Der nachfolgende Beitrag wurde von Stefan Blankertz als Vortrag bei der diesjährigen Usedom-Konferenz von eigentümlich frei gehalten.
[01] »Einheit« und »Souveränität« des Volkes, das klingt ebenso wie »nationale Befreiung« immer noch cool und erstrebenswert in den Ohren, wie sie durch unsere linke und rechte politische Sozialisation geschult sind. Einer derjenigen, der in der Gegenwart an vorderster Front gegen diese Mystifizierung von einheitlichen und großen Nationalstaaten angedacht, angeschrieben und angekämpft hat, haben wir auf dieser Konferenz unter uns: Hans-Hermann Hoppe. Hans-Hermann Hoppe steht damit in der anarchistischen Tradition der Zweifel an der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wünschbarkeit nationaler Großstaaten. Ich möchte hier auf Michael Bakunin verweisen, den anarchistischen Gegenspieler von Karl Marx in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er sagte 1872, also kurz nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs: »Alle diese unsterblichen Schöpfungen des deutschen Genies sind hervorgebracht nicht aus der Einheit, sondern aus der deutschen Anarchie. Die politische Einheit wird unfehlbar die lebendigen Quellen des schöpferischen Geistes in Deutschland töten und beginnt schon, es zu tun.«[1]
[02] Zur Begründung der Aufrechterhaltung oder der Forderung nach Herstellung beziehungsweise Wiederherstellung eines Nationalstaats spielen die Formeln »Einheit (eines Volkes)« und »(Volks-) Souveränität« die entscheidende Rolle. Fragt man nach den Kriterien, die »ein Volk« konstituieren, stehen gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine verbindende Geschichte regelmäßig an der Spitze der Liste. In der reinen, in der rechtspositivistischen Staatstheorie konstituieren das Staatsvolk genau diejenigen Personen, die das Gebiet bewohnen, über das der in Frage stehende Staat zur Zeit das Gewaltmonopol faktisch ausübt oder anstrebt. In der mit dem Begriff der Nation verbundenen Staatstheorie jedoch konstituiert sich das Volk, das Souverän sein und einen einheitlichen Staat haben soll, außerhalb des Staats, zugleich damit konstituiert dieses Volk allerdings angeblich den Anspruch darauf, über das von ihm bewohnte Gebiet eine einheitliche, staatliche Herrschaft (also ein Gewaltmonopol) zu errichten. Diese Vorstellung richtete sich zunächst gegen die Willkür der Staatsgebiete, die durch die Aktionen der Fürsten, Könige und Kaiser konstituiert wurden, seien das kriegerische Annexion oder Akquisitionen qua Heiratspolitik. Mit der Nationalstaatlichkeit waren und sind trotz aller entgegenlaufenden geschichtlichen Erfahrungen immer noch die Hoffnungen auf Entwicklungsmöglichkeiten des Volks, seiner Kultur und Wirtschaft sowie Rechtsstaatlichkeit verbunden.
[03] Deutschland war nicht die einzige europäische Nation, die sich spät oder – in der geschichtsphilosophischen Betrachtung der Nationalisten – »zu spät« konstituiert hat. Italiens Einheit ist nur wenige Jahre früher errungen worden. Über die Folgen der hart erkämpften Einheit Italiens schrieb Bakunin 1869, »der Triumph der nationalen Sache« habe, »anstatt alles neu zu beleben, alles zerstört, nicht nur der materielle Wohlstand, der Geist selbst war erstorben«: »Weniger als fünf Jahre Unabhängigkeit hatten genügt«, so Bakunin weiter, »um die Finanzen zu ruinieren, das ganze Land in eine ökonomische Situation ohne Ausweg zu stürzen, seine Industrie, seinen Handel zu ersticken.«[2] Schon drei Jahre vorher beobachtete Bakunin: »Das unitäre Italien geht aus dem Leim, in allen italienischen Provinzen. Das Defizit, die Furcht vor den neuen Steuern, der bürokratische Schmutz und die Bedrückungen, die Stockungen in allen Geschäften und Unternehmen haben endlich ihre Wirkung auf die ganze Bevölkerung ausgeübt.« Und was tun Staaten, wenn sie in Not sind, sich vor der eigenen Bevölkerung zu legitimieren? »Es ist kein anderer Ausweg als der Krieg«, antwortet Bakunin sarkastisch. »Dasselbe scheint auch in Frankreich der Fall zu sein.«[3]
