Schicksalsgemeinschaft! Damit ist ein Wort ausgesprochen, das einen unangenehmen Beigeschmack hat und in derselben Liga spielt wie „wir sitzen alle in einem Boot“. Es kommt eben drauf an, wo im Boot man sitzt – am Ruder, an den Riemen oder im Gepäck. Die Briten sollen also im Boot bleiben, aber nur noch kräftig rudern, den Kurs bestimmen andere. Henrik Müllers Artikel strotzt nur so vor Ätschbätsch-Formulierungen und ist ein beredtes Zeugnis tief inhalierter neudeutscher Alternativlosigkeit. Man sei in Europa eben bereits so eng miteinander verflochten, dass es längst kein Zurück mehr gebe, das hätten die Briten nur noch nicht begriffen. Nun, das versucht man ihnen in Brüssel gerade einzubläuen. Doch alle jetzt ausgehandelten Vereinbarungen würden London nur noch enger an die EU fesseln, ein Austritt wäre es nicht. Eine EU-Mitgliedschaft soll sein wie heiraten in der katholischen Kirche – Scheidung ist nicht vorgesehen. Kaum zu glauben, dass man im Vatikan heute offensichtlich schon weiter ist, als in Brüssel. Denn zumindest das mit der Scheidung klappt dort mittlerweile so einigermaßen. Im Euro gilt das Ehegelübde sogar über den Tod hinaus, wie wir bei der „Rettung” Griechenlands sehen konnten.
Sicher bin ich mir, dass man in Brüssel keinen Augenblick daran glaubte, dass dieser „Deal” im britischen Parlament Zustimmung findet. Es ging von Anfang an nur darum, möglichst hohe Hürden aufzurichten und die Angst vor einem „No-Deal“ und dem beschworenen „hartem Brexit“ zu streuen. Man macht mit diplomatischen Mitteln bereits Wahlkampf für ein zweites Referendum und verweist auf das politische Chaos im Land: Seht ihr, liebe Briten, ihr hättet euch eben gleich richtig entscheiden sollen, denn eine Wahl hattet ihr im Grunde gar nicht. Eurem Schicksal entgeht ihr nicht. Wir von der EU und dem Spiegel wissen, dass es nicht leicht ist, in die EU zu kommen, heraus jedoch kommt man nimmermehr, nimmermehr, nimmermehr, wie der Rabe von Poe krächzen würde. Also wählt diesmal gefälligst richtig!
Ein Staat namens Europa
Imperiale Kälte weht durch Müllers Artikel, wenn er etwa postuliert: „Die Vorstellung, allein besser dazustehen, ist eine Illusion. Wenn man diese Erkenntnis anerkennt, verändert das die politische Logik Europas grundlegend.“
So füge dich denn, Britannia, in dein Schicksal, welches nur in Großeuropa liegen kann! Allein bist du verloren! So wie die Schweiz, Norwegen, Island, Neuseeland, Australien oder Singapur, verloren, verarmt, isoliert, gemieden. Na ja, vielleicht hat es ja doch Vorteile, klein und beweglich zu sein. Aber darüber spricht man nicht so gern in Brüssel oder den Redaktionsbüros des Spiegels. Dort träumt man lieber vom „Saturn-Modell“ für die EU der Zukunft, bestehend aus drei Ringen*, die von außen nach innen immer fesselnder werden und die man nur in eine Richtung durchlaufen kann: nach innen, wo es schön gleichgeschaltet und supranational zugeht. Und im inneren Ring der ewig aneinander gefesselten Auserwählten gibt’s dann europäische Identität, europäische Geschichtsschreibung, gemeinsame Medien und eine gemeinsame Zweitsprache (!!). Das wäre, wenn es nach Mehrheiten ginge, übrigens Deutsch, was man in Paris, Rom, Madrid und Warschau sicher gern hören wird. Im Grunde wird das Europa des „inneren Rings” also in etwa das, was sich die Zeugen Jehovas als Paradies vorstellen, wo Lamm und Löwe gemeinsam vom Blattsalat naschen und alle dasselbe Kraut rauchen, das schon heute Spiegel-Redakteure abheben lässt. Aber so wird es nicht kommen, denke ich.
Ein Blick in die Kristallkugel
Ich habe immer bedauert, dass Großbritannien sich für den Brexit entschieden hat. Leider trägt gerade deutsche Politik ein gerütteltes Maß an Verantwortung für diese Entwicklung. Unser Land war es, das die Briten in Panik versetzte, angesichts der Menschenmassen, die wir 2015/16 einfach so durchs Land laufen ließen und von denen nicht wenige gern „rüber gemacht“ hätten auf die Insel. Schon aus sprachlichen Gründen. In Calais war bekanntlich Endstation. Statt Selfies mit Flüchtlingen zu machen, hätte Merkel sich auf einer „Please stay“-Tour auf der Insel blicken lassen müssen, denn Deutschland und die wenigen anderen merkantilen Überschussländer brauchen die Briten und ihre Stimmen in Brüssel. Doch wie das nun mal so ist mit Wahlen, sie können auch anders ausgehen und nun hoffe ich, dass die Briten sich nicht geschlagen geben und nicht klein bei geben.
Allein schon um zu zeigen, dass es möglich ist, aus einem EU-Vertrag wieder auszusteigen. Das Exempel wäre fatal, sollte Brüssel die Oberhand behalten, die Abschreckung perfekt. Schon jetzt versucht man, wenn auch noch in Nebensätzen, die „Irland-Frage“ wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Wenn Nordirland und die Republik Irland sich in einem Referendum zur Wiedervereinigung entschlössen, hätten die Briten schließlich kein Problem mit der Grenze und dem Karfreitagsabkommen – es ist zwar ausgeschlossen, dass London in diesen vergifteten Apfel beißen wird, aber an diese Adresse geht die versteckte Drohung ja auch nicht. Es gibt jedoch jede Menge andere separatistische Bestrebungen in Europa und die Spanier (Katalanien), Italiener (Venetien) oder Belgier (Flämischer Norden) dürften die Nachricht erhalten haben.
Die dunkle Seite der Alternativlosigkeit
Leider hat die Medaille „Alternativlosigkeit & Schicksalsgemeinschaft“ zwei Seiten. Die eine ist, man kommt nur schwer heraus aus der EU, wenn man will. Die andere ist aber, dass man auch nicht hinauskomplimentiert werden kann. Und wie in der EU so auch im Euro, wie wir gerade aus Rom erfahren, wo die neue Links-Rechts-Regierung die Brüsseler Bürokraten gerade am Nasenring durch die Finanz-Arena führt. Keine Schulden machen? Aber warum denn nicht! Die EZB druckt halt nach! Was wollt ihr schon dagegen tun? Uns Subventionen streichen? Bitte sehr, dann drucken wir eben das Geld, was wir brauchen! Werft uns doch raus! Wie, das könnt ihr nicht? Schicksalsgemeinschaft, stimmts? Gefällt euch der Begriff „Seilschaft“ besser? Wenn in der Seilschaft einem die Puste ausgeht und er auf seinem Rucksack Platz nimmt, wird es für die restlichen Kletterer halt etwas anstrengender. Aber wir lassen niemanden aus! Nicht die die gehen wollen und auch die nicht, die nicht mehr gehen können. Schicksal eben. Oder der Fluch von Größe und mangelnder Flexibilität, an dem letztlich alle Imperien zerbrachen und zerbrechen. Die echten wie die erträumten.
Ich bin sicher, der Brexit wird kommen und der begleitende „Deal“ wird anders aussehen als das, was gerade auf dem Tisch liegt und Mays Regierung zerreißt. Sofern es überhaupt einen Deal geben wird, denn es ginge auch ganz ohne, wenn auch mit erheblichen Startschwierigkeiten für die Zeit danach. Doch das beträfe schließlich auch wieder beide Seiten, die sich dann womöglich doch recht schnell auf einen „modus operandi“ verständigen müssten. Ein zweites Referendum wird es nicht geben und wenn, würde es nicht anders ausfallen, als das erste. Denn eines dürfte den Briten jetzt klar geworden sein: Freunde werden sie in Brüssel so schnell nicht mehr finden. Für die Bürokraten dort stellen sie eher ein Mittel zur Abschreckung und Erpressung dar, als dass der klar artikulierter Wählerwille dort berücksichtigt würde. Jetzt mit einem „Wir-haben-es-nicht-so-gemeint-Referendum“ zurück an den EU-Tisch zu kriechen und die ganze Sache abzublasen, wissend, dass man damit eine bedingungslose Kapitulation unterzeichnet und sich widerstandslos in die größenwahnsinnigen Pläne der EU-Kommission einreiht… das sollte weit unter der Würde eines Königreiches von 66 Millionen Bürgern sein, dass die Phase des eigenen Größenwahns seit 50 Jahren hinter sich hat und heute noch an den Folgen zu knabbern hat.
* Was das Saturn-Modell taugt belegt schon die Tatsache, dass es nicht drei, sondern über 100.000 Ringe um den Saturn gibt. Um die zu erkennen, muss man allerdings „näher heran”, was zugegebenermaßen nicht die Stärke der EU ist, die die Dinge immer gern aus großer Höhe und Entfernung betrachtet. Die Dichte der Ringe des Saturn entspricht im Durchschnitt etwa der von Kork, was allerdings ein gutes Bild für die Substanz ist, aus der solche EU-Pläne bestehen. Stellt sich noch die Frage nach dem Gravitationszentrum, welches der Autor glatt unterschlagen hat. Um was sollen sich die „EU-Ringe” auf ihren Bahnen drehen? Dabei kann es sich nur um den Planeten „EU-Kommission” handeln. Ein schönes Bild! Nur leider eher zentralistisch-autokratisch als irgendwie demokratisch oder föderal.