten zurücktritt, in dieser Situation die einzig vorhandene Variante ist, so dass sie notwendigerweise dominant bzw. ausgedrückt wird] bei ihren Kindern. Rezessive Erkrankungen wie Mukoviszidose, Thalassämie und Tay-Sachs-Krankheit treten nur auf, wenn ein Kind zwei Kopien des mutierten Gens erbt, eine von jedem Elternteil … In Ehen unter Blutsverwandten ist die Wahrscheinlichkeit, dass beide Elternteile dasselbe rezessive Gen tragen, im Vergleich zu nicht blutsverwandten Ehen signifikant höher. Infolgedessen ist die Inzidenz autosomal-rezessiver Störungen [d.h. das Auftreten von Störungen, weil normalerweise rezessive Varianten auf Genen, die nicht auf Geschlechtschromosomen liegen, dominant bzw. ausgedrückt werden] in Populationen, in denen Blutsverwandtschaft häufig praktiziert wird, häufiger … Darüber hinaus kann Blutsverwandtschaft zu einer Zunahme der Expression schädlicher Gene führen, was zu einer Verringerung der gesamten genetischen Vielfalt innerhalb einer Familie oder Gemeinschaft führt. Diese verringerte genetische Vielfalt kann umfassendere Auswirkungen haben, die über Einzelgenstörungen hinausgehen … Dies kann komplexe Merkmale und die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung beeinträchtigen und möglicherweise zu einer verminderten Immunität und einer erhöhten Anfälligkeit für Infektionskrankheiten führen. Darüber hinaus kann die Anhäufung schädlicher Mutationen über Generationen hinweg zu einer höheren Prävalenz multifaktorieller Erkrankungen wie Herzerkrankungen und Diabetes führen, die sowohl von genetischen als auch von Umweltfaktoren beeinflusst werden … Daher gehen die Auswirkungen von Blutsverwandtenehen über das unmittelbare Risiko von Einzelgenstörungen hinaus und wirken sich auf die allgemeine Gesundheit und genetische Widerstandsfähigkeit von Gemeinschaften aus, in denen sie praktiziert werden “ (Khayat et al. 2024: 1 von 12).
Es gibt sehr viele Studien, die die negativen Effekte von Cousinenehen auf den daraus resultierenden Nachwuchs belegen. Genannt seien an dieser Stellen lediglich einige neue(re) Studien oder Übersichtsartikel zu Studien (die ihrerseits auf ältere Studien zum Thema verweisen; wer sich dafür näher interessiert, sei auf die jeweiligen Literaturverzeichnisse in den jeweiligen Texten verwiesen): Ahmad et al. 2023; Albanghali 2023; AlKhudair et al. 2024; Anwar et al. 2020; Asemi-Rad et al. 2023; Choudry et al. 2020; Dahbi et al. 2024; Dong et al. 2022; Khayat et al. 2024; Maguire et al. 2018; Mehmood et al. 2023; Memon et al. 2023; Nash 2024; Small et al. 2024.
Diese (und andere) neuere Studien bestätigen in der Regel ältere Befunde, gegen die – häufig zu Recht – eingewendet wurde, dass sie auf einfachen Korrelationsanalysen beruhten, d.h. keine Kontrollvariablen berücksichtigten (s. z.B. Vishwakarma et al. 2021). Auf neuere Studien trifft dies gewöhnlich nicht zu; sie kontrollieren normalerweise nach verschiedenen Variablen wie z.B. dem sozio-ökonomischen Status der Familie.
Trotz der Menge an empirischen Befunden, die einen Zusammenhang zwischen Cousinenehe und Gesundheitszustand des Nachwuchses belegen, wird – besonders, aber nicht nur, in den Medien – manchmal versucht, ihn, wenn nicht zu bestreiten, so doch, seine Relevanz zu relativieren. So wird z.B. oft das Ergebnis zitiert, nach dem Kinder von (einfachen, nicht doppelten) Cousins/Cousinen ersten Grades ein Risiko von 4–6 Prozent haben, eine genetische Störung aufzuweisen, während Kindern von nicht-verwandten Eltern ein diesbezügliches Risiko von 2–3 Prozent haben, und manchmal wird angefügt, dass das 4–6‑prozentige Risiko, das Kinder aus (einfachen) Cousinenehen haben, demjenigen entspricht, das Kinder nicht-verwandter Eltern haben, wenn die Mutter älter als 34 Jahre ist (Shaw & Raz 2015: 25): Man könnte daher bei oberflächlicher Betrachtung meinen, dass das genetische Risiko von Kindern aus (einfachen) Cousinenehen absolut betrachtet nicht nennenswert höher sei als es bei Kindern nicht-verwandter Eltern, wenn die Eltern irgendwelche Risikofaktoren (wie ein höheres Lebensalter der Mutter) aufweisen. Aber:
„… these commonly-cited figures do not take into account the significantly greater risks faced by cousin-parents from endogamous communities with multi-generational cousin-parents of their own, whose offspring each have a greater than 10 per cent chance of inheriting a serious disorder – three or more times the standard risk. These risks intensify, and otherwise rare diseases cluster, with each new generation of the endogamous group because of the greater number of shared ancestors“ (Nash 2024: 5).