[04] Wenden wir uns dem »Mauerfall« von vor 30 Jahren zu, den wir hier auf der Konferenz verhandeln, sind die Parolen »Wir sind das Volk« oder »Wir sind ein Volk« noch gut in Erinnerung, die Freude über die gelungene »Wiedervereinigung« des deutschen Volks, welche in der Bundesrepublik Deutschland noch wenige Jahre vorher manch ein linker Politiker als Ziel gern aus der Verfassung gestrichen hätte. Dass es allerdings gar nicht um die Einheit des Volks als primäres Ziel ging, kann man schnell einsehen, wenn wir uns fragen, ob die gleiche Freude geherrscht hätte, wäre die Wiedervereinigung in der umgekehrten Richtung vollzogen worden, nämlich durch den Anschluss der BRD an die DDR. Selbst wenn wir heute augenzwinkernd von der BRD als »DDR 2.0« sprechen, glaube ich nicht, dass die Idee viele Anhänger hätte, es wäre besser gewesen, Erich Honecker statt Helmut Kohl als gesamtdeutschen Staatsratsvorsitzenden gehabt zu haben. Und ich hoffe, niemand wünscht beispielsweise dem koreanischen Volk eine glückliche Wiedervereinigung unter der Kim-Dynastie.
[05] Betrachten wir die beiden Hauptkriterien für die Konstitution eines staatliche Einheit erheischenden Volks, Sprache und Geschichte. Zunächst Sprache. Unmittelbar ist festzustellen, dass einheitliche Sprache faktisch kein generelles, nicht einmal ein vorherrschendes Merkmal von Staaten ist. Deutsch wird in mehr Ländern gesprochen als in der Bundesrepublik Deutschland; selbst wenn Mitte des 19. Jahrhunderts die sogenannte »Großdeutsche Lösung« unter Einschluss von Österreich gelungen wäre, hätten nicht alle Menschen deutscher Zunge in diesem Staat Platz gefunden. Bei den sogenannten Weltsprachen Englisch, Spanisch und Französisch ist ebenso eindeutig, dass nicht die Sprache einen Staat konstituiert. Kehren wir das Kriterium um und fragen, ob Staaten in der Regel von einer einzigen Sprache dominiert sind, stellen wir fest, dass dies ebenso wenig der Fall ist. Die Schweiz, Belgien, Spanien und Kanada sind »Nationen«, in denen verschiedene Sprachen gesprochen werden. Die Beispiele sind weltweit so zahlreich, dass ich sie nicht alle aufzählen kann; und ich muss nicht genauer auf sie eingehen, weil sie im Prinzip jedem geläufig sind. Es wird dann, als Rückzugsgefecht der nationalstaatlichen Idee, gern von »nationalen Minderheiten« gesprochen. Aber in Quebec sind die französisch, in Katalonien die katalanisch, im Baskenland die baskisch, in Kurdistan die kurdisch Sprechenden in der Mehrheit. Sie bilden nur darum eine Minderheit, weil ihnen der eigene (National-) Staat verweigert wird. Was Ludwig von Mises 1927 formulierte, gilt nach wie vor: »Es ist fürchterlich, in einem Staate zu leben, in dem man auf Schritt und Tritt der – sich unter dem Scheine der Gerechtigkeit verbergenden – Verfolgung durch eine herrschende Mehrheit ausgesetzt ist.«
[06] Werfen wir einen Blick auf ein außereuropäisches Beispiel, wird uns noch ein weiterer Aspekt deutlich. Das Jahrtausende alte riesige chinesische Reich mit stark wechselnder Ausdehnung beherbergte eine Vielzahl von Sprachen, Kulturen, Ethnien. Einheitlich war die Schrift als zentrales Mittel der Verwaltung. Dass die in der Hinsicht von Eindeutigkeit und Erlernbarkeit mit so starken Nachteilen[4] behaftete Bilderschrift sich bis heute halten konnte, hat mit dem einen Vorteil zu tun, nämlich dass sie von der gesprochenen Sprache völlig unabhängig ist: Sie eignet sich, ein vielzüngiges Reich zu regieren.
