Blogger ent­hüllt Fake-Vita der Ber­liner Senats­spre­cherin — und wird per Poli­zei­aktion drangsaliert

Es ist der 18. Juli früh­morgens um sechs Uhr, da klopft und hämmert die Polizei an der Tür des 72jährigen Hanjo Lehmann im Ber­liner Stadtteil Frie­denau. Sie hat einen gericht­lichen Beschluss zur Durch­su­chung und Beschlag­nahme, sowohl für seine Pri­vat­räume als auch für sein Büro ein paar Straßen weiter. Sechs Beamte durch­kämmen die Wohnung des älteren Herrn, als gehe es um gefähr­liche Ver­brechen, wie Dro­gen­handel, Men­schen­schmuggel, ille­galen Waf­fen­besitz oder eine Ter­ror­zelle. Sie beschlag­nahmen alle inter­net­fä­higen PCs und Laptops, alle Fest­platten, USB-Sticks – über­haupt alle Daten­träger, den Drucker, das Smart­phone Hanjo Leh­manns sowie das nicht-inter­net­fähige Handy, über das er die TAN-Nummern für sein Online-Banking gesendet bekommt.
Wer ist Hanjo Lehmann? Fragt sich der Leser. Was hat er getan, dass es eines so großen Poli­zei­auf­ge­botes und so dras­ti­scher Mittel bedarf? Eine rechte Ter­ror­zelle, die Mord­an­schläge auf unschuldige Migranten plant? Ein Mit­glied eines Pädo­phi­len­ringes, das im Darknet auf­ge­stöbert wurde? Nicht? Warum hat dann das Ber­liner Amts­ge­richt Tier­garten am 10. Juli diesen rabiaten Durch­su­chungs­be­schluss auf Antrag der Ber­liner Staats­an­walt­schaft erlassen?
Hanjo Lehmann ist Schrif­steller, Autor eines his­to­ri­schen Romans, stu­dierter Medi­ziner und ein Experte in tra­di­tio­nellen, chi­ne­si­schen Heil­me­thoden. Also nicht unbe­dingt das klas­sische Profil eines Schwer­kri­mi­nellen. Was war geschehen?
Herr Lehmann benutzte Kar­ten­ma­terial von der Seite www.berlin.de, einem Ber­liner Stadt­portal. Er dachte, da es eine öffent­liche Seite der Stadt und des Senates von Berlin für die Ber­liner Bürger ist, dürfe er auch Gra­fiken davon frei benutzen. So ver­wendete er Kar­ten­ma­terial davon. Das durfte er aber nicht: Sofort waren ihm die Abmahn­an­wälte auf den Fersen und schickten ihm, wie vielen anderen, die auch so dachten, eine kos­ten­pflichtige Abmahnung mit Bußgeld.
 

 
Hanjo Lehmann war sauer. Er fand das unfair für eine städ­tische Seite und begann nach­zu­for­schen, wer denn hinter dem Stadt­portal steht. Und er wird fündig: Seit dem 22.12.2016 ist eine Frau Claudia Sünder neue Senats­spre­cherin und Lei­terin des Presse- und Infor­ma­ti­ons­amtes des Landes Berlin:
Zu Beginn des neuen Jahres wird die Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin Claudia Sünder (47) beim Regie­renden Bür­ger­meister von Berlin ihre neue Stelle als Senats­spre­cherin und Lei­terin des Presse und Infor­ma­ti­ons­amtes über­nehmen. Claudia Sünder wird in der Senats­kanzlei ihren Dienst als Abtei­lungs­lei­terin antreten und damit die gesamte Kom­mu­ni­kation aus dem Roten Rathaus ver­ant­worten.

Und nun nahm Hanjo Lehmann die Fährte auf. Wer war denn diese Claudia Sünder? Er ver­tiefte sich in die Vita der Dame und was er da alles so an Selt­sam­keiten fand, ver­ar­beitete er in einem sati­ri­schen Dossier „Claudia Sünder – Ana­tomie einer Auf­schnei­derin”, das er an Mit­glieder des Ber­liner Abge­ord­ne­ten­hauses ver­teilte und in dem er sich über die Senats­spre­cherin Claudia Sünder als „Flunker-Queen“ und „töl­pel­hafte FDJ-Pflanze aus Bol­ten­hagen“ lustig machte. Doch der regie­rende Bür­ger­meister Michael Müller bzw. dessen Kanzlei for­derte seine Senats­spre­cherin nicht etwa auf, zu den Merk­wür­dig­keiten in ihrer Vita Stellung zu nehmen. Statt­dessen wurde eine Anwalts­firma auf Hanjo Lehmann ange­setzt. Gegen Hanjo Lehmann wurde Anzeige wegen Belei­digung und übler Nachrede gestellt, wor­aufhin die Polizei mit Durch­su­chungs- und Beschlag­nah­mung­be­schluss bei Herrn Lehmann auftauchte.

