Foto: Eine Wohnstraße im Stadtteil Clichy-sous-Bois, der zum Pariser Vorort Seine-Saint-Denis gehört, der in einem neueren Bericht als "Wüste der Deindustrialisierung" bezeichnet wurde, wo "ein Drittel der Bevölkerung nicht die französische Staatsangehörigkeit hat und viele Bewohner sich zu einer islamischen Identität hingezogen fühlen" (Foto: Marianna/Wikimedia Commons)

Frank­reich: Macron beerdigt Plan zur Sanierung der “No-Go-Zonen”

Frank­reichs Prä­sident Emmanuel Macron hat seine Pläne zur Sanierung der ban­lieues – von Armut und Kri­mi­na­lität geprägte Viertel mit großen mus­li­mi­schen Bevöl­ke­rungs­gruppen – deutlich redu­ziert und statt­dessen die ört­lichen Bür­ger­meister und zivil­ge­sell­schaft­lichen Gruppen dazu auf­ge­rufen, Lösungen vor Ort zu finden.
(Von Sören Kern)
Der poli­tische Schwenk kommt im Zuge wochen­langer interner Debatten darüber, ob ein Handeln von oben oder von unten der richtige Weg ist, das Leben in den ban­lieues zu ver­bessern, die Brut­stätten für isla­mi­schen Fun­da­men­ta­lismus sind und die wegen der dort herr­schenden gefähr­lichen Bedin­gungen für die Polizei und andere Reprä­sen­tanten des Staates oft als No-Go-Zonen gelten.
In seiner Rede, die Macron am 22. Mai im Élysée-Palast hielt und an die im Vorfeld hohe Erwar­tungen gerichtet worden waren, kün­digte er bloß bescheidene Initia­tiven ohne eigene Haus­halts­mittel an, dar­unter die Ein­stellung von mehr Poli­zisten, ein Vor­gehen gegen den Dro­gen­handel und ein Pro­gramm, das unter­pri­vi­le­gierten Jugend­lichen Fir­men­praktika ermög­lichen soll.
Vor 600 Gästen, dar­unter Abge­ord­neten, Unter­nehmern, Gemein­de­vor­stehern und Anwohnern, sagte Macron, er werde keinen wei­teren “Mar­shall-Plan für die Vor­städte” ver­künden – so wurde ein Plan zur städ­ti­schen Erneuerung aus dem Jahr 2008 genannt –, da min­destens zehn solcher Stra­tegien bereits früher gescheitert seien:
“Ich werde keinen Cityplan oder Vor­stadtplan ver­künden, weil diese Stra­tegie so alt ist wie ich selbst. Der erste Plan wurde von [dem frü­heren Minis­ter­prä­si­denten] Raymond Barre etwa zu jener Zeit prä­sen­tiert, als ich geboren wurde … Wir sind am Ende dessen ange­langt, was diese Methode fähig ist zu leisten.”
Macron for­derte eine “Gene­ral­mo­bil­ma­chung”, um das Fun­dament für “eine Politik der Eman­zi­pation und Würde” zu legen, die auf einer “Phi­lo­sophie des Han­delns” und einer “Ver­än­derung der Methode” basieren soll, um die Bewohner ver­armter Viertel aus ihrem “Haus­arrest” her­aus­zu­be­kommen. Was die Sicherheit betrifft, rief Macron nach einer “Gesell­schaft der Wach­samkeit”, die mit den Prä­fekten, den gewählten Beamten und den Anwohnern gebaut werden soll, und in der “jedermann ein Akteur der kol­lek­tiven Sicherheit” sei.
Macron for­derte zudem die 120 füh­renden Unter­nehmen Frank­reichs auf, “ihren Teil” im Kampf gegen die Dis­kri­mi­nierung von Afri­kanern, Arabern und Mus­limen bei­zu­tragen: “Wir werden die Tests aus­weiten, mit denen wir das Ver­halten prüfen und sicher­stellen, dass es bei der Job­vergabe keine Dis­kri­mi­nierung gibt.”
Macrons Vor­schläge sind weit ent­fernt von dem ambi­tio­nierten Plan, der weniger als vier Wochen zuvor von dem frü­heren Minister Jean-Louis Borloo ver­kündet worden war, den Macron beauf­tragt hatte, eine große Stra­tegie für die ban­lieues zu formulieren.
