Seltsame Spin­nen­fäden – eine Analyse

Auf­merksame Zeit­ge­nossen ent­decken seit Oktober 2022 seltsame spin­nen­netz­artige Fäden in Gärten oder bei Spa­zier­gängen in der Natur – Lang­beiner sind aber weit und breit keine zu sehen. Der Schweizer Verein WIR hat 2024 eine aus­führ­liche che­mische Analyse der Fäden ver­an­lasst, um dem selt­samen Phä­nomen auf die Schliche zu kommen. Das NEXUS-Magazin führte in Ausgabe 116 ein Kurz­in­terview mit dem Vor­sit­zenden des Vereins – und bekam prompt einen Berg an Zuschriften.

NEXUS: Herr Oesch, vielen Dank im Namen aller Inter­es­sierten, dass Sie sich des Themas mit wis­sen­schaft­licher Methodik ange­nommen haben. Zunächst die Frage: Woher stammten die Proben, die Sie an Labore ein­ge­sandt haben?

Christian Oesch (CO):Die Proben stammen aus ver­schie­denen Regionen Europas, von Nord­italien über die Schweiz bis hin nach Nord­deutschland. Die ana­ly­sierten Fäden wurden im Oktober 2022 von Frei­wil­ligen an unter­schied­lichen Orten gesammelt und dann an uns wei­ter­ge­leitet. Ein Großteil der Proben wurde von Wiesen und land­wirt­schaft­lichen Flächen genommen, wo die Fäden auf Pflanzen, am Boden und teil­weise in der Luft hängend ent­deckt wurden.

NEXUS: Auf welche Sub­stanzen haben Sie mit welchen Methoden prüfen lassen?

CO: Wir haben die Proben mit meh­reren hoch­mo­dernen Methoden ana­ly­sieren lassen, dar­unter Infra­rot­spek­tro­skopie, Mas­sen­spek­tro­metrie und Gaschro­ma­to­grafie. Die Infra­rot­spek­tro­skopie mit ATR-Technik half uns, die Faser­struktur zu ver­stehen, und die Gaschro­ma­to­grafie in Kom­bi­nation mit Massen­spektrometrie diente zur genauen Iden­ti­fi­kation der che­mi­schen Bestand­teile. Die Fäden ent­hielten über 30 ver­schiedene che­mische Ver­bin­dungen, dar­unter gefähr­liche Koh­len­was­ser­stoffe, Ben­zol­de­rivate und sogar Epoxide und Hist­amin­de­rivate. Einige dieser Sub­stanzen sind ex­trem toxisch und ent­zündlich – das sind keine harm­losen Substanzen.

NEXUS: Können Sie aus­schließen, dass es sich um normale Spin­nen­weben handelt?

CO: Ja, wir können sicher aus­schließen, dass es sich um normale Spin­nen­weben handelt. Es gibt mehrere auf­fällige Unter­schiede: Erstens sind die mys­te­riösen Fäden innen hohl, was für Spin­nen­weben unty­pisch ist. Zweitens ist ihre Farbe inten­siver weißlich, während normale Spin­nen­fäden eher trans­parent sind. Außerdem ver­halten sich die mys­te­riösen Fäden anders beim Ver­brennen – normale Spin­nen­fäden ver­kohlen, diese Fäden hin­gegen schmelzen und ver­flüch­tigen sich auf unge­wöhn­liche Weise. Hinzu kommt, dass die gefun­denen che­mi­schen Bestand­teile, dar­unter toxische und ent­zünd­liche Sub­stanzen, in natür­lichen Spin­nen­fäden nicht vorkommen.

Bild: Collage der beim Verein ein­ge­sandten Proben; 

Bild: Fund vom 17. Oktober 2022

NEXUS: Was waren die für Sie beun­ru­hi­gendsten Ergeb­nisse der Analyse?