Vor Gericht wurden dann am 26. Juli zwar die eine oder andere zu anzüg­liche For­mu­lierung ver­boten, aber die wesent­lichen und wirklich brenz­ligen Teile des Dos­siers hielt das Gericht nicht nur für rechtlich zulässig, sondern sah in Hanjo Leh­manns Nach­for­schungs­er­geb­nissen auch durchaus Anhalts­punkte dafür, dass seine Behaup­tungen den Tat­sachen ent­sprechen könnten.

Der Wahr­heits­gehalt der Angaben, die Frau Claudia Sünder in ihrem offi­zi­ellen Lebenslauf behauptet, wurde nicht nur von Hanjo Lehmann recher­chiert und für dürftig befunden, auch ver­schiedene Medien wurden auf­merksam, als die causa Claudia Sünder vor Gericht kam. Der offi­zielle Lebenslauf von Frau Sünder ist auf Berlin.de ein­sehbar:

 
Herr Lehmann wurde gleich zu Anfang seiner Suche, nämlich bei dem abge­bil­deten Lebenslauf stutzig: Frau Claudia Sünder ist Jahrgang 1969 und an der Ostsee in Gre­ves­mühlen geboren. Als 19jährige will sie ab 1988 bereits als Redak­teurin beim „Pres­se­dienst Berlin“ gear­beitet haben? Tat­sächlich aber beschränkte sich ihre damalige Tätigkeit „auf gänzlich unbe­deu­tende DDR-Regio­nal­blättchen“, was das Gericht, an dem der Fall nun ver­handelt wurde, auch kri­tisch fest­stellte. Nach den in der dama­ligen DDR vor­ge­ge­benen Aus­bil­dungs­ab­läufen konnte sie überdies zu dem Zeit­punkt noch keine aus­ge­bildete „Redak­teurin“ sein.
1990 bis 1996 schloss sich nach Dar­stellung von Frau Senats­spre­cherin Claudia Sünder ein Studium an der Freien Uni­ver­sität Berlin in Poli­ti­schen Wis­sen­schaften, Spa­nisch und Ger­ma­nistik an. In einem frü­heren Beitrag in der Presse über Frau Sünder wurde aber geschrieben, sie sei von 1992 bis 1996 als Sach­be­ar­bei­terin tätig gewesen. Wie nun? Hanjo Lehmann will her­aus­ge­funden haben, dass es Frau Sünder nicht nur gelungen war, gleich­zeitig als Sach­be­ar­bei­terin zu arbeiten und Poli­tische Wis­sen­schaften, Spa­nisch und Ger­ma­nistik an der Uni­ver­sität zu stu­dieren, sie brachte auch noch das Wunder fertig, den Stu­di­engang Spa­nisch zu absol­vieren, der an der Uni­ver­sität in dieser Zeit gar nicht ange­boten worden sein soll.
Ob sie über­haupt irgend­einen Abschluss an der FU Berlin erlangt hat, scheint in ihrer Vita als Regie­rungs­spre­cherin über­haupt nicht auf. Da so etwas zwingend dort hin­ein­gehört, darf man ver­muten, es gibt keinen.