Der 164-Seiten-Bericht – “Zusammen leben, gut leben: für eine nationale Aus­söhnung” (“Vivre ensemble, vivre en grand: Pour une récon­ci­liation nationale”) –, der am 26. April nach neun­mo­na­tiger Arbeit vor­ge­stellt worden war, führte 19 Vor­schläge an, die darauf zielten, einen “radi­kalen Wandel” zu bringen. Dazu gehörten eine Kon­zen­tration auf die Bildung und Beschäf­tigung sowie eine Sanierung der ver­fal­lenden Gebäude und Infra­struktur. Die Umsetzung des Plans hätte 38 Mil­li­arden Euro gekostet. “Am Ende meiner fünf­jäh­rigen Amtszeit möchte ich das Gesicht unserer Viertel ver­ändert haben; nicht, weil wir eine bestimmte Summe Geld inves­tiert haben, sondern weil wir unsere Methoden geändert haben”, sagte Macron. “Es ergibt keinen Sinn, dass zwei weiße Männer, die nicht in diesen Bezirken leben, einen Bericht aus­tau­schen. Das funk­tio­niert nicht mehr.”
Die erste Reaktion auf Macrons Rede war fast ein­hellige Ent­täu­schung über die ver­passte Gele­genheit. “Wir haben kon­krete poli­tische Vor­gaben erwartet”, sagte der Bür­ger­meister von Aulnay-sous-Bois, Bruno Beschizza. “Bis jetzt gibt es nichts Prak­ti­sches. Ich bin mit leeren Händen herausgekommen.”
Sté­phanie Daumin, die Bür­ger­meis­terin von Che­villy-Larue, einer Gemeinde in den süd­lichen Vor­städten von Paris, twit­terte:
“Wir haben starke Taten und Zusagen erwartet und bekamen nur Worte ser­viert. Eine kalte Dusche für die, die am #Rap­port­Borloo gear­beitet haben und die die Gegenden wie­der­aus­ba­lan­cieren wollen und sich die Rückkehr der repu­bli­ka­ni­schen Gleichheit wünschen.”
Laurent Wau­quiez, der Führer der Mitte-Rechts-Partei der Repu­bli­kaner, beschrieb Macrons Rede als “poli­tische Rede-und-tue-nichts-Show” und “Foto­termin”.
Éric Coquerel, Abge­ord­neter der links­ra­di­kalen Partei La France Inso­umise, bezich­tigte Macron, den Borloo-Report “beerdigt” zu haben und jene zu “demü­tigen”, die daran gear­beitet hätten. Er fügte hinzu, dass Macron “eine Reihe von Maß­nahmen” vor­ge­schlagen hätte, “ohne Finan­zierung, Inves­ti­tionen oder Neuheiten”.
Sté­phane Le Foll, ein früher Sprecher der sozia­lis­ti­schen Regierung von Prä­sident François Hol­lande, twit­terte: “Wir erleben die Liqui­dierung des Borloo-Plans.”
Marine Le Pen, die Vor­sit­zende des Front National, bemerkte, dass Macron ver­säumt habe, die Themen Ein­wan­derung und Isla­mismus anzusprechen:
“Kaum ein Wort zur Ein­wan­derung, kaum ein Wort zum isla­mi­schen Fun­da­men­ta­lismus. Wir wissen nur allzu gut, dass diese Pro­bleme die Quelle der Schwie­rig­keiten in den Vor­städten sind. Sich zu weigern, die Wirk­lichkeit zu sehen, heißt, sich selbst zum Scheitern zu verdammen.”
Geschätzte sechs Mil­lionen Men­schen – rund ein Zehntel der fran­zö­si­schen Bevöl­kerung – leben in den 1.500 Vierteln, die von der Regierung als “sen­sible urbane Zonen” (zones urbaines sen­sibles, ZUS), klas­si­fi­ziert sind, vor­rangige Ziele für städ­tische Erneuerung.