[07] Was wir an diesem Beispiel sehen können, ist, dass Sprache und Schrift ein Politikum darstellen, und das schon lange vor dem Aufkommen der Idee des Nationalstaats. Sprache und Schrift ist ein Politikum im Rahmen von Herrschaftssicherung und von verwaltungspraktischen Überlegungen. Dies geht in der Moderne so weit, dass das Verbot der sogenannten Fraktur-Schrift durch den nationalsozialistischen Staat 1941 vermutlich keineswegs etwas mit Hitlers von geschichtlicher Unkenntnis zeugender Charakterisierung der Fraktur-Schrift als »Juden-Schwabacher« zu tun hat, sondern mit der verwaltungstechnischen Überlegenheit der Antiqua-Schrift für das von den Nationalsozialisten projektierte großeuropäische Reich.[5]
[08] Die Kehrseite der so volksfreundlich, human und befreiend erscheinenden Idee des Nationalstaats ist es, dass er, weil homogene sprachlich-kulturelle Räume meist empirisch nicht anzutreffen sind, in brutale Normativität umschlägt: Ein bestimmtes Gebiet solle durch Maßnahmen der Staatsgewalt homogenisiert werden, und das heißt vor allem: Die vorherrschende Sprache wird zur allein gültigen im Staatsgebiet. Zentrales »Mittel der nationalen Vergewaltigung« ist für Mises 1927 die staatliche Zwangsschule, in der die Mehrheitskultur (bei ihm: Sprache der Mehrheit) gelehrt werde. Hier wird klar ersichtlich, dass Mises nicht nur keine Angst vor Parallelgesellschaften hatte, sie im Gegenteil in das Recht auf Sezession mit einschloss. Ohne Schulpflicht sei »keine Sprachinsel« mehr davon bedroht, »sich bloß darum national vergewaltigen zu lassen, weil sie mit dem Hauptstamm des eigenen Volkes durch keine von Volksgenossen besiedelte Landbrücke in Verbindung steht«.[6] An die Stelle des Sprachenkonflikts in national gemischten Ländern können hier ebensogut die Konflikte über Religion oder Kultur eingesetzt werden: Zwangsbeschulung ist mit Frieden inkompatibel, egal um welchen Konflikt es inhaltlich geht.
[09] Das Hochdeutsche ist das Paradebeispiel dafür, dass die Herausbildung einer Standard- und Normsprache durchaus viel mit den jeweiligen Herrschaftsinteressen zu tun hat. Bei einem anderen Geschichtsverlauf hätten Bayerisch, Österreichisch, Plattdeutsch oder Friesisch zur Norm werden können, während unser heutiges Hochdeutsch ein wenig ansprechender Dialekt wäre. Überhaupt, was ist ein Dialekt? Warum ist das Niederländische eine Sprache, das Friesische aber ein Dialekt? »Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine«, definierte der jiddische Sprachwissenschaftler Max Weinreich 1944.[7] Die Anerkennung als Sprache ist ihrerseits ein Politikum. Ist das Katalanische ein spanischer Dialekt oder eine eigene Sprache? Beim Baskischen kann niemand behaupten, dass es irgendetwas mit dem Spanischen oder sonst einer indogermanischen Sprache zu tun habe. Das Kurdische wurde vom türkischen Staat als Sprache zweitweise gar geleugnet, sein Gebrauch verboten; wobei das Verbot natürlich einen Beweis dafür darstellte, dass es die Sprache gibt. Das Standard-Irische, das seit 1948 in irischen Staatsschulen aus nationalistischen Gründen gelehrt wird, ohne dass es mehr als eine folkloristische Bedeutung hat, ist niemals eine gesprochene Sprache gewesen: Es ist eine vom Staat künstlich geschaffene Sprache, der Versuch, ein Desiderat aus verschiedenen traditionellen irischen Dialekten zu schaffen.
