Ent­schleierung einer „Her­zens­sache“

Für Öster­reich sei Süd­tirol „kein Poli­tikum, sondern eine Her­zens­sache“, und des 1918/19 von Tirol abge­trennten und Italien als Kriegs­beute zuge­schla­genen süd­lichen Lan­des­teils „Rückkehr nach Öster­reich ein Gebet jedes Öster­rei­chers“: Mit dieser gefühlig-patrio­ti­schen Fest­legung aus Anlass seiner ersten Regie­rungs­er­klärung setzte Leopold Figl, der erste aus der ersten Nach­kriegs­na­tio­nal­ratswahl her­vor­ge­gangene Bun­des­kanzler, am 21. Dezember 1945 sozu­sagen den förm­lichen Anspruchs- und Betrach­tungs­maßstab in der Süd­tirol-Frage. Figls „Her­zens­sache“ wurde, ebenso wie die spätere Abwandlung „Her­zens­an­ge­le­genheit“, zum geflü­gelten Wort und  ist als solches nach wie vor  Bestandteil des Polit­vo­ka­bulars in Österreich(s Par­teien), wenn­gleich es  längst seine rhe­to­rische Kraft und magne­ti­sie­rende Wirkung ein­gebüßt hat, da es leider nurmehr  als ste­reotyp gebrauchte Floskel in stan­dar­di­sierten Sonn­tags­reden vor­kommt  und keine greifbare poli­tische Agenda mehr dahintersteht.

Wer sich aus wie auch immer gear­tetem Interesse heraus der his­to­ri­schen Ent­wicklung des Bedeu­tungs­ver­lusts dieser „Her­zens­sache“ bzw. „Her­zens­an­ge­le­genheit“ anhand von 75 Jahren par­la­men­ta­ri­scher Befassung mit der und poli­ti­schen Aus­ein­an­der­setzung über die Süd­tirol-Frage im Öster­rei­chi­schen Natio­nalrat ver­ge­wissern möchte, für den steht nun ein mehr denn erschöp­fendes Kom­pendium zur Ver­fügung. Für dessen Akku­ra­tesse und Voll­stän­digkeit zeichnet ein vielfach ein­schlägig in Erscheinung getre­tener His­to­riker als Her­aus­geber ver­ant­wortlich. Hubert Speckner hat in den 2022 im Verlag effekt! (Neu­markt a.d. Etsch) erschie­nenen vier volu­mi­nösen Bänden seiner Publi­kation „,Her­zens­sache‘ Süd­tirol … Süd­tirol in den Natio­nal­rats­sit­zungen der Zweiten Republik Öster­reich. 1945–2020“  https://effekt-shop.it/shop/buecher/herzenssache-suedtirol/  auf sage und schreibe 3122 (!) Seiten sämt­liche par­la­men­ta­ri­schen Äuße­rungen zusam­men­ge­tragen, die zwi­schen 1945 und 2020 im Par­lament zu Wien zur Süd­tirol-Frage getätigt wurden. Was nunmehr vor­liegt, ist mit Fug und Recht ein Novum, denn in der gesamten (populär)wissenschaftlichen Lite­ratur zum Thema, ganz gleich ob sie histori(ograph)isch oder poli­tik­wis­sen­schaftlich aus­ge­richtet ist, blieb die par­la­men­ta­rische Aus­ein­an­der­setzung darüber un(ter)belichtet.

In den 2922 Natio­nal­rats­sit­zungen, die während des besagten Zeit­raums statt­fanden, kam das Thema Süd­tirol in immerhin  481 Sit­zungen zur Sprache. Speckner hat aus dieser Zeit 1320 par­la­men­ta­rische Äuße­rungen (Wort­mel­dungen, Berichten, schrift­liche und münd­liche Anfragen, Beant­wortung par­la­men­ta­ri­scher Anfragen, Initiativ- und Ent­schlie­ßungs­an­träge sowie Bür­ger­initia­tiven und Peti­tionen) zusam­men­ge­tragen. Jeden Buch­einband ziert das Kon­terfei jenes Poli­tikers, der in dem darin abge­han­delten  Zeitraum im Natio­nalrat am häu­figsten zum Thema Süd­tirol gesprochen oder sonstwie Akti­vität gezeigt hat. Es sind dies der geschicht­lichen Abfolge nach Franz Gschnitzer (ÖVP), Bruno Kreisky (SPÖ), Felix Ermacora (ÖVP) und Werner Neu­bauer (FPÖ).

