Präsident Recep Tayyip Erdogan besucht im September Berlin. Dort ist man offen für Gespräche. Die Türkei sei bei vielen wichtigen Themen ein „enger und wichtiger Partner“, ließ Frau Ulrike Demmer die Öffentlichkeit wissen. Man sei immer an einem Gespräch interessiert und daher auch an einem solchen mit Herrn Präsident Erdoğan, sagte die Zweite Regierungssprecherin.
Bei so viel Plattitüden kann Frau Andrea Nahles nicht hintanstehen. Sie erläutert der staunenden Öffentlichkeit, wie das mit dem Regieren so geht: Staatsbesuche aus aller Welt sollten in Deutschland auch in Zukunft ganz normal sein, „und das gehört einfach dazu, wenn man regiert“. Ach, echt jetzt, Frau Nahles?
Wissen Sie, Frau Nahles, in einer Demokratie ist Opposition und Meinungsfreiheit doch auch etwas „ganz Normales“ und auch, dass die Regierung mit der Opposition fair und anständig umgeht, die vom Volk Gewählten respektiert und sie nicht diffamiert, beschimpft, Gewalt gegen sie befürwortet, die Opposition von allem ausschließt und deren Haltung kriminalisiert. Auch das gehört dazu, wenn man regiert. Und diesmal ist hiermit nicht der Umgang von Herrn Präsident Erdoğan mit seinen politischen Kritikern gemeint, sondern Ihr Umgang mit der zweitstärksten Partei in Deutschland, der AfD.
Mit Kritik an Herrn Präsident Erdoğans Regierungstil wurde ja bis vor wenigen Tagen nicht gespart. Der türkische Präsident hatte alle Chancen, mit den herabwürdigenden Bezeichnungen bedacht zu werden, die die Presse immer auspackt, wenn ein Staat destabilisiert werden soll: Regime, Machthaber, Diktator … und nun, auf einmal, ertönen Geigen aus Berlin?
Ein paar Eurer Mitläufer haben das anscheinend nicht schnell genug verstanden, zum Beispiel Herr Çem Özdemir von den Grünen. Er findet, Präsident Erdoğan habe die Türkei in ein Land „mit Zensur, Willkür, Vetternwirtschaft und Autokratie“ verwandelt. Entsprechend solle er bei seinem Besuch im Herbst behandelt werden. Und vor allem aber müsse Erdoğan „unmissverständlich deutlich gemacht werden, dass der Versuch, hier türkisch-nationalistisch-fundamentalistische Parallelstrukturen aufzubauen, nicht geduldet“ werde. Herr Özdemir ist noch nicht geschmeidig genug und zeigt noch so etwas wie Haltung.
Nunja, Zensur, Willkür, Vetternwirtschaft und Autokratie kennen wir hier mittlerweile auch. Uns „Pack-Deutschen“ fallen aber da noch andere Sachen ein, die wir nicht gut finden und die genau dem entspringen, was Herr Özdemir als „türkisch-nationalistisch-fundamentalistisch“ bezeichnet.
Zum Beispiel Kinderbräute.
Offiziell ist die Türkei ein säkulares Land und weder arabisch noch eine islamische Republik. Kemal Atatürk, der Vater der modernen Türkei, der das lateinische Alphabet und die Trennung von Staat und Religion durchsetzte, genießt immer noch höchsten Respekt und wird geachtet. Doch seit 2002 als Abdullah Gül, ein Politiker der Partei AKP, der auch der heutige Präsident Erdoğan angehört, die Präsidentschaft übernahm, schwenkte das Land langsam wieder in die alte Richtung. Abdullah Gül war ein sehr gebildeter Mann, Wirtschaftswissenschaftler und promoviert. Er lebte in London und Exeter, gründete an der Universität Sakarya eine Abteilung für Ingenieurswissenschaften und war später führender Manager der islamischen Entwicklungsbank in Saudi-Arabien.
Er war ein Akademiker, ein weltläufiger, tüchtiger Mann und ein mit dem Preis „pro Merito“ ausgeeichnetes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Im Jahr 1980 heiratete er als Dreißigjähriger Mann ein fünfzehnjähriges Mädchen, seine Cousine Hayrünisa Özyurt. Soviel dazu, dass Eheschließungen mit minderjährigen Mädchen in der Türkei nur ein aussterbendes Symptom von hinterwäldlerischer Ungebildetheit seien und irgendwie nur so aus Unwissenheit und Tradition irgendwo in anatolischen Dörfern geschieht.