[10] Aus den genannten Gründen könne der Staat, sagte der deutsche Anarchist Gustav Landauer vor über 100 Jahren,[8] niemals Nationalstaat sein, sondern könne sich bloß »in den wundervollen echten Wahn der Nationalität wie in einen Lügenmantel einzuhüllen«. Aus der Verbindung von Nation und Staat ergeben sich, analysiert Landauer 1909 wie ganz ähnlich Ludwig von Mises 1927, die Nationalitätenkämpfe innerhalb des Staats; nach Landauer wären »die Angelegenheiten einer jeden Nation von ihr selbst – das heißt: vom Sprachverein – zu erledigen«. Die Staatskriege werden laut Landauer »durch nationale Überhitzungen lügnerisch motiviert, wo doch nie in Wahrheit ein Krieg um der Sprache und der Sitten willen geführt worden ist. Die Nationalität ist Echtheit und Liebesbund und Geist genug und braucht keinen Staat, um als Zweck in den Menschen zu wohnen und aus ihnen heraus ein Gebilde der Schönheit zu schaffen«.[9]
[11] Wir sind qua Sprache bereits mitten in der Diskussion des zweiten Kriteriums für die angebliche Legitimität eines Nationalstaats, der gemeinsamen Geschichte. Dieses Kriterium ist noch weniger zu operationalisieren als das Kriterium der Sprache. In umstrittenen Grenzregionen ergeben sich durch kriegerische Handlungen und das wechselnde militärische Geschick der Gegner häufige und zum Teil zeitlich kurz hintereinander folgende Veränderungen. 1907 höhnt Gustav Landauer: »Betrachtet man sich diese seltsam zitternde, zuckende, krause und verrückte Linie, welche die Grenzen eines Staates, wie etwa des Deutschen Reiches, ausmacht, so gewahrt man sofort, dass in diesem Gebilde eines kindisch gewordenen oder gebliebenen Entwerfers nur ein Strich Wirklichkeitssinn hat: die Küste.«[10]
[12] Die Frage bei der Legitimation eines Staatsgebietes durch Geschichte lautet immer: Ab welcher Zeitdauer einer faktischen Herrschaft ist diese als legitim anzusehen? Umgekehrt jedoch fragt sich, ob denn die Geschichte einer lange anhaltende Herrschaft das Recht konstituiert, die bestehende geografische Ausdehnung eines Staats beizubehalten? Die Krim gehört seit 1954 zur Ukraine, wird aber von der sogenannten »überwiegenden Mehrheit der internationalen (Staaten-) Gemeinschaft« als deren legitimes Staatsgebiet angesehen. Konstituieren 66 Jahre ein legitimes Staatsgebiet? Die gleiche »überwiegende Mehrheit der internationalen (Staaten-) Gemeinschaft« rümpft dagegen die Nase bei der Zugehörigkeit von Tibet zur Volksrepublik China. Seit 61 Jahren. Katalonien gehört seit 1714 zu Spanien. Das sind nun über 300 Jahre. Nach einer rein quantitativen Definition von Legitimation durch »geschichtliche« Zugehörigkeit ein »gutes« Argument gegen ein Recht auf Sezession. Slowenien, Kroatien, Bosnien, Kosovo, Tschetschenien sollten nach herrschender Auffassung das Recht auf Sezession haben, nicht aber Srpske, Krajina oder Ossetien. Die meisten Kriege und Bürgerkriege drehten sich und drehten sich um die Frage von Annexion respektive den Versuch, sie zu verhindern beziehungsweise früher oder später rückgängig zu machen.
[13] Weder durch sprachliche Zugehörigkeit noch ein gemeinsames geschichtliches Schicksal lässt sich der legitime Raum eines Staatsgebietes klären. Das alleinige faktische Kriterium ist die Fähigkeit eines Staats, sein Gebiet militärisch gegen äußere Angriffe oder innere Separationsbewegungen aufrecht zu erhalten. Das liberale Ideal dagegen formuliert Ludwig von Mises 1927 als das universelle und nicht durch sprachliche, geschichtliche oder anderswie als legitim definierte Recht auf Sezession. »Wenn die Bewohner eines Gebietes, sei es eines einzelnen Dorfes, eines Landstriches oder einer Reihe von zusammenhängenden Landstrichen, durch unbeeinflusst vorgenommene Abstimmungen zu erkennen gegeben haben, dass sie nicht in dem Verband jenes Staates zu bleiben wünschen, dem sie augenblicklich angehören, sondern einen selbstständigen Staat bilden wollen oder einem anderen Staate zuzugehören wünschen, so ist diesem Wunsche Rechnung zu tragen. Nur dies allein kann Bürgerkriege, Revolutionen und Kriege zwischen den Staaten wirksam verhindern.« Mises schränkte hier das Sezessionsrecht ausdrücklich nicht ein bezogen auf die ethnischen, sprachlichen oder religiösen Zugehörigkeiten. »Es handelt sich«, wie Mises ausdrücklich sagt, »nicht um das Selbstbestimmungsrecht einer national geschlossenen Einheit«. Weder dürfe ein Nationalstaat die Sezession eines Gebietes unterbinden, auch wenn es zur gleichen geschichtlichen, ethnischen, sprachlichen oder religiösen Einheit gehöre, noch dürfe er »Teile der Nation, die einem anderen Staatsgebiet angehören, wider ihren Willen aus ihrem Staatsverband loslösen und dem eigenen Staat einverleiben«.[11] Trotz seiner Distanzierung vom Anarchismus steht Ludwig von Mises mit seinem Sezessionsrecht eher in der anarchistischen, als in der üblichen liberalen Tradition.