Die Zusam­men­schau aller par­la­men­ta­ri­schen Akti­vi­täten ver­mittelt ein untrüg­liches kon­den­siertes Kon­tinuum der Abfolge kon­flikt­reicher Gescheh­nisse, welche die Höhen und Tiefen des  öster­rei­chisch-ita­lie­ni­schen Ver­hältnis prägten und stellt eine wahre Fund­grube  in Bezug auf die gesamte öster­rei­chische Süd­ti­rol­po­litik nach 1945 und deren Akteure dar. Im Über­blick lassen sich daraus ver­grö­bernde Befunde ableiten.

Grund­sätzlich haben  die drei tra­di­tio­nellen Natio­nal­rats­par­teien  (SPÖ, ÖVP, VdU/FPÖ)  zufolge der nach dem Zweiten Welt­krieg durch die am 5. Sep­tember 1946 in Paris vom öster­rei­chi­schen  Außen­mi­nister Karl Gruber und dem ita­lie­ni­schen Minis­ter­prä­si­denten  Alcide DeGasperi  getrof­fenen ver­trag­lichen Über­ein­kunft hin­sichtlich des süd­lichen Tirol  im Großen und Ganzen für lange Zeit in der Süd­ti­rol­po­litik weit­gehend an einem Strang gezogen. Infol­ge­dessen pflegten sie, wenn­gleich auf­grund Stärke, Einfluß und ideo­lo­gi­scher  Über­ein­stimmung dif­fe­rierend,  unter­schiedlich enge/intensive Bezie­hungen  zu der seit 1945 zwi­schen Brenner und Salurner Klause domi­nanten Sam­mel­partei SVP. Die (nach Eigen­de­fi­nition) „Sam­mel­partei der Süd­ti­roler“ ver­einte christlich-soziale, katho­lisch-kon­ser­vativ  bäu­er­liche, bür­gerlich-liberale und sozia­lis­tische / sozi­al­de­mo­kra­tische Strö­mungen unter ihrem Dach.

Diese mehr oder weniger kon­sen­suale Politik hatte sogar Bestand, als es während der 1960er Jahre just wegen der Süd­tirol-Frage in der FPÖ rumorte und sich Gleich­ge­sinnte aus dem Kreis Norbert Burgers von ihr lösten und in der von Burger gegrün­deten Natio­nal­de­mo­kra­ti­schen Partei (NDP) zusam­men­fanden. Erst im Zuge des kom­mu­nis­ti­schen Sys­tem­kol­lapses und Umbruchs in Mittelost‑, Südost- und Ost­europa sowie der unmit­telbar damit ver­bun­denen Wie­der­ver­ei­nigung Deutsch­lands geriet  dieser Konsens aus den Fugen, zumal da diese Ent­wicklung mit der innen­po­li­ti­schen Debatte über die höchst umstrittene Abgabe der öster­rei­chisch-ita­lie­ni­schen Streit­bei­le­gungs­er­klärung gegenüber den Ver­einten Nationen (UN) in Zusam­menhang stand.