Schon die Zahlen sprechen dagegen. Circa 40% der minderjährigen türkischen Mädchen werden zur Heirat gezwungen. Das ist vielen Männern in der Türkei schon fast zu alt. Im Januar 2018 gab es unter Präsident Erdoğan einen Vorstoß der „Direktion für religiöse Angelegenheiten“ (Diyanet), einer Regierungsbehörde (!), dass dem islamischen Recht zufolge Mädchen schon mit neun Jahren und Jungen ab 12 Jahren heiraten können. Diyanet ist aber nicht irgendein extremistischer Moscheeverein, sondern für die Verwaltung aller religiösen Istitutionen in der Türkei zuständig. Dieser Vorstoß ist nun fallengelassen worden, weil die Frauen Protestmärsche organisierten und die oppositionelle Volkspartei (CHP) scharfe Kritik übte. Diyanet wurde beschuldigt, Kindesmissbrauch legalisieren zu wollen. Der CHP-Abgeordnete Murat Bakan betonte, Kinderehen seien eine Verletzung der Kinder‑, Frauen- und Menschenrechte. Die türkische Zeitung „Sözcü“ (der Sprecher) schrieb dazu: „Schande! Diyanet erlaubt Kinderehen!“. Daraufhin wurde diese Erklärung der Diyanet stillschweigend von deren Webseite gelöscht.
Mehr noch: Diyanet beteuerte plötzlich, keinesfalls Kinderehen zu befürworten. Man habe lediglich eine Stellungnahme zur Auslegung des islamischen Rechts veröffentlicht. Alles weitere sei eine Fehlinterpretation. Die traditionelle „Interpretation des Islam“ erlaube, dass Mädchen ab neun Jahren verheiratet werden. Man räumte im Übrigen ein, dass eine Erklärung der Diyanet keine Rechtskraft habe.
Der Rückzieher und die Beteuerungen sind nicht wirklich überzeugend, denn schon im Herbst 2017 gab das türkische Parlament grünes Licht für ein äußerst umstrittenes Gesetz, dass den Imamen mehr Rechte bei Eheschließungen gibt und als „Mufti-Gesetz“ bezeichnet wurde. Einer geistlichen Verheiratung von Minderjährigen wäre dann nichts mehr im Wege gestanden. Auch da regte sich schon zorniger Protest: Die Türkei sei immer noch ein säkularer Staat, und das werde hier durch die Hintertür abgeschafft, Kinderehen und Polygamie damit Tür und Tor geöffnet.
Die Reaktion des Präsidenten Erdoğan war bezeichnend: „Ob ihr es wollt oder nicht, das Gesetz wird kommen“, unterstrich er seine Absicht, islamische Ehen auch gegen Widerstand einzuführen. Sein Weg dazu: die Gleichsetzung eines Mufti oder Imam mit einem staatlichen Standesbeamten. Die Türkei ist sichtbar auf dem Weg in einen Gottesstaat.
Das wird auch aus der Art ersichtlich, wie manche türkischen Gerichte mit Strafverfahren umgehen, bei denen halbe Kinder in die Ehe gezwungen und mit 13 Jahren schon geschwängert werden. Am Beispiel des Falles „Fatma C.“ wurde das publik. Das syrische Flüchtlingskind war mit ihrer Familie in die Türkei gekommen und wurde dort in eine Ehe mit ihrem Verwandten, Abdulkerim J. gezwungen. Ein Imam hatte diese Ehe geschlossen. Als das hochschwangere, junge Mädchen in ein örtliches Gesundheitszentrum gebracht wurde, informierte die Belegschaft die Behörden.
Der Fall landete vor Gericht und wurde schon bei der ersten Anhörung zu den Akten gelegt, denn die Angeklagten, der Ehemann und die Mutter des Mädchens, machten geltend, das türkische Ehegesetz sei ihnen nicht bekannt gewesen, das Mädchen sei nach „syrischem Recht“ verheiratet worden. Der türkische Staatsanwalt befand, die Beschuldigten hätten keine Absicht gehabt, eine Straftat zu begehen.
Der türkische Journalist Burak Bekdil schreibt hierzu:
„Es ist erstaunlich, wie weich und tolerant die türkische Strafverfolgung sein kann, wenn die Täter aus Motiven handeln, die von strengen islamischen Werten und Traditionen abgeleitet sind. Etwa zur gleichen Zeit, als die Täter der Kindsbraut während ihrer ersten Anhörung freigelassen wurden, verhaftete ein anderes Gericht in Ankara vier Universitätsstudenten, weil sie bei ihrer Abschlussfeier ein Plakat ausgestellt hatten, das das Gericht als Beleidigung für Präsident Erdoğan ansah. In der Türkei dürfen Sie eine 13-Jährige missbrauchen, ohne verurteilt zu werden, aber Sie dürfen nicht den Präsidenten ärgern.
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