Das lässt sich leicht ersehen, wenn wir noch einmal Aussagen von Bakunin über das Sezessionsrecht anschauen. Sie klingen 1868 geradezu so, als sei der Text von Ludwig von Mises knapp sechzig Jahre später nichts als deren Paraphrase. »Abschaffung des so genannten ›historischen Rechts‹ von Staaten namens des höheren Rechts aller Völker, ob groß oder klein, schwach oder stark, sowie aller Individuen, auf Selbstbestimmung in völliger Freiheit, ohne Rücksicht auf Bedürfnisse und Ansprüche der Staaten und ohne irgendeine andere Einschränkung dieser Freiheit als das gleiche Recht anderer«, sagte Bakunin 1868 auf dem Kongress der Friedens- und Freiheitsliga in Bern. er forderte die »Anerkennung des Sezessionsrechts für Individuen genauso wie für Verbände, Gemeinden, Provinzen und Nationen – unter der einzigen Bedingung, dass die scheidende Partei durch kein neues Bündnis mit einer fremden und feindlichen Macht die Unabhängigkeit und Freiheit der zurückbleibenden Partei gefährde. Das sind die wahren, die einzigen Bedingungen für Gerechtigkeit und Freiheit. Wollen unsere deutschen Freunde sie genauso offen akzeptieren wie wir? Und, kurz gesagt, wollen sie die Zerstörung des Staats – aller Staaten – so wie wir?« Vor den Prinzipien behandelt er aktuelle Konflikte, wie etwa: »Ich möchte, dass Finnland ganz unabhängig werde, mit der vollen Freiheit, sich zu organisieren, wie es will, und sich zu verbünden, mit wem es will. Dasselbe sage ich mit vollem Herzen in Bezug auf die baltischen Provinzen. Wenden wir uns nun Polen zu. Alle Menschen, alle Länder, die dem neuen konföderierten Polen angehören wollen, sollen Polen sein; der, der es nicht will, soll kein Pole sein. Finden sich unsere deutschen Freunde bereit, auf ihre so genannten historischen Rechte für den Teil Böhmens zu verzichten, den die Deutschen nicht germanisieren konnten?«[12]
[14] Die Reaktion auf meine Argumente gegen den Nationalstaat lautet standardmäßig, ich würde behaupten, es gäbe nur »das« isolierte Individuum (also keine Gemeinschaft, keine Gesellschaft) und überdies wäre das Individuum völlig frei in der Wahl von Sprache, Geschichte oder Kultur. In Wirklichkeit jedoch sei Gemeinschaft für die meisten Menschen wichtig. Das klingt für mich so, als ob behauptet werde, es gäbe Gemeinschaft, gemeinsame Sprache, gemeinsame Geschichte, gemeinsame Kultur nur in einem Zwangszusammenhang, als ergäbe sich Gemeinschaft nur unter der Ägide der Staatsgewalt. Aber gerade das Beharrungsvermögen von Kultur, Religion und Sprachen von Minderheiten unter der Bedrohung brutaler Homogenisierungstendenzen zeigt, dass Gemeinschaft eben keine Funktion der Gewalt, sondern der Freiwilligkeit ist, selbst wenn niemand den Ort und den Zeitpunkt seiner eigenen Geburt wählen kann und auch wenn zudem niemand aus seiner Haut, aus seiner Biografie und aus seiner Geschichte heraus kann. – Das erwähnte Baskische ist übrigens ein Beispiel dafür, wie lange eine sogenannte Sprachinsel ohne Staatsgewalt existieren kann. Heute sprechen nur ca. eine Million Menschen Baskisch. Sie sprechen eine Sprache, die sich rund 5.000 Jahre gegen die indogermanische Umgebung behaupten konnte. Ohne Staat, freiwillig.