D.h.
„… diese häufig zitierten Zahlen berücksichtigen nicht die signifikant höheren Risiken, denen Cousinen-Eltern aus endogamen Gemeinschaften [d.h. Gemeinschaften, in denen die Regel gilt, dass Heiratspartner innerhalb dieser Gemeinschaft zu suchen sind] mit jeweils eigenen Cousin-Elternen über mehrere Generationen hinweg ausgesetzt sind, deren Nachkommen jeweils eine Chance von mehr als 10 Prozent haben, eine schwere Erkrankung zu erben – das Drei– oder Mehrfache des Standardrisikos. Diese Risiken verstärken sich und ansonsten selten auftretende Krankheiten häufen sich mit jeder neuen Generation der endogamen Gruppe aufgrund der größeren Anzahl gemeinsamer Vorfahren an“ (Nash 2024: 5).
Es ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, dass ein variierendes Ausmaß der Endogamie einer Gemeinschaft oder Gruppe über Generationen hinweg – fachterminologisch in der englischsprachigen Literatur als „genetic inbreeding“ bezeichnet – den oben berichteten Umstand, dass die Stärke der beobachteten Korrelationen zwischen Cousinenehe und Gesundheitszustand des Nachwuchses in verschiedenen Studien bis zu einem gewissen Grad variiert, (zumindest mit-/) erklärt. In jedem Fall kann festgehalten werden, dass immer dann, wenn Cousinenehen nicht ausnahmsweise „anfallen“, sondern eine kulturell verankerte Tradition in einer endogamen Gemeinschaft oder Gesellschaft darstellen, eine Kumulation der Risiken für genetisch bedingte Störungen notwendigerweise eintritt – und dies in besonders hohem Ausmaß, wenn die Cousinenehen über Generationen hinweg mehrfach doppelte Cousinenehen sind (s. z.B. Ben-Omran et al. 2020).
Es sei hier nur am Rande vermerkt, dass derzeit keine klare Tendenz für eine abnehmende Zahl von Cousinenehen weltweit beobachtet werden kann, auch nicht pauschal unter bestimmten Bevölkerungsgruppen wie Hochgebildeten. Während für Südost-Iran Neshan et al. (2024: S. 1 von 8) zu dem Ergebnis kommen, dass
„… the tradition of consanguineous unions is still a preferred practice among people living in southeast Iran, especially among socioeconomically disadvantaged individuals“,
d.h. dass
„… die Tradition der Verwandtenehe [hier: der Cousinenehe] immer noch eine bevorzugte Praxis unter den im Südosten des Iran lebenden Menschen, insbesondere unter sozial und wirtschaftlich benachteiligten Personen“ [ist],
beobachten Jameel et al. (2024) in Saudi-Arabien eine weite Verbreitung von Cousinenehen (auch) unter Hochgebildeten: Ihre Studie hat ergeben, dass unter 1.707 im Jahr 2023 befragten Studenten der King Abdulaziz-Universität in Jeddah 819 (oder 48 Prozent) Kinder aus Cousinenehen waren – und dies in einer Stichprobe von Studenten, in der über 53 Prozent ihrer Mütter und über 55 Prozent ihrer Väter Postgraduierte waren, also einen sehr hohen formalen Bildungsabschluss hatten. Und 1.391 (oder 81,5 Prozent) der befragten Studenten hatten Cousinenehen in ihrer Familie (Jameel et al. 2024: Seite 3 von 12 und Table 1 auf Seite 4 von 12). Zwar waren gut 81 Prozent der befragten Studenten der Meinung, dass Cousinenehen gesetzlich verboten werden sollten, wenn aufgrund der Blutsverwandtschaft der Eltern die Gefahr schlimmer Folgen in den kommenden Generationen besteht (Jameel et al. 2024: Seiten 9–10 von 12), aber inwieweit sich eine solche Einstellung in der Praxis niederschlagen wird und inwieweit sie auf die jüngere Generation verallgemeinert werden kann, ist eine offene Frage.