Im Oktober 2011 kam ein weg­wei­sender 2.200-Seiten-Bericht mit dem Titel “Vor­städte der Republik” (“Ban­lieue de la Répu­blique”) zu dem Ergebnis, dass viele fran­zö­sische Vor­städte zu “sepa­raten isla­mi­schen Gesell­schaften” werden, die vom fran­zö­si­schen Staat abge­schnitten sind und wo das isla­mische Recht das fran­zö­sische Zivil­recht mit großer Geschwin­digkeit ver­drängt. Der Bericht sagt, dass mus­li­mische Ein­wan­derer mehr und mehr die fran­zö­si­schen Werte ablehnten und sich statt­dessen dem radi­kalen Islam zuwendeten.
Der von dem ein­fluss­reichen fran­zö­si­schen Think-Tank L’In­stitut Mon­taigne in Auftrag gegebene Bericht wurde unter Leitung des renom­mierten Poli­tik­wis­sen­schaftlers und Islam­spe­zia­listen Gilles Kepel erstellt, zusammen mit fünf anderen fran­zö­si­schen Wissenschaftlern.
Die Autoren zeigen, dass Frank­reich – wo es mitt­ler­weile 6,5 Mil­lionen Muslime gibt (die größte mus­li­mische Popu­lation in der EU) – infolge der feh­lenden Inte­gration der Muslime in die fran­zö­sische Gesell­schaft vor einer großen sozialen Explosion steht.
Der Bericht zeigt zudem, wie das Problem von mus­li­mi­schen Pre­digern ver­stärkt wird, die sich für eine soziale Mar­gi­na­li­sierung der mus­li­mi­schen Immi­granten ein­setzen, um eine mus­li­mische Par­al­lel­ge­sell­schaft zu gründen, die vom Scha­ria­recht regiert wird.
Der Bericht unter­suchte vor allem die Seine-Saint-Denis-Bezirke Clichy-sous-Bois und Mont­fermeil, zwei Vor­städte, die Aus­gangs­punkt der mus­li­mi­schen Aus­schrei­tungen im Herbst 2005 waren, als mus­li­mische Mobs mehr als 9.000 Autos anzündeten.
Der Bericht beschreibt Seine-Saint-Denis als eine “Wüste der Deindus­tria­li­sierung” und sagt, dass in einigen Gebieten “ein Drittel der Stadt­be­völ­kerung nicht die fran­zö­sische Staats­bür­ger­schaft besitzt” und sich “viele Bewohner zu einer isla­mi­schen Iden­tität hin­ge­zogen fühlen”.
Ein anderes Viertel von Seine-Saint-Denis ist Auber­vil­liers. Es wird manchmal als eines der “ver­lo­renen Ter­ri­torien der fran­zö­si­schen Republik” bezeichnet, seine Bevöl­kerung besteht zu mehr als 70 Prozent aus Mus­limen. Drei Viertel der jungen Leute unter 18 sind Aus­länder oder Fran­zosen aus­län­di­scher Her­kunft, vor allem aus dem Maghreb oder der süd­lichen Hälfte Afrikas. Die fran­zö­sische Polizei, so heißt es, traue sich selten in diesen gefähr­lichsten Teil der Stadt.
Eine Tag vor Macrons Rede zeigten fran­zö­sische Fern­seh­sender Bilder von mas­kierten Bewaff­neten, die am hell­lichten Tag in Mar­seille das Feuer eröffnen. Die Angreifer, in schwarz gekleidet und mit Kalasch­nikows, ent­führten eine Person, zerrten sie in ein Auto und fuhren davon, während die Polizei hilflos zuschaute. Die Gangster, von denen man annimmt, dass sie an einem Ban­den­krieg beteiligt sind, bei dem es um die Kon­trolle des Dro­gen­handels in der Stadt geht, “fürchten weder die Polizei noch die Justiz”, sagt ein Beamter. Die Polizei habe “keine Chance gehabt”, da sie über­rumpelt und in der Bewaffnung unter­legen gewesen sei.
In Paris gab Macron unter­dessen zu, dass Frank­reich “die Schlacht gegen den Dro­gen­handel in vielen Städten ver­loren” habe. Er ver­sprach, “bis Juli” einen neuen Plan zur Bekämpfung des Dro­gen­handels vorzulegen.
 


Soeren Kern ist ein Senior Fellow des New Yorker Gatestone Institute.