[15] Nach Gustav Landauer gibt es zwei Bindungsprinzipien für Gemeinschaft. Zum einen sei das die Gewalt, wie sie der Staat verkörpert. Zum anderen sei das der »Geist« oder die »Liebe«, wie er es nennt – der Geist der Gemeinschaft, die sich auf Freiwilligkeit statt Staatsgewalt gründet: »Die Liebe ist eine Bereitschaft und Wirklichkeit, die im Menschen drin sitzt; sie hat die Familie geschaffen«, schreibt Landauer 1907. » So wäre« – laut Landauer – »der Sprachverband der Nation, wenn der Staat ihn nicht bedrängte und beengte.« So aber sei der Staat nicht, bedauert Landauer: »Der sitzt nicht in den Herzen und Seelenleibern der ihm Angehörigen.« Denn der Staat »hat keinen Geist, hat nie einem Ding Schönheit geschenkt, hat alles kalt und tot gelassen und gemacht«. Landauer fährt fort, »die Form, in der lebendige Wesen sich zum Bunde gestalten, zu einem höheren Organismus vereinen, ist Notwendigkeit mit dem Gefühl der Freiwilligkeit. Die Form und Unform des Staates aber ist der Zwang und die Gewalt.«[13]
[16] Es geht um mehr Freiheit, nicht um mehr Einheit. Wir sind nicht das Volk. Mia san mia, auf gut Bayerisch gesagt. Die Begriffe Volk und Nation eignen sich nicht, um die Staatsgewalt mit territorialem Anspruch als Gewaltmonopol zu legitimieren. Das Recht auf grenzenlose Sezession anzuerkennen bedeutet, den Begriff des legitimen Staats selber zu dekonstruieren.
[1] Aus einem Brief an die Sektionen der Internationale im schweizerischen Jura, 1872, Archives Bakounine, hg. von Arthur Lehning, Leiden 1961 bis 1981; Band 2, S. 24.
[2] Aus einem Brief an die Zeitung ›Réveil‹ von 1869. Michael Bakunin, Gesammelte Werke in drei Bänden,
- von Erwin Rholfs (Bd. 1) und Max Nettlau (Bd. 2 und Bd. 3), Berlin 1921. (Nachdruck: Berlin 1975.) Band 3, S. 150.
[3] Brief vom 23. März 1866 an Alexander Herzen. Michael Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften, hg. von Horst Stuke, München 1972, S. 701.
[4] Kein geringerer als Ezra Pound wies darauf hin, dass Chinesisch die Schrift des Poesie, der Lyrik sei. Doch mit Poesie und Lyrik ist nun mal kein Staat zu machen, und darum wird der literarische Vorteil kaum den Ausschlag für das Beharrungsvermögen der chinesischen Schrift gegeben haben.
[5] Der Widerspruch zwischen deutschnationaler und gesamteuropäischer Perspektive in der nationalsozialistischen Ideologie gehört zu den Absurditäten des nationalstaatlichen Denkens.
[6] Ludwig von Mises, Liberalismus, Jena 1927, S. 100.
[7] Max Weinreich (1894–1969).
[8] Letztes Jahr vor 100 Jahren wurde er ermordet.
[9] Gustav Landauer, Volk und Land (1907), in: ders, Beginnen (1921 posthum hg. v. Martin Buber), Wetzlar 1977, S. 12ff.
[10] Ebenda.
[11] Liberalismus, S. 96f.
[12] Michael Bakunin, ›Die Bekämpfung des Zarismus‹, hg. v. Ernst Drahn (französisch, mit einer Teilübersetzung in der Einleitung), Berlin 1925, S. 21ff. Dies ist übrigens die Rede, auf Grund derer Marx Bakunin vorwarf, ein »Panslawist« zu sein.
[13] Landauer, ebd. (Anm. 10).
Stefan Blankertz, 1956, Wortmetz, Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt. Rothbardero seit 1980 – www.murray-rothbard-institut.de.
Quelle: misesde.org
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