Screenhot / Collage

Tief, tiefer, Correctiv

von Roger Letsch
Man hat sich fast schon daran gewöhnt, dass die meisten Medien ihre Leser, Zuhörer und Zuschauer für stark zurück­ge­blieben, ängstlich, unwissend und leicht zu über­tölpeln halten, weshalb sie den Prozess der Mei­nungs­bildung, also die inter­na­li­sierte Ver­ar­beitung von auf­ge­nom­menen Infor­ma­tionen, gern abkürzen, indem sie uns pas­sende Mei­nungen gleich frei Haus mit­liefern. Dum­mer­weise rut­schen aber immer wieder unge­fil­terte Roh­daten an den offi­zi­ellen Filtern vorbei und öffnen der absichts­vollen „Fehl­in­ter­pre­tation“ Tür und Tor. Für solche Fälle gibt es in der besten Welt, in der je gute Europäer lebten, die medialen Tat­ort­rei­niger von Correctiv.

Datenleck im Mittelmeer

Ein solcher Roh­da­ten­unfall ereignete sich neulich, als die euro­päische Grenz­schutz­agentur Frontex ein Video ver­öf­fent­lichte, auf dem detail­reich und lückenlos das Treiben eines Men­schen­fi­scher­bootes zu beob­achten war, welches eine kleine, zunächst leere höl­zerne Scha­luppe schleppte. Das Video ging viral, wozu deutsche Qua­li­täts­medien jedoch wenig bei­trugen. Ver­mutlich deshalb, weil das Ereignis nur von lokalem Interesse war oder das Material nicht aus den seriösen Inves­ti­ga­tiv­quellen von TV-Zeckenbiss stammte. Doch das Video war in Umlauf und für all jene, die das gesehene gern für eine See­not­ret­tungs­übung halten wollten, gab es einen Artikel auf achgut.com, in dem das Geschäfts­modell der Men­schen­händler ein­gehend erläutert wird. Soweit, so normal.
Doch nun kommen die Fak­ten­checker von Cor­rectiv ins Spiel, dessen Chef David Schraven seine Fak­ten­fes­tigkeit schon 2016 unter Beweis stellte, als er per Rundmail vom Sieg Hillary Clintons berichtete und davon fie­berte, wie ein ame­ri­ka­ni­sches Gericht die Klagen des schlechten Ver­lierers Trump abschmet­terte. Diesen „Fakt” endlich Rea­lität werden zu lassen, scheuen deutsche Medien seit drei Jahren weder Zeit noch Mittel.
Auch der Correctiv-„Faktencheck” zum besagten achgut-Artikel grenzt an Prä­ko­gnition: Es gäbe „keine Belege, dass Seenot im Mit­telmeer künstlich erzeugt wird“ bekrittelt Cor­rectiv den Text von Malte Dah­lgrün. Ja, das Video sei schon echt, aber für die Aussage, Seenot würde von den Schleppern künstlich erzeugt, gebe es keine Beweise. Was so klingen soll, als hätte man Dah­lgrün hier beim Lügen erwischt, erweist sich als juris­tisch geschickte For­mu­lierung. Cor­rectiv hütet sich zu behaupten, die Aussage sei falsch – es gäbe nur keine Beweise für ihre Rich­tigkeit. Na da schau her, wie gut Dreck fliegen kann!
Nun ist in der Tat nicht zu erwarten, dass die ver­haf­teten Schlepper vor Gericht erklären werden, sie hätten Seenot „künstlich erzeugt“ und auch Frontex ver­wendet diesen Begriff nicht in Pres­se­er­klä­rungen. Vielmehr handelt es sich bei dieser For­mu­lierung um einen logi­schen Schluss, also eine Impli­kation, die sich aus der Betrachtung der Fakten geradezu zwangs­läufig ergibt. Die „Seenot“ ist für das mehr­stufige Geschäft der Schlepper nämlich absolut notwendig.