Von 1996 bis 1998 will Frau Sünder als „Kauffrau der Grund­stücks- u. Woh­nungs­wirt­schaft“ gear­beitet haben. An anderer Stelle ist gar von der „Führung einer Immo­bi­li­en­firma die Rede, wie Hanjo Lehmann her­ausfand. Überdies scheint sie es mit der Bezeichnung ihres Arbeit­gebers hier nicht so genau genommen zu haben:
Diese “Könnecke Immo­bilien u. Grund­stücks­ge­sell­schaft mbH in Bol­ten­hagen”, bei der Frau Sünder eine Leitung über­nommen haben will, ist im bun­des­weiten elek­tro­ni­schen Han­dels­re­gister unter diesem Namen nicht auf­findbar, nicht einmal als gelöschte Ein­tragung – weder in Bol­ten­hagen noch anderswo. Aller­dings zeigt das Han­dels­re­gister vier – davon einige erlo­schene — Firmen mit den Namens­be­stand­teilen Könnecke und Immo­bilien an. Doch bei keiner der vier ist eine Füh­rungs­funktion für Claudia Sünder ver­zeichnet, Weder die Geschäfts­führung noch die Funktion der Prokuristin.
Wie Hanjo Lehmann schon zuvor recher­chiert hatte, stellte sich die „Füh­rungs­stelle“ als Leitung eines win­zigen Fili­al­büros heraus:
Das Gericht störte sich überdies daran, dass Sünder ver­breiten ließ, sie habe ab 1996 die “Leitung” einer Immo­bi­li­en­firma in ihrem Hei­matort Bol­ten­hagen in Meck­lenburg inne­gehabt. Tat­sächlich war sie bei der Gesell­schaft aber nicht Mit­glied der Geschäfts­führung, sondern führte nur ein Fili­albüro. Das sei “nicht ver­gleichbar mit der Führung eines Unter­nehmens”, fanden die Richter.“
Vor Gericht kam noch eine weitere Unstim­migkeit ans Licht. Frau Sünder behauptet in ihren offi­zi­ellen Lebenslauf, Kauffrau der Grund­stücks- und Woh­nungs­wirt­schaft zu sein. Der „Stern“ recher­chierte hierzu — nachdem die ganze Sache hoch­kochte — und fand heraus, dass sie diesen Titel wahr­scheinlich gar nicht führen darf. Frau Sünder legte dar­aufhin dem Ber­liner Land­ge­richt eine eides­statt­liche Ver­si­cherung vor, sie habe an einem zwei­jäh­rigen Fern­un­ter­richt zu „Grund­wissen nach dem Berufsbild Kaufmann/Kauffrau in der Grund­stücks- und Woh­nungs­wirt­schaft“ teil­ge­nommen. Dieser Kurs sei vom Bochumer “Institut der Woh­nungs­un­ter­nehmen für Fern­un­ter­richt” ange­boten worden. Sie habe eine Abschluss­prüfung vor dem „Zen­tralen Prü­fungs­aus­schuss für Kauf­leute in der Woh­nungs­wirt­schaft“ bestanden.
Doch ebendies berechtige nicht zum Führen des Titels „Kauffrau“ recher­chierte der „Stern“:
Für den Fern­lehrgang der dor­tigen Bil­dungs­ein­richtung war laut der Industrie- und Han­dels­kammer (IHK) Mitt­leres Ruhr­gebiet in Bochum auf alle Fälle eine Abschluss­prüfung vor der IHK erfor­derlich, bevor man sich Kauffrau oder Kaufmann nennen dürfe. Der Abschluss an der von Sünder genutzten Fern­lehr­ein­richtung berechtige nicht zum Führen des Titels Kauffrau der Grund­stücks- und Woh­nungs­wirt­schaft, sagte der Bochumer IHK-Sprecher Jörg Linden dem stern.“
Überdies zeigt Frau Sünders Profil auf dem Netzwerk Lin­kedIN hierzu eine andere Version der Daten als die offi­zielle Vita. Dem Lin­kedIN-Profil nach nahm sie von 1997 bis 2000 an der „Aus­bildung als Kauffrau der Grund­stücks- und Woh­nungs­wirt­schaft“ in Bochum teil.
Später, ab 2001 stu­dierte Frau Senats­spre­cherin Claudia Sünder an der Fernuni Hagen noch Poli­tische Wis­sen­schaften, Soziale Ver­hal­tens­wis­sen­schaften mit Magis­ter­ab­schluss. So, wie es in der Vita aus­sieht, hat sie das Studium zügig durch­ge­zogen bis 2006. Nach den Recherchen Hanjo Leh­manns dauerte das Fern­studium aber fast 13 Jahre. Das ist ja nichts Vor­werf­bares, nur die Dar­stellung im Lebenslauf erweckt einen anderen Eindruck.
