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Türkei droht mit einer Wie­der­be­lebung der euro­päi­schen Migrationskrise

von Soeren Kern

  • “Wir stehen vor der größten Migra­ti­ons­welle der Geschichte. Wenn wir die Schleusen öffnen, wird sich keine euro­päische Regierung länger als sechs Monate halten können. Wir raten ihnen, unsere Geduld nicht auf die Probe zu stellen.” — Der tür­kische Innen­mi­nister Süleyman Soylu.
  • “Die Türkei bekennt sich unein­ge­schränkt zum Ziel der EU-Mit­glied­schaft… Der Abschluss des Pro­zesses des Dialogs über die Libe­ra­li­sierung der Visum­pflicht, der es unseren Bürgern ermög­lichen wird, ohne Visum in den Schengen-Raum zu reisen, ist unsere oberste Prio­rität.” — Erklärung des tür­ki­schen Außen­mi­nis­te­riums vom 9. Mai 2019.
  • “Das bedeutet nicht, dass ich etwas gegen die Türken habe… Aber wenn wir es zu erklären anfangen — dass die Türkei in Europa liegt — muss den euro­päi­schen Schülern gesagt werden, dass die euro­päische Grenze in Syrien liegt. Wo ist der gesunde Men­schen­ver­stand? … Kann die Türkei kul­turell, his­to­risch und wirt­schaftlich als euro­päi­sches Land betrachtet werden? Wenn wir das sagen, dann wollen wir den Tod der Euro­päi­schen Union.” — Der ehe­malige fran­zö­sische Prä­sident Nicolas Sarkozy.
  • Wenn die EU die Visums­be­freiung genehmigt, erhalten zehn Mil­lionen Türken sofor­tigen und unge­hin­derten Zugang zur pass­freien Zone Europas. Kri­tiker der Visa­li­be­ra­li­sierung befürchten, dass Mil­lionen tür­ki­scher Staats­an­ge­hö­riger am Ende nach Europa aus­wandern könnten. Das öster­rei­chische Nach­rich­ten­ma­gazin Wochen­blick berichtet, dass 11 Mil­lionen Türken in Armut leben und “viele von ihnen davon träumen, nach Mit­tel­europa umzuziehen.”

Die Türkei hat gedroht, die Schleusen der Mas­sen­mi­gration nach Europa wieder zu öffnen, wenn tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­rigen keine visa­freie Ein­reise in die Euro­päische Union gewährt wird. Die EU stimmte der Visa­li­be­ra­li­sierung in einem EU-Türkei-Migran­ten­ab­kommen vom März 2016 zu, in dem sich Ankara ver­pflichtete, den Zustrom von Migranten nach Europa zu stoppen.
Euro­päische Funk­tionäre bestehen darauf, dass die Türkei zwar den Zustrom von Migranten redu­ziert hat, aber noch nicht alle Anfor­de­rungen an die Visa­li­be­ra­li­sierung erfüllt. Darüber hinaus beschlossen die EU-Außen­mi­nister am 15. Juli, die Gip­fel­ge­spräche mit Ankara im Rahmen von Sank­tionen wegen tür­ki­scher Öl- und Gas­boh­rungen vor der Küste Zyperns einzustellen.
In einem Interview mit dem tür­ki­schen Fern­seh­sender TGRT Haber am 22. Juli sagte der tür­kische Außen­mi­nister Mevlut Çavuşoğlu, dass die Türkei aus dem Migran­ten­ab­kommen aus­steigt, weil die EU ihr Ver­sprechen, tür­ki­schen Pass­in­habern visa­freien Zugang zu 26 euro­päi­schen Ländern zu gewähren, nicht ein­ge­halten habe. “Wir haben das Rück­über­nah­me­ab­kommen aus­ge­setzt”, sagte er. “Wir werden nicht vor der Tür der EU warten.”
Einen Tag zuvor hatte der tür­kische Innen­mi­nister Süleyman Soylu den euro­päi­schen Ländern vor­ge­worfen, die Türkei mit der Migra­ti­ons­frage allein zu lassen. In Kom­men­taren der staat­lichen Nach­rich­ten­agentur Anadolu warnte er: “Wir stehen vor der größten Migra­ti­ons­welle der Geschichte. Wenn wir die Schleusen öffnen, wird keine euro­päische Regierung sich länger als sechs Monate halten können. Wir raten ihnen, unsere Geduld nicht auf die Probe zu stellen.”
