Anna hat Angst. Was aber in dem 19jährigen Mädchen genau vorgeht, weiß nur sie allein und bleibt Außenstehenden meist verborgen, denn Anna ist durch die Hölle gegangen. Anna gibt sich Mühe, die hässlichen Bilder der Vergangenheit zu vergessen, doch die Narben auf ihrer jungen Seele heilen nur langsam.
Es sind tiefe Narben. Sehr tief sitzen sie. Wie ein Stachel im Fleisch. Diese Narben bestimmen nun die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Zum ersten Mal gewahrt Anna Einblick in ihr Tagebuch. Es sind Stationen ihres Lebens, die sie nun für immer hinter sich lassen möchte. Ein erschütternder Schicksalsreport von Frank Schwede.
„Ich ging durch die Hölle! Ich habe dem Teufel ins Gesicht geblickt. Ich weiß es. Jetzt könnte ich schreien vor Glück!“
Endlich kann sie wieder lächeln. Auch wenn es nur ein vorsichtiges, ein leises, ein unauffälliges Lächeln ist. Doch es gelingt ihr. Und mit jedem kleinen Lächeln, das über ihre schmalen Lippen huscht, schwindet die Todesangst ein kleines Stückchen mehr.
Endlich fühlt sich Anna wieder frei. Anna heißt in Wirklichkeit anders. Dieser Name soll sie schützen. Schützen vor bösen Menschen. Menschen, die mit Menschen, sehr jungen Menschen wie Anna, Geld verdienen. Es ist dreckiges Geld, das sehr böse Menschen bereitwillig gezahlt haben, um ihren jungen, zarten Körper berühren zu können.
Anna trägt ihr Schicksal in einem kleinen Büchlein unter ihrer Jacke, fest an sich gepresst. Es sind Momente ihres Lebens, die sie gerade versucht aus ihrem Gedächtnis zu löschen. So, wie man einen Datenträger löscht. Doch beim menschlichen Gehirn geht das nicht so einfach, das ist schließlich ein wenig komplizierter gepolt.
Anna ist jetzt neunzehn. Als ihre Seele gebrochen wurde, war sie noch ein Kind, fast zumindest. Da war sie sechzehn. Ihre Hüften sind schmal. Ihr Haar pechschwarz. Schulterlang. Sie liebt das Meer. Sie merkt sich die Namen von Menschen, die sie trifft. Auch an die vielen Gesichter, die sie zu Gesicht bekommen hat, kann sie sich noch sehr gut erinnern. Sie hat ein fotographisches Gedächtnis, das die Bösen mächtig in die Bredouille bringen kann, wenn man sie denn erwischt.
Anna also, ein junges Mädchen auf dem Weg zur Frau, mit offenem Blick, trägt mit sich: Die handschriftlichen Skizzen ihres Martyriums. Wort für Wort. Zeile für Zeile auf weißes Papier gemalt. In kindlicher Schönschrift. Das sind die Beweise, die Anna hat. Beweise gegen Menschen, die ihr Böses getan haben, die ihre junge Seele zerstört haben. In einem einzigen Jahr.
Und dann sind da noch die Fotos, die sie in schicken Kleidern zeigen, gestylt, mit viel Puder und Rouge im Gesicht. Stumme Zeitzeugen in verblassten Farben auf glänzendem Fotopapier. Anna bei einer Modenschau in Bukarest. Ihre ersten Gehversuche auf dem Laufsteg, ihre ersten Träume von einer großen Karriere. Aufgenommen, drei Monate vor ihrem Weggang. Am Ausgang wartete damals ein Mann. Gut aussehend, so um die dreißig. Er berührte ihren Arm und fragte:
„Mädchen, wie heißt du? Du bist hübsch. Ich bringe dich groß raus. Ich kenne da eine Agentur in Deutschland.“ Anna sagte ein wenig schüchtern und mit aufgesetzter, kindlicher Unschuldsmine: „Hier ist die Adresse meiner Mutter, und was brauchen Sie noch?“
Als Anna nach Hause ging, sah sie sich schon auf einem Laufsteg in New York und sie schwebte – sie schwebte ungläubig, aufgeregt, wie man ebenso träumt, als pubertierender Teenager. Anna hatte schon damals viel von Deutschland gehört und dachte, dort gibt es von allem zu viel und auch sie könne etwas davon abhaben.
Heute gibt Anna zu, dass sie damals mächtig naiv war und jedem so gut wie alles geglaubt hat, wenn es nur der nötige Schub nach ganz oben war.