Ihren wei­teren beruf­lichen Wer­degang beschreibt sie mit „Lei­tenden Tätig­keiten“, Leitung der Lan­des­ko­or­di­nation von „Schule ohne Ras­sismus — Schule mit Courage“ für das Kolping-Bil­dungswerk Würt­temberg. Wie Lehmann her­ausfand, han­delte es sich bei dem Posten der Lan­des­ko­or­di­na­torin um eine ehren­amt­liche Tätigkeit. Von einer „Stabs­stelle“ des Stutt­garter Kol­ping­werks, in der sie laut frü­heren bio­gra­fi­schen Angaben gear­beitet haben wollte, wusste beim Kol­pingwerk niemand.“
Am letzten Mittwoch bestä­tigte die Pres­se­stelle des Land­ge­richtes Berlin einen Gerichts­be­schluss, in dem es vor allem um die Art der Dar­stellung Hanjo Leh­manns gegangen sei, und was davon er nicht mehr äußern dürfe. Es sei zum jet­zigen Stand nicht die Aufgabe des Gerichtes gewesen, die Wahrheit bzw. Unwahrheit der von Herrn Lehmann getä­tigten Behaup­tungen festzustellen.
Die vor­ge­worfene „Schmäh­kritik“ sieht das Gericht als in großen Teilen nicht erfüllt an. „Das Land­ge­richt hat die sub­jektive Äußerung des Autors hier für zulässig ange­sehen, weil ihr genügend Anknüp­fungs­tat­sachen zugrunde liegen, deren Unwahrheit die Antrag­stel­lerin nicht glaubhaft machen konnte. (…) Ob eine Mei­nungs­äu­ßerung richtig oder falsch ist, darf ein Gericht nicht prüfen, da die Mei­nungs­freiheit auch falsche Mei­nungen schützt.“, sagte Gerichts­spe­cherin Annette Gabriel.
Herr Hanjo Lehmann darf auch wei­terhin der Senats­spre­cherin Claudia Sünder einen „fast kom­plett erschwin­delten Lebenslauf“ vor­werfen. Gegen den Beschluss können die beiden Streit­par­teien jetzt Beschwerde einlegen.
Den Schaden, den Hanjo Lehmann durch die in diesem Zusam­menhang über­zogen erschei­nende Maß­nahme der Durch­su­chung und Beschlag­nahmung erlitten hat, ist enorm. Und eigentlich überflüssig.
Hanjo Lehmann hat nie den Versuch unter­nommen, seine Urhe­ber­schaft des infra­ge­ste­henden Dos­siers zu ver­bergen, im Gegenteil, er er sendete es mit Absender oder gab es eigen­händig den Ber­liner Abge­or­deten zum Lesen. Was für Beweise, deren Ver­nichtung oder Ver­dun­kelung drohten, hätte die Polizei noch finden sollen?
Der dadurch ver­ur­sachte Schaden des Herrn Lehmann ist beachtlich und hätte ver­mieden werden können. Hanjo Lehmann sieht sich nicht zu Unrecht quasi seiner bür­ger­lichen Existenz beraubt, seine Tätigkeit als Schrift­steller ist vor­läufig und auf unab­sehbare Zeit nicht möglich. Man hatte alle Unter­lagen mit­ge­nommen, alles Arbeits­ma­terial, alle seine Kon­takt­daten, Auf­sätze, Buch­pro­jekte, Manu­skripte, Recher­che­ma­te­rialien, amt­liche Schreiben, private Kor­re­spondenz, per­sön­lichste Fotos von Familie, Freunden, Ver­wandten, seiner Lebens­ge­fährtin – alles liegt nun offen vor den Augen der Ermittler und er weiß nicht einmal ob er alles zurück­be­kommt und in welchem Zustand. Ist das vor dem gege­benen Hin­ter­grund zu vertreten?
Schon werden Stimmen laut, die — nicht ganz weit her­geholt — alte DDR-Seil­schaften ver­muten. Und dass, wenn es um unbot­mäßige Bürger geht und um unan­ge­nehme Öffent­lich­ma­chung von Selt­sam­keiten bei Poli­tikern und Behörden, der Staat plötzlich doch scharfe Zähne zeigt und rabiat zubeißt. Zähne, die er an wesentlich mehr geeig­neter Stelle selt­sa­mer­weise nicht einmal anzu­deuten in der Lage ist.