Das Migra­ti­ons­ab­kommen, das am 1. Juni 2016 in Kraft trat, war von euro­päi­schen Staats- und Regie­rungs­chefs, die ver­zweifelt die Kon­trolle über eine Krise erlangen wollten, in der 2015 mehr als eine Million Migranten nach Europa strömten, hastig aus­ge­handelt worden.
Im Rahmen des Abkommens ver­pflichtete sich die EU, der Türkei 6 Mrd. Euro (6,7 Mrd. US-Dollar) zu zahlen, den 82 Mil­lionen tür­ki­schen Bürgern visa­freies Reisen nach Europa zu gewähren und die Bei­tritts­ge­spräche mit der Türkei über den Bei­tritt zur EU wieder auf­zu­nehmen. Im Gegenzug erklärte sich die Türkei bereit, den Zustrom von Migranten nach Europa zu stoppen und alle Migranten und Flücht­linge, die illegal aus der Türkei nach Grie­chenland kommen, zurückzunehmen.
In der Türkei leben derzeit schät­zungs­weise 3,5 Mil­lionen Migranten und Flücht­linge — haupt­sächlich Syrer, Iraker und Afghanen. Viele dieser Men­schen würden ver­mutlich nach Europa aus­wandern, wenn sie die Mög­lichkeit dazu bekämen.
In ihrer Antwort auf die Bemer­kungen von Çavuşoğlu betonte die EU-Spre­cherin Natasha Bertaud, dass die weitere Umsetzung des Abkommens zwi­schen der EU und der Türkei durch die Türkei wei­terhin eine Vor­aus­setzung für die Visa­li­be­ra­li­sierung bleibt.
Tür­kische Beamte haben der EU wie­derholt vor­ge­worfen, ihren Teil der Abma­chung nicht ein­ge­halten zu haben, ins­be­sondere in Bezug auf die Visa­li­be­ra­li­sierung und den Bei­tritt zur EU.
Im Rahmen des Abkommens ver­pflich­teten sich euro­päische Funk­tionäre, den visa­freien Zugang tür­ki­scher Staats­an­ge­hö­riger zur Schen­gener (grenz­freien) Passzone bis zum 30. Juni 2016 zu beschleu­nigen und die fest­ge­fah­renen EU-Mit­glieds­ver­hand­lungen der Türkei bis Ende Juli 2016 wieder aufzunehmen.
Um sich für die Visum­be­freiung zu qua­li­fi­zieren, musste die Türkei bis zum 30. April 2016 72 Bedin­gungen erfüllen. Dazu gehören: die Anpassung der Sicher­heits­merkmale tür­ki­scher Pässe an die EU-Stan­dards, der Aus­tausch von Infor­ma­tionen über gefälschte und betrü­ge­rische Doku­mente, die für die Ein­reise in die EU ver­wendet werden, und die Erteilung von Arbeits­er­laub­nissen für nicht-syrische Migranten in der Türkei.
Euro­päische Beamte sagen, dass die Türkei zwar die meisten ihrer Bedin­gungen erfüllt hat, aber die wich­tigste nicht erfüllt: die Lockerung ihrer strengen Anti­ter­ror­ge­setze, mit denen Kri­tiker des tür­ki­schen Prä­si­denten Recep Tayyip Erdoğan zum Schweigen gebracht werden.
Seit dem geschei­terten Staats­streich in der Türkei am 15. Juli 2016 wurden mehr als 95.000 tür­kische Bürger ver­haftet und min­destens 160.000 Beamte, Lehrer, Jour­na­listen, Poli­zisten und Sol­daten von ver­schie­denen staat­lichen Insti­tu­tionen ent­lassen oder sus­pen­diert.
Als Reaktion auf die Säu­berung hat das Euro­päische Par­lament am 13. März 2019 gefordert, die EU-Bei­tritts­ver­hand­lungen mit der Türkei aus­zu­setzen. “Während der EU-Bei­tritts­prozess zu Beginn eine starke Moti­vation für Reformen in der Türkei war, hat es in den letzten Jahren einen starken Rück­schritt in den Bereichen Rechts­staat­lichkeit und Men­schen­rechte gegeben”, heißt es im ver­ab­schie­deten Text.