Anna stammt aus einem kleinen Dorf in Rumänien, rund zwanzig Kilometer entfernt von Bukarest. Die meisten Häuser hier sind halb verfallen, aber trotzdem noch bewohnt. Bewohnt von Menschen, die kein anderes Leben kennen. Die Alten haben sich mit Armut und Einsamkeit abgefunden. Die Jungen wollen nur eins: Weg von dort.
Leben, Geld, Freiheit. Ein Leben eben, wie es sich auch Anna gewünscht hat. Damals, mit sechzehn. Der Mann, der sich Anna als Lazlo vorgestellt hat, sagte: „Um das beste Model der Welt zu werden, musst du Rumänien verlassen.“
Anna hatte lange über die Worte nachgedacht und mit ihrer Mutter nächtelang diskutiert. Anna kannte die Bilder von puppenhaften, superschlanken Mannequins in den einschlägigen Modezeitschriften und Katalogen. Und sie kannte ihre Leidensgeschichte. Doch sie wusste damals auch: So möchte ich mal werden.
Und Anna wusste auch: Dass der Weg oft im Saal eines Gasthofs beginnt. Bei Anna war es eine Turnhalle in Bukarest. Eine große, mit einer großen Zuschauertribüne. Sie war an jenem Tag bis auf den letzten Platz besetzt. Mehr als zweihundert Besucher waren das. Und alle haben applaudiert. Das Scheinwerferlicht hatte Anna gut getan. Es wirkte wie Speed, erinnert sich die Neunzehnjährige noch heute. Berauschend, prickelnd wie Champagnerperlen auf der Zunge.
Annas Mutter freute sich über den Besuch von Lazlo. Eines Abends stand er vor der Haustür. Freundlich und gut gekleidet und mit ebenso guten Manieren. Dann sagte er, dass die Karriere fünfhundert Euro koste. Für Annas Mutter ein halbes Vermögen. Doch Anna weiß noch, dass sehr oft das Wort Chance gefallen sei. Annas Mutter lieh sich das Geld schließlich bei Freunden und Bekannten.
Die Mädchen müssen sich splitternackt ausziehen und Videos werden gedreht.
Dann kam schließlich der Tag der Abreise. Für Anna ein großer Tag. Ein Tag, der ihr Leben für immer verändern sollte. Doch nicht so, wie Anna sich das wünschte. Noch in Bukarest wurde den Mädchen die Pässe abgenommen. Angeblich wegen der Formalitäten an der Grenze.
Kein Mädchen schöpfte Verdacht. Auch Anna nicht. Warum auch. Schließlich stand hier eine Karriere auf dem Spiel. Vielleicht sogar eine sehr große Karriere. Wer fragt da schon, ob das auch wirklich alles so in Ordnung ist, mit den Pässen.
Was Anna und die anderen Mädchen zu diesem Zeitpunkt nicht wussten war, dass Lazlo in Wirklichkeit kein Model-Scout war, sondern ein Mädchenhändler, ein Kopfgeldjäger, der junge, sehr junge Mädchen nach Deutschland und den Niederlanden vermittelte.
An gut bezahlte Kunden. Oft auch an VIPs. Menschen, denen man das nicht zutrauen würde, was sie mit den unschuldigen Mädchen so alles treiben. Dinge, die man sich in seinen schlimmsten Alpträumen nicht ausmalen mag.
Am Bukarester Bahnhof steigen Anna und die fünf anderen Mädchen in einen klapprigen Bus. Über holprige Straßen geht es weiter nach Slowenien. Einem Mädchen wird übel, ein anderes klagt über Kreislaufprobleme. Die Luft im Bus ist stickig.
Kurz vor der österreichischen Grenze hält der Bus auf einem Rastplatz. Lazlo sagte, man müsse das Fahrzeug wechseln, der Bus sei kaputt. Die Mädchen dürfen zum Pinkeln ins Gebüsch verschwinden, natürlich unter Aufsicht. Nach einer Stunde kommt ein Lieferwagen ohne Fenster und mit Werbeaufdruck an beiden Seiten. Was da draufsteht, kann Ana nicht erkennen. Irgendetwas mit Obst und Gemüse. Der Fahrer ist wie Lazlo Rumäne.
Die beiden unterhalten sich eine Weile, streiten um Geld. Anna versteht nur Wortfetzen. Die Mädchen müssen sich anschließend im Laderaum zwischen Obstkisten kauern und dürfen keinen Mucks von sich geben. Zum ersten Mal schöpft Anna Verdacht, dass da etwas nicht stimmt.