In Saudi-Arabien wie in anderen arabischen Ländern oder Ländern mit arabisch oder islamisch geprägter Kultur ist man sich der gesundheitlichen Probleme, die mit Cousinenehen verbunden sind, bewußt. Deshalb werden in ihnen schon seit Jahrzehnten Versuche gemacht, Menschen allgemein von der Schließung von Cousinenehen zu entmutigen (Nash 2024) und Programme zur genetischen Beratung von Brautpaaren oder Eheleuten bereitzustellen, so dass Risiko-Ehen verhindert oder ggf. zu Schwangerschaftsabbrüchen geraten werden kann. Saffi und Howard haben in einer Studie, die bereits im Jahr 2015 veröffentlicht wurde, acht Länder im Nahen Osten genannt, in denen sogenannten PMSGC-Programme [Premarital Screening and Genetic Counseling] – das sind Programme zur Früherkennung von und Beratung über Erkrankungsrisiken von Nachwuchs – bereits zum Zeitpunkt der Publikation ihrer Studie obligatorisch waren (Saffi & Howard 2015: 194. Table 1). Unter ihnen ist die Türkei das Land, das als erstes, nämlich im Jahr 1995, ein PMSGC-Programm obligatorisch gemacht hat. Seit 2015 sind weitere Länder des Nahen Ostens zu dieser Liste hinzugekommen.
Gewöhnlich wurde/wird im Zuge von PMSGC-Programmen zumindest auf das Risiko von ggf. aus einer Ehe resultierendem Nachwuchs, Sichelzellenanämie oder β‑Thalassämie zu haben, getestet. In Saudi-Arabien wurden entsprechende genetische Untersuchungen für alle Paare mit Heiratsabsicht (gebührenfrei) obligatorisch gemacht, und Paare, für die sich ein entsprechendes Risiko ergab, erhielten eine Beratung mit dem Ziel, dass sie von der Eheschließung absehen sollten. (Die Entscheidung für oder gegen die Heirat bliebt aber dem Paar selbst bzw. den beteiligten Familien überlassen; Memish & Saeedi 2011: 230). Was den Erfolg der PMSGC-Programme betrifft, so stellten die Autoren fest:
„This review found that PMSGC programmes were unsuccessful in discouraging at-risk marriages but successful in reducing the prevalence of affected births in countries providing prenatal detection and therapeutic abortion“ (Saffi & Howard 2015: 193),
d.h.
„Diese Überblicksstudie ergab, dass die PMSGC-Programme nicht erfolgreich darin waren, risikobehaftete Ehen zu entmutigen, aber erfolgreich darin waren, die Prävalenz von von Risiken betroffenen Geburten in Ländern zu reduzieren, die pränatale Erkennung und therapeutische Abtreibung anbieten“ (Saffi & Howard 2015: 193).
In den Folgejahren, genau: bis 2022, hat sich in Saudi-Arabien die Heiratswilligkeit von Paaren angesichts der Feststellung von Risiken für Nachwuchs und entsprechender Abratung von der Eheschließung, jedoch kaum weiter verringert:
„Couples who were planning at-risk marriages differed broadly in their reactions to the medical advice given: 20.3 % decided to cancel the marriage, while 79.9 % went ahead“ (Hussain et al. 2022: 381),
d.h.
„[d]ie Reaktionen der Paare, die Risiko-Hochzeiten planten, waren sehr unterschiedlich: 20,3 % entschieden sich dafür, die Hochzeit abzusagen, 79,7 % fuhren mit den Heiratsplänen fort“ (Hussain et al. 2022: 381).
Inzwischen sind zu den Programmen, die sich speziell an Eheschließungswillige richten, (nicht nur in Saudi-Arabien) Früherkennungs-Untersuchungen von Föten (für bereits verheiratete Paare) hinzugetreten, bei denen hierüber hinausgehend auf alle möglichen Formen von abnormaler Entwicklung des Fötus getestet wird und auf Risikofaktoren mit Bezug auf den Verlauf der Schwangerschaft für die Mutter (Malik et al. 2022: 3–4 von 12).
In den Ländern des Nahen Ostens und anderen Ländern mit arabisch oder muslimisch geprägter Bevölkerung werden die mit Cousinenehen verbundenen Risiken für den Nachwuchs also schon seit vielen Jahren, teilweise seit fast fünf Jahrzehnten, sehr ernst genommen. Cousinenen werden zu entmutigen versucht, und es gibt eine Reihe von Programmen zur vor- oder nachgeburtlichen Früherkennung vererbbarer Risiken. Dies alles, ohne dass bislang eine klare Tendenz zur weltweiten Reduktion von Cousinenehen erkennbar wäre.
Aber warum sollte dies alles für westliche Gesellschaften relevant sein, in denen der prozentuale Anteil von Cousinenehen auf weniger als 0,5 Prozent geschätzt wird (s. oben bzw. Khayat et al. 2024: 1 of 12)? In Teil zwei unserer Behandlung des Themas „Cousinenehen“ werden wir diese Frage beantworten.
Literatur
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