CO: Die toxi­schen Sub­stanzen in den Fäden sind besonders besorg­nis­er­regend. Der Nachweis von Epoxiden, Ben­zol­de­ri­vaten und Hist­amin­de­ri­vaten, die teils giftig und ent­zündlich sind, lässt auf­horchen. Noch beun­ru­hi­gender ist, dass einige der che­mi­schen Ver­bin­dungen in keiner bekannten Datenbank regis­triert sind, was auf neue oder expe­ri­men­telle Stoffe hin­weist. Die Tat­sache, dass die Fäden innen hohl sind und somit als Trans­port­mittel dienen könnten, macht es noch schlimmer. Diese Hohl­räume könnten dazu genutzt werden, giftige Sub­stanzen langsam frei­zu­setzen – das ist alles andere als harmlos und deutet mög­li­cher­weise auf eine gezielte Anwendung hin.

NEXUS: Gelten die Ana­ly­se­er­geb­nisse für alle Fundorte und Fäden? Oder gab es da Auffälligkeiten?

CO: Die Ergeb­nisse zeigen bei den Proben eine hohe Über­ein­stimmung. In allen Proben wurden die gleichen Grund­struk­turen und ähn­liche che­mische Sub­stanzen gefunden, was auf eine ein­heit­liche Quelle oder Methode hin­weist. Aller­dings gab es kleine Varia­tionen in der Konzen­tration bestimmter Sub­stanzen, was mög­li­cher­weise auf Unter­schiede in der Expo­sition gegenüber Umwelt­ein­flüssen hin­weist. Ins­gesamt sind die che­mische Zusam­men­setzung und Struktur jedoch sehr ähnlich.

NEXUS: Wie schätzen Sie die Ver­breitung des Phä­nomens ein? Gab es Kon­ta­mi­nie­rungen grö­ßerer Flächen?

CO: Es sieht stark nach einer groß­flä­chigen Ver­teilung aus, die über Grenzen hin­weggeht. Die Fäden wurden in ver­schie­denen Ländern gesichtet, was auf eine koor­di­nierte Ver­breitung oder zumindest ein weit­räu­miges Phä­nomen schließen lässt. Die geo­gra­fische Breite – von Nord­italien über die Schweiz bis nach Nord­deutschland – zeigt, dass es keine rein lokale Erscheinung ist. Ob diese Ver­teilung gezielt erfolgt ist oder durch atmo­sphä­rische Bedin­gungen unter­stützt wurde, bleibt spe­ku­lativ, aber die Anzahl und Streuung der Funde lassen auf eine weit­räumige Kon­ta­mi­nation schließen.

Bild: Licht­mi­kro­sko­pische Auf­nahme zeigt eine hohle Faser, die Ver­fär­bungen lassen auf Inhalts­stoffe schließen

Bild: Auf­nahme mit Ras­ter­elek­tro­nen­mi­kroskop (REM) einer Probe aus Riedtwil (Schweiz), 2.500-fache Vergrößerung

Bild: 6.000-fache Ver­grö­ßerung der Probe aus Riedtwil mit REM, die einen offenbar gefüllten Hohlraum zeigt

NEXUS: Können Sie etwas dazu sagen, ob das Phä­nomen in diesem Jahr genauso häufig beob­achtet wurde wie in den Jahren zuvor?

CO: Uns liegen Berichte vor, dass die mys­te­riösen Fäden auch in diesem Jahr auf­ge­treten sind, wenn auch mög­li­cher­weise in gerin­gerer Häu­figkeit. Es scheint, als ob die auf­fäl­ligen Mengen aus dem Jahr 2022 eine Art „Testlauf“ waren, der in diesem Jahr so nicht wie­derholt wurde. Die aktuelle Ver­breitung bleibt jedoch ein Thema, das wir genau beob­achten und das weiter unter­sucht werden sollte.