Die Streit­bei­le­gungs­er­klärung resul­tierte quasi als Ultima ratio aus den UN-Reso­lu­tionen 1497/XV (31. Oktober 1960) und 1661 (28. November 1961), worin Öster­reich und Italien darauf fest­gelegt worden waren, den Süd­tirol-Kon­flikt durch Ver­hand­lungen  bei­zu­legen. Trotz dieser UN-Maß­gaben und daraus fol­gender man­nig­facher Begeg­nungen von Außen­mi­nistern und Diplo­maten beider Seiten hatte sich Rom nicht wirklich zu Zuge­ständ­nissen bezüglich der 1946 ver­ein­barten Auto­nomie für die Süd­ti­roler bereit­ge­funden und stets darauf beharrt, alle daraus erwach­senen Ver­pflich­tungen erfüllt zu haben. Erst das tat­kräftige Auf­be­gehren unei­gen­nüt­ziger hei­mat­lie­bender Akti­visten des Befrei­ungs­aus­schusses Süd­tirol (BAS), die spek­ta­kuläre Anschläge auf ita­lie­nische Ein­rich­tungen ver­übten und damit den Kon­flikt inter­na­tional vor aller Augen ersichtlich werden ließen, führte letztlich zu einer gewissen Kor­rektur der römi­schen Politik und zu ernst­haften Ver­hand­lungen, worin auch Reprä­sen­tanten Süd­tirols in Kom­mis­sionen ein­ge­bunden waren und woraus  ein aus Maß­nah­men­ka­talog  (137 Bestim­mungen zum Schutze der Süd­ti­roler Bevöl­kerung) sowie  Ope­ra­ti­onska­lender (Vor­gaben für die Schritte zu deren Verwirklichung/Umsetzung) bestehendes Autonomie-„Paket“ und schließlich das Zweite Auto­no­mie­statut für Süd­tirol her­vorging, welches  am 20. Januar 1972 in Kraft trat. Bis die Bestim­mungen gemäß Statut umge­setzt waren – wobei sich die rasch wech­selnden römi­schen Regie­rungen und die prin­zi­pielle Hals­star­rigkeit bzw. Sper­rigkeit Ita­liens immer wieder als Hemm­schuh erwiesen – sollten noch einmal zwei ganze Jahr­zehnte ver­streichen, sodaß die besagte Streit­bei­le­gungs­er­klärung erst am 11. Juni 1992 abge­geben werden konnte.

Sowohl Teile des Inhalts, als auch die pro­ze­du­ralen Schritte auf dem Wege zur Erfüllung des Auto­nomie-Pakets, damit der Vor­aus­set­zungen zu for­mellen Bei­legung des Streits um Süd­tirol zwi­schen Öster­reich und Italien vor den UN waren höchst umstritten. Die poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zungen über die Mög­lich­keiten der  wirk­samen Ein­klag­barkeit vor dem Inter­na­tio­nalen Gerichtshof (IGH) hielten weiter an, vor allem aber besteht die bis heute unbe­ant­wortet gebliebene Grund­frage nach Gewährung und Aus­übung des nach dem Ersten wie dem Zweiten Welt­krieg ver­wei­gerten Selbst­be­stim­mungs­rechts  fort.

Während SPÖ, ÖVP und Grüne mit Abgabe der Streit­bei­le­gungs­er­klärung die Süd­tirol-Frage fak­tisch für beant­wortet erach­teten, legten ins­be­sondere FPÖ-Par­la­men­tarier – wie etwa Sieg­fried Dil­lers­berger, Martin Graf, Werner Neu­bauer  –  immer wieder den Finger in die Wunde der weder nach dem Ersten, noch nach dem Zweiten Welt­krieg gewährten Aus­übung des Selbst­be­stim­mungs­rechts und die damit ver­bundene Zukunfts­per­spektive für die Süd­ti­roler. Auch nam­hafte ÖVP-Granden und SPÖ-Poli­tiker wie bei­spiels­weise der lang­jährige Tiroler Lan­des­hauptmann Eduard Wallnöfer (ÖVP) und sein Stell­ver­treter Herbert Salcher (SPÖ), später Gesund­heits- und Finanz­mi­nister unter den SPÖ-Kanzlern Bruno Kreisky und Fred Sinowatz, äußerten sich bis­weilen kri­tisch bis ablehnend. Für die Bundes-ÖVP tat sich hierin ins­be­sondere der renom­mierte Staats‑, Ver­fas­sungs- und Völ­ker­rechtler Felix Ermacora, Mit­glied der Euro­päi­schen wie der UN-Men­schen­rechts­kom­mission, zeit­weise auch deren Prä­sident und nicht zuletzt Autor bedeu­tender Publi­ka­tionen zum Süd­tirol-Kon­flikt, hervor.