Der Türkei wurde im Sep­tember 1963 zum ersten Mal eine EU-Mit­glied­schaft ver­sprochen, als sie ein “Asso­zi­ie­rungs­ab­kommen” zur Errichtung einer Zoll­union unter­zeichnete, um den Weg für einen even­tu­ellen Bei­tritt zur EU zu ebnen. Die Türkei bean­tragte im April 1987 offi­ziell den EU-Bei­tritt, und die Bei­tritts­ver­hand­lungen begannen im Oktober 2005.
Die EU-Bei­tritts­ge­spräche der Türkei sind im Dezember 2006 ins Stocken geraten, nachdem die tür­kische Regierung sich geweigert hatte, tür­kische Häfen und Flug­häfen für den Handel aus Zypern zu öffnen. Seitdem wurden die Gespräche immer wieder unter­brochen, doch der Prozess wurde durch den poli­ti­schen Wider­stand unter anderem aus Frank­reich und Deutschland gestoppt.
Sollte die Türkei der EU bei­treten, würde sie Deutschland über­holen und zum bevöl­ke­rungs­reichsten EU-Mit­glied werden. In der Folge wäre das größte Mit­gliedsland der EU mus­li­misch. Einige euro­päische Funk­tionäre haben davor gewarnt, dass der Bei­tritt der Türkei Europa “implo­dieren” lassen und “isla­mi­sieren” würde.
Der ehe­malige fran­zö­sische Prä­sident Nicolas Sarkozy hat gesagt, dass die Türkei keinen Platz in der EU habe. In einem Interview mit dem fran­zö­si­schen Nach­rich­ten­sender iTélé im Februar 2016 drückte er Gefühle aus, die ver­mutlich von vielen Euro­päern geteilt werden:
“Die Türkei hat in Europa keinen Platz. Ich habe mich immer an diese Position gehalten, sie basiert auf dem gesunden Men­schen­ver­stand. Das bedeutet nicht, dass ich etwas gegen die Türken habe. Wir brauchen sie, sie sind unsere Ver­bün­deten in der NATO. Aber wenn wir anfangen, es zu erklären — dass die Türkei in Europa liegt -, muss den euro­päi­schen Schülern gesagt werden, dass die euro­päische Grenze in Syrien liegt. Wo ist der gesunde Menschenverstand?
“Es ist nicht nur das. Was ist die Idee hinter Europa? Europa ist eine Union euro­päi­scher Länder. Die Frage ist sehr einfach, auch geo­gra­fisch gesehen, ist die Türkei ein euro­päi­sches Land? Die Türkei hat in Europa nur ein ein­ziges Ufer des Bos­porus. Kann die Türkei kul­turell, his­to­risch und wirt­schaftlich als euro­päi­sches Land betrachtet werden? Wenn wir das sagen, wollen wir den Tod der Euro­päi­schen Union.”
Am 9. Mai 2019 sagte Erdoğan, dass die Türkei den Bei­tritt zur EU wirklich wolle. Eine Erklärung des tür­ki­schen Außen­mi­nis­te­riums vermerkte:
“Die Türkei hält an ihrem Ziel der EU-Mit­glied­schaft fest und setzt ihre Bemü­hungen in dieser Hin­sicht fort… Unsere Erwartung an die EU ist es, die Türkei gleich­be­rechtigt mit anderen Bei­tritts­kan­di­daten zu behandeln und poli­tische Bar­rieren auf dem Ver­hand­lungsweg abzu­bauen, der ein tech­ni­scher Prozess sein soll…
“Obwohl unsere Bei­tritts­ver­hand­lungen poli­tisch blo­ckiert sind, setzt die Türkei ihre Bemü­hungen um die Anglei­chung an die EU-Stan­dards ent­schlossen fort. In der heu­tigen Sitzung haben wir die aktu­ellen Ent­wick­lungen in der Türkei dar­gelegt und uns auf die Schritte geeinigt, die in der kom­menden Zeit zu unter­nehmen sind.