NEXUS: Auf Ihrer Website zitieren Sie zwei Patente, die 2008 und 2013 erteilt wurden. Dabei geht es um hohle Fasern, die als Träger für Pes­tizide, Dün­ge­mittel oder Medi­ka­mente dienen. Was ist vor dem Hin­ter­grund dieser Ana­lysen Ihre der­zeitige Theorie über die Her­kunft der Fäden?

CO: Die beiden Patente, die wir zitiert haben, werfen ein beun­ru­hi­gendes Licht auf das Ganze. Das erste Patent von 1999, erteilt 2008, beschreibt ein Ver­fahren zur Her­stellung hohler Fasern, und das zweite Patent von 2004, erteilt 2013, zeigt, wie solche Fasern als Trans­port­mittel für land­wirt­schaft­liche Wirk­stoffe wie Pes­tizide genutzt werden können. Diese Fäden könnten also gezielt beladen und aus­ge­bracht werden, um bestimmte Sub­stanzen zu ver­teilen. Unsere Theorie ist, dass wir es hier mög­li­cher­weise mit einem expe­ri­men­tellen Einsatz solcher Tech­no­logien zu tun haben, viel­leicht sogar im Rahmen von Feld­ver­suchen zur gezielten che­mi­schen Beein­flussung von Pflanzen oder Böden.

NEXUS: Für wie gefährlich halten Sie die Fäden? Kann man sich damit kon­ta­mi­nieren, muss man beim Gang durch die Natur vor­sichtig sein?

CO: Die Fäden sind poten­ziell gefährlich. Zwar sind die toxi­schen Sub­stanzen nur in geringen Mengen ent­halten, aber der direkte Kontakt – besonders mit Augen oder Schleim­häuten – könnte Rei­zungen oder sogar Ver­gif­tungen ver­ur­sachen. Generell ist Vor­sicht ange­bracht, besonders bei grö­ßeren Ansamm­lungen dieser Fäden. Bei direktem Kontakt mit Haut oder Augen würde ich zu sofor­tigem Rei­nigen raten. Die Fäden könnten durchaus auch einen gewissen Ein­fluss auf die Umwelt haben, ins­be­sondere wenn sie groß­flächig auf­treten und sich die che­mi­schen Sub­stanzen nach und nach freisetzen.

NEXUS: Wie können inter­es­sierte Leser zur Auf­klärung des Rätsels bei­tragen? Sind weitere Unter­su­chungen geplant?

CO: Leser, die zur Auf­klärung bei­tragen wollen, können das Thema in die Öffent­lichkeit tragen und auch selbst an ihre lokalen Umwelt­be­hörden her­an­treten, um mehr Auf­merk­samkeit zu schaffen. Wir planen weitere Unter­su­chungen, ins­be­sondere in Zusam­men­arbeit mit unab­hän­gigen Wis­sen­schaftlern, um die Fäden in anderen Regionen zu ana­ly­sieren und das Phä­nomen lang­fristig zu beob­achten. Jede Unter­stützung – sei es durch Bericht­erstattung, Mel­dungen neuer Funde oder sogar finan­zielle Hilfe für weitere Labor­tests – hilft uns, das Rätsel schneller zu lösen.

NEXUS: Wir danken für das Gespräch und reichen die Infor­ma­tionen gerne an die Leser­schaft weiter. Das Interview stellen wir zeitnah auch auf unserer Homepage zur wei­teren Ver­breitung zur Verfügung.

Alle wei­teren Infor­ma­tionen, Video­ma­terial und Doku­mente finden Sie auf der Website des Vereins unter VereinWIR.ch/spinnenfaeden. Dort können Sie auch die beiden erwähnten Patent­schriften einsehen.

 

Der Beitrag wurde ursprünglich im NEXUS-Magazin 116 publi­ziert und auf der NEXUS-Website ver­öf­fent­licht: https://www.nexus-magazin.de/artikel/lesen/seltsame-spinnenfaeden-eine-analyse?context=blog

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