Zieht man nun die Sonn­tags­reden-Floskel „Her­zens­an­ge­le­genheit Süd­tirol“ heran und legt sie sozu­sagen als Folie über das Selbst­be­stim­mungs­recht  der Süd­ti­roler, so führt das gleich­namige vier­bändige Opus magnum des Hubert Speckner untrüglich vor Augen, wie  sich die poli­ti­schen Akzente zuun­gunsten des legi­timen Ver­langens nach dessen Gewährung und Aus­übung ver­schoben haben. Der FPÖ-Natio­nal­rats­ab­ge­ordnete und Süd­tirol-Sprecher  Werner Neu­bauer kon­fron­tierte  den in der Ple­nar­sitzung des Natio­nalrats am 21. November 2014 anwe­senden dama­ligen Außen­mi­nister Sebastian Kurz (ÖVP) mit der Frage, wie die Regierung die Rolle Öster­reichs als Schutz­macht gegenüber Süd­tirol defi­niere. Denn der vom Außen­mi­nis­terium vor­ge­legte „Außen- und Euro­pa­po­li­tische Bericht 2013“ halte auf Seite 74 fest, „dass für Öster­reich kein Zweifel bestehe, dass die Süd­tirol-Auto­nomie völ­ker­rechtlich auch auf dem Selbst­be­stim­mungs­recht beruht, das als fort­be­stehendes Recht von Süd­tirol in Form weit­ge­hender Auto­nomie aus­geübt werde“.

Diese Inter­pre­tation habe den Süd­ti­roler Hei­matbund (SHB) ver­anlaßt, den renom­mierten Inns­brucker Völ­ker­rechtler Peter Pern­thaler mit einer „gut­ach­ter­lichen Klärung zu dieser heiklen Inter­pre­tation der Bun­des­re­gierung“ zu beauf­tragen. Im Gut­achten, so Neu­bauer, werde „klar zum Aus­druck gebracht, dass das Recht auf Selbst­be­stimmung nicht nur den Staats­na­tionen, sondern ‚jedem Volk und jeder Volks­gruppe‘ zukommt und dass weder das ‚innere‘ noch das ‚äußere Selbst­bestim-mungs­recht‘ Süd­tirols durch die Auto­nomie auf­ge­hoben oder ver­braucht worden“ sei. Der Süd­ti­roler Landtag habe sich in einem Beschluß vom 9. Oktober 2014 zu den UN-Men­schen­rechts­pakten bekannt und das in Artikel 1 ver­an­kerte Selbst­bestim-mungs­recht der Völker auch für Süd­tirol bekräftigt. Dieser Süd­ti­roler Landtags-beschluß stehe ganz offen­sichtlich  „im Gegensatz zur Inter­pre­tation von Auto­nomie und Selbst­be­stim­mungs­recht der öster­rei­chi­schen Bun­des­regie-rung“, stellte Neu­bauer fest und brachte zusammen mit Abge­ord­ne­ten­kol­legen seiner Partei einen Antrag „zur Klärung in dieser für die Süd­ti­roler so wesent­lichen Frage“ ein.

Wie anhand von Speckners Publi­kation beim wei­teren Verfolg der Ange­le­genheit  zu ersehen ist, hat sich an der dama­ligen Inter­pre­tation, wie sie im Bericht des Außen­mi­nis­te­riums von 2013 nie­der­gelegt war, eben­so­wenig geändert wie an der Haltung des (nach­ma­ligen und seit 1921 vor­ma­ligen Kanzlers) Sebastian Kurz und dessen Partei ÖVP, die (derzeit noch) in Regie­rungs­ko­alition mit den Grünen ver­bunden ist, deren Emp­fin­dungen für Süd­tirol ohnedies keine „Her­zens­sache“ sein mögen.

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Biblio­gra­phische Angaben: Speckner, Hubert (Hrsg.), „Her­zens­sache“ Süd­tirol …. Süd­tirol in den Natio­nal­rats­sit­zungen der Zweiten Republik Öster­reich 1945 bis 2020, Verlag Gra&Wis, Wien / Effekt! Buch, Neu­markt a.d. Etsch/Südtirol 2022; Bd. 1: 1945 bis 1966; Bd, 2: 1966 bis 1979; Bd.3: 1979 bis 1996; Bd. 4: 1996 bis 2020; insg. 3120 Seiten; zus. 80 €