Als sich nach Stunden der Ewigkeit die Türen zum Laderaum wieder öffnen, steht die Sonne bereits hoch am Firmament und blendet die Mädchen. Ihre Augen müssen sich nach stundenlanger Dunkelheit dem Tageslicht erst wieder anpassen.
Die Mädchen sind steif vom langen Sitzen auf dem Boden. Viele haben Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Sie werden in eine große Lagerhalle geführt. Meterhohe Paletten türmen sich links und rechts. Lange passiert hier nichts. Anna spürt Angst in ihren Gliedmaßen. Angst, die ganz langsam von unten nach oben steigt und ihren Kopf zu sprengend droht. Anna zittert wie Espenlaub, obwohl das Thermometer an diesem Tag fünfundzwanzig Grad im Schatten zeigt.
Plötzlich erscheinen ein Mann und eine Frau. Beide so um die dreißig. Sie machen gleich kurzen Prozess und hetzen die Mädchen in einen schwarzen Bus mit getönten Scheiben. Der Bus fährt mit der Gruppe kreuz und quer durch eine Stadt, deren Name niemand kennt.
Anna und die Mädchen wissen zu dieser Zeit noch nicht einmal, in welchem Land sie sind. Die Fahrt endet schließlich in einem Hinterhof. Die Mädchen werden in einen Raum geführt und müssen sich splitternackt ausziehen. Dann werden Fotos gemacht und ein Video wird gedreht. Heute weiß Anna, dass es Kunden gibt, dies sehr viel Geld dafür zahlen, um zu sehen, wenn sich Teenager mit Schamesröte auf den Wangen ganz langsam ausziehen. Doch Anna will das nicht. Sie schämt sich, das vor den Fremden zutun.
Plötzlich fliegt die Hand des Mannes durch die Luft. Sie trifft Anna von unten am Kinn. Anna schlägt der Länge nach auf den Boden. Ihr wird schwarz Augen. Blut rinnt aus ihrer Nase. Dicke Tropfen vereinen sich zu einem bizarren Muster auf dem kalten Steinboden. Die anderen Mädchen halten den Atem an, einige schreien panisch. Andere schweigen aus Angst.
Der Fremde zieht Anna wieder hoch und hält ihr ein Taschentuch hin. Anna wischt sich das Blut aus dem Gesicht. Die Videokamera dreht unaufhörlich. Auch solche Szenen sind gefragt. Szenen der Gewalt und der Angst. Geschrieben in Teenagergesichtern.
Die Mädchen verdienen an einem Abend oft mehr als Zehntausend Euro
Anna wird nackt in ein Kellerverließ gesperrt. Zwei Tage und Nächte ohne Nahrung. Das ist ihre Strafe. Nur zwei Flaschen Wasser. Mehr gibt’s nicht. Nach zwei Tagen öffnet sich die Tür wieder. Anna wird vor die Wahl gestellt. Entweder sie pariert oder sie wird ihre Mutter nie wieder sehen. Anna versteht und tut, was man von ihr verlangt.
Der Ort, an dem sie und die anderen Mädchen von nun an arbeiten werden, ist ein privater Saunaclub hinter biederer Fassade. In einem unscheinbaren Viertel, in einem unscheinbaren Haus. Ein Privatclub, in dem sich gut betuchte Businesstypen die Klinke in die Hand geben. Hier, wo der Champagner in Strömen fließt, spielt Geld keine Rolle.
Hier ist alles erlaubt, was Spaß macht. Weil, hier ist man schließlich unter sich. Hier kennt man sich, hier lässt man seine Maske fallen und lässt die Sau raus.
Die Mädchen verdienen an einem Abend oft mehr als zehntausend Euro. Oft auch mehr. Das ist viel Geld. Soviel Geld auf einen Haufen hat Anna niemals zuvor in ihrem jungen Leben gesehen. Doch von dem Geld bleibt den Mädchen nicht einmal ein Taschengeld übrig. Ihre Pässe liegen sicher im Tresor. Anna stellt sich von nun an immer dieselbe Frage. Sie wiederholt sie Silbe für Silbe, mehrere hundert Mal am Tag:
„Was sind das für Leute. Warum muss sie so perverse Dinge tun? Wo bin ich? Wie geht es meiner Mutter?“
Anna ist in diesem Leben oft high. Manchmal tagelang. Anna wird ausgepeitscht, mit Blut und Kot von oben bis unten eingerieben. Es stinkt erbärmlich. Manche urinieren auf ihren Brüsten, andere penetrieren sie bis zur Bewusstlosigkeit zwischen Beinen, bis das Blut spritzt. Oft drei bis vier Mal hintereinander.