“Der Abschluss des Pro­zesses des Dialogs über die Libe­ra­li­sierung der Visum­pflicht, der es unseren Bürgern ermög­lichen wird, ohne Visum in den Schengen-Raum zu reisen, ist unsere oberste Priorität.”
Selbst wenn die Türkei alle For­de­rungen der EU erfüllt, ist es unwahr­scheinlich, dass tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­rigen in naher Zukunft visa­freies Reisen gewährt wird. Am 15. Juli haben die EU-Außen­mi­nister die Fort­schritte in den Bezie­hungen zwi­schen der Türkei und der EU offi­ziell mit Zypern ver­knüpft. Eine vom Euro­päi­schen Rat am 15. Juli ver­ab­schiedete Maß­nahme besagt:
“..bedauert der Rat, dass die Türkei trotz der wie­der­holten Auf­for­de­rungen der Euro­päi­schen Union, ihre rechts­wid­rigen Tätig­keiten im öst­lichen Mit­telmeer ein­zu­stellen, ihre Boh­rungen westlich von Zypern fort­ge­setzt und nord­östlich von Zypern weitere Boh­rungen in zypri­schen Hoheits­ge­wässern ein­ge­leitet hat. Der Rat weist erneut auf die schwer­wie­genden unmit­tel­baren nega­tiven Aus­wir­kungen hin, die ein solches rechts­wid­riges Vor­gehen auf das gesamte Spektrum der Bezie­hungen zwi­schen der EU und der Türkei hat. Er appel­liert erneut an die Türkei, von einem solchen Vor­gehen abzu­sehen, im Geiste der guten Nach­bar­schaft zu handeln und die Hoheits­gewalt und Hoheits­rechte Zyperns im Ein­klang mit dem Völ­ker­recht zu achten.”
“Ange­sichts der fort­ge­setzten und neuen unrecht­mä­ßigen Boh­rungen der Türkei beschließt der Rat, die Ver­hand­lungen über das umfas­sende Luft­ver­kehrs­ab­kommen aus­zu­setzen […] Der Rat billigt den Vor­schlag der Kom­mission, die Her­an­füh­rungs­hilfe für die Türkei für 2020 zu kürzen […].”
Euro­päische Funk­tionäre mögen im Recht sein darin, eine harte Haltung gegenüber der Türkei ein­zu­nehmen, aber Ankara ist gut posi­tio­niert, um für die Euro­päische Union Chaos zu schaffen, wenn sie sich dafür ent­scheidet. Tat­sächlich scheint Europa in einer No-Win-Situation gefangen zu sein.
Wenn die EU die Visum­be­freiung genehmigt, erhalten zehn Mil­lionen Türken sofor­tigen und unge­hin­derten Zugang zur pass­freien Zone Europas. Kri­tiker der Visa­li­be­ra­li­sierung befürchten, dass Mil­lionen tür­ki­scher Staats­an­ge­hö­riger am Ende nach Europa aus­wandern könnten. Das öster­rei­chische Nach­rich­ten­ma­gazin Wochen­blick berichtet, dass 11 Mil­lionen Türken in Armut leben und “viele von ihnen davon träumen, nach Mit­tel­europa umzuziehen”.
Andere glauben, dass Erdoğan die Visum­be­freiung als Chance sieht, das “Kur­den­problem” der Türkei nach Deutschland zu “expor­tieren”. Markus Söder, der Vor­sit­zende der Christlich-Sozialen Union, der baye­ri­schen Schwes­ter­partei der Christlich-Demo­kra­ti­schen Union von Bun­des­kanz­lerin Angela Merkel, warntedavor, dass Mil­lionen von Kurden bereit seien, die Visum­be­freiung zu nutzen, um nach Deutschland zu fliehen, um der Ver­folgung durch Erdoğan zu ent­gehen: “Wir impor­tieren einen Türkei-internen Kon­flikt. Am Ende kommen viel­leicht weniger Migranten mit dem Boot an, doch noch mehr werden mit dem Flugzeug ankommen.”
Ande­rer­seits, wenn die EU die Visum­be­freiung ablehnt und die Türkei durch die erneute Öffnung der Schleu­sentore Ver­geltung übt, könnten poten­ziell Hun­dert­tau­sende von Migranten aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten wieder nach Europa fließen.


Quelle: Gatestone