Umde­kla­rierung auf hoher See

Dieser Zustand, ganz gleich ob grob fahr­lässig oder absichtsvoll her­bei­ge­führt, ist die Synapse, an der sich die Inter­essen der beiden Haupt­ak­teure dieses schau­rigen Spiels treffen. Die Schlepper können euro­päische Häfen nicht direkt ansteuern, denn dort würden sie aus gutem Grund ver­haftet. Die selbst­er­nannten Retter können nicht direkt in afri­ka­ni­schen Häfen Fracht laden, denn das würde sie unmit­telbar zu Schleppern und Men­schen­händlern machen. Es braucht die Umde­kla­rierung auf hoher See, ganz gleich ob zehn Meilen vor der liby­schen Küste oder 30 Meilen vor Lam­pedusa. Erst wenn aus Glücks­rittern Schiff­brü­chige geworden sind, ist der mora­lische Para­dig­men­wechsel voll­zogen. Wie sie das werden, ist egal, das Ergebnis ist entscheidend.
Wer Leben rettet, könne kein Ver­brecher sein – so denkt es dieser Tage selbst aus dem Bun­des­stein­meier, der aktuell ange­sichts eines eigen­mäch­tigen deut­schen Racke­ten­ma­növers im Hafen von Lam­pedusa gern alle Augen voller Mensch­lichkeit zudrücken möchte, während die Ita­liener gerade hellwach geworden zu sein scheinen. In Italien muss man derzeit erleben, wer unter der Flagge der Höchst­moral fährt, den halten Küs­ten­wachen und Frontex längst nicht mehr auf und das Rechts­ver­ständnis von Schleppern und Akti­visten steht höher im Rang als jedes gel­tende nationale oder Seerecht.
Und während in der deut­schen Presse die Impli­kation „selbst­er­nannter See­not­retter ist gleich Held“ erlaubt ist und heftig beklingelt wird, soll der Leser in wag­hal­sigen Off­shore-Manövern wie dem von Frontex gefilmten, bei dem 80 Men­schen in eine Nuss­schale umge­laden wurden, von denen nur wenige über Ret­tungs­westen ver­fügen, kein absichts­volles Her­bei­führen einer Seenot-Situation erkennen. Selbst dann nicht, wenn die Absicht offen­sichtlich ist.
Das Benennen dieses Kalküls, bei dem die eine Seite daran ver­dient, Men­schen ins Wasser zu werfen und die andere Seite mora­li­schen Honig daraus saugt, diese Men­schen aus dem Wasser zu ziehen und zum ver­spro­chenen Ziel zu expe­dieren, ist tabu. Erst- und Zweit­schlepper tun so, als sähen sie das Treiben des anderen nicht – dieses Kalkül muss uner­wähnt bleiben, weil sonst das ganze Nar­rativ „Rettung“ in sich zusam­men­bräche. Das ist dann schon mal einen Fak­ten­check nach Schraven-Art wert.
Also, braves Bür­gerlein, erkenne hier kein Muster und ziehe keine logi­schen Schlüsse! Wenn etwas wie Pfer­demist aus­sieht, so riecht und hinter einem Gaul zu Boden fiel, heißt das noch lange nicht, dass es auch Pfer­demist ist! Es fehlt der Geschmackstest! Den freilich liefert uns Cor­rectiv, denn mit Dreck kennt man sich dort aus. Und wenn die Fakten so gar nicht zur gewünschten Haltung passen, hilft wie in diesem Bei­spiel die Haarspalterei.
Man könnte ja argu­men­tieren, die Seenot sei nicht „künstlich“ erzeugt, sondern die „natür­liche“ Folge des Han­delns der Schlepper. Doch ich denke, noch feiner müssen wir das unsichtbare Haar nicht zer­teilen, das Cor­rectiv in der Fak­ten­suppe gefunden zu haben glaubt.


Quelle: unbesorgt.de