Bis sie nichts mehr spürt, die Augen schließt und nur noch weg ist. Viele von den Menschen dort tragen seltsame Masken. Teufelsmasken, tierische Fratzen mit übergroßen Augen. Anna erinnert sich nur noch schwach. Nur an eins erinnert sie sich genau.
Es war dieser Schrei, einen Schrei, wie sie ihn noch nie in ihrem Leben zuvor gehört hat. Sie hat ihn bis heute nicht aus ihren Ohren bekommen. Er dröhnt und schlägt wie ein Knüppel auf ihr Trommelfell.
„Es war eins der Mädchen. Ludmilla hieß sie. Sie war auch sechzehn. Ich weiß nicht, von wo sie kam. Ich glaube, aus einem Nachbarort. Ich habe sie nie wieder gesehen. Sie haben sie wohl umgebracht. Geschlachtet wie ein Stück Vieh.“
Nach einem halben Jahr wird Anna schließlich aus der Hölle befreit. Ein prominenter Gast hat sie für eine ganze Nacht gebucht. Von mehr als Zwanzigtausend Euro war da die Rede. Daran erinnert sich Anna noch genau. Der Gast darf sie an diesem Abend mitnehmen und mit ihr machen, was er will. Der Fremde ist so um die sechzig. Sein Gesicht ist weich, seine Augen warm.
Er war nicht brutal, wird Anna später vor der Polizei aussagen. Nicht so wie die anderen Kunden. Der Alte erinnert Anna an einen Kauz aus ihrem Heimatdorf. Einer, bei dem sie oft die Ziegen streicheln durfte, wenn sie aus der Schule kam.
Die Fahrt in einer schweren Limousine mit Chauffeur führt durch vornehme Stadtviertel zu einem Anwesen mit großem, schmiedeeisernen Tor. Viel Marmor und riesige Wellnessoasen, daran erinnert sich Anna noch gut.
Doch was an diesem Abend und in der Nacht geschah, daran kann sich Anna nicht mehr erinnern. Als sie wieder wach wird, liegt sie in einem Krankenhausbett.
Eine ältere Frau von der Kripo stellt viele Fragen, will genau wissen, was passiert ist. Jedes kleine Detail will sie wissen. Sie sagt, ein Autofahrer habe sie in jener Nacht halbnackt in einer Bushaltestelle gefunden. Anna war vollgepumpt mit Amphetaminen. Das ergab die toxikologische Untersuchung im Krankenhaus. Auf die vielen Fragen gibt Anna schließlich keine Antwort. Sie schweigt. Sie schweigt aus Angst. Sie schweigt aus Scham, sie schweigt, weil man sie und ihre Mutter bedroht hat.
Das einzige, was Anna später zu Protokoll geben wird ist, dass sie auf einer Party war, wo ´ne Menge geraucht und gesoffen wurde. Viele Menschen seien dort gewesen. Menschen, die sich nicht kannten. Menschen, die sie wie eine Schaufensterpuppe behandelten. Grapschten, auf den Mund küssten und sich über ihre Tollpatschigkeit lustig machten. Ob sie vergewaltig wurde, wollte Polizei noch wissen.
„Nein, vergewaltigt wurde ich nicht. Ich will auch keine Anzeige stellen, ist ja schließlich nichts passiert.“
Anna hat überlebt. Ein Privileg? Vielleicht. Vielleicht hatte sie aber auch nur Glück. Glück, dass der Alte sie hat am Leben gelassen. Vielleicht aber war der Alte auch nur ihr Schutzengel. Denn Anna ist sich sicher, dass sie in jener Nacht mehr als nur einen Schutzengel an ihrer Seite hatte.
Und Anna ist sich auch sicher, dass eine große Organisation hinter ihrer Verschleppung steckt. Mit Leuten an der Spitze, die Kontakte nach ganz oben haben. Bis hoch in die Politik.
Heute lebt Anna mit ihrer Mutter an einen geheimen Ort. Wenige Wochen nach unserem Treffen schrieb sie mir eine Mail:
„Ich habe Angst, große Angst, dass mir und meiner Mutter etwas zustößt. Ich will jetzt meinen Schulabschluss nachholen. Danke, dass Sie mir zugehört haben.“
Bleiben Sie aufmerksam!
Quellen: PublicDomain/Frank Schwede am 24.07.2017