Don’t resist! Oder wie Brüssel den Brexit doch noch abwenden will

Von Roger Letsch — Theresa May laufen die Minister in Scharen davon, seit klar ist, welche Qua­lität der „Deal“ hat, den sie mit Brüssel über den Aus­tritt Groß­bri­tan­niens aus der EU ver­handelt hat. Im Grund soll erst mal alles bleiben, wie es ist, Zoll­union, EU-Bei­träge, Frei­zü­gigkeit, nur dass London in Zukunft am Kat­zen­tisch Platz nehmen soll und abwarten darf, was andere am Tisch für erwachsene Europäer beschließen. Ganz ehrlich: wäre ich Minister in dieser Regierung, ich hätte Frau May auch das Letzte zuerst gesagt und meinen Hut genommen. Schuld an der ver­fah­renen Lage seien natürlich aus­schließlich die Briten, so kon­sta­tiert die ver­sam­melte deutsche Presse und scha­den­freut sich unge­niert über den diplo­ma­ti­schen Scher­ben­haufen, der sich vor der Tür von 10 Downing Street türmt. Der Spiegel eröffnet einen Artikel gleich mit einer poli­ti­schen Weisheit, die sich andere reni­tente EU-Mit­glieder gleich mal hinter die Ohren schreiben sollen: „Das Brexit-Abkommen offenbart eine simple Tat­sache: Die Europäer bilden längst eine Schick­sals­ge­mein­schaft, die sich nicht so einfach auf­lösen lässt.“
Schick­sals­ge­mein­schaft! Damit ist ein Wort aus­ge­sprochen, das einen unan­ge­nehmen Bei­geschmack hat und in der­selben Liga spielt wie „wir sitzen alle in einem Boot“. Es kommt eben drauf an, wo im Boot man sitzt – am Ruder, an den Riemen oder im Gepäck. Die Briten sollen also im Boot bleiben, aber nur noch kräftig rudern, den Kurs bestimmen andere. Henrik Müllers Artikel strotzt nur so vor Ätsch­bätsch-For­mu­lie­rungen und ist ein beredtes Zeugnis tief inha­lierter neu­deut­scher Alter­na­tiv­lo­sigkeit. Man sei in Europa eben bereits so eng mit­ein­ander ver­flochten, dass es längst kein Zurück mehr gebe, das hätten die Briten nur noch nicht begriffen. Nun, das ver­sucht man ihnen in Brüssel gerade ein­zu­b­läuen. Doch alle jetzt aus­ge­han­delten Ver­ein­ba­rungen würden London nur noch enger an die EU fesseln, ein Aus­tritt wäre es nicht. Eine EU-Mit­glied­schaft soll sein wie hei­raten in der katho­li­schen Kirche – Scheidung ist nicht vor­ge­sehen. Kaum zu glauben, dass man im Vatikan heute offen­sichtlich schon weiter ist, als in Brüssel. Denn zumindest das mit der Scheidung klappt dort mitt­ler­weile so eini­ger­maßen. Im Euro gilt das Ehe­ge­lübde sogar über den Tod hinaus, wie wir bei der „Rettung” Grie­chen­lands sehen konnten.
Sicher bin ich mir, dass man in Brüssel keinen Augen­blick daran glaubte, dass dieser „Deal” im bri­ti­schen Par­lament Zustimmung findet. Es ging von Anfang an nur darum, mög­lichst hohe Hürden auf­zu­richten und die Angst vor einem „No-Deal“ und dem beschwo­renen „hartem Brexit“ zu streuen. Man macht mit diplo­ma­ti­schen Mitteln bereits Wahl­kampf für ein zweites Refe­rendum und ver­weist auf das poli­tische Chaos im Land: Seht ihr, liebe Briten, ihr hättet euch eben gleich richtig ent­scheiden sollen, denn eine Wahl hattet ihr im Grunde gar nicht. Eurem Schicksal entgeht ihr nicht. Wir von der EU und dem Spiegel wissen, dass es nicht leicht ist, in die EU zu kommen, heraus jedoch kommt man nim­mermehr, nim­mermehr, nim­mermehr, wie der Rabe von Poe krächzen würde. Also wählt diesmal gefäl­ligst richtig!

Ein Staat namens Europa

Impe­riale Kälte weht durch Müllers Artikel, wenn er etwa pos­tu­liert: „Die Vor­stellung, allein besser dazu­stehen, ist eine Illusion. Wenn man diese Erkenntnis aner­kennt, ver­ändert das die poli­tische Logik Europas grundlegend.“
So füge dich denn, Bri­tannia, in dein Schicksal, welches nur in Gro­ß­europa liegen kann! Allein bist du ver­loren! So wie die Schweiz, Nor­wegen, Island, Neu­seeland, Aus­tralien oder Sin­gapur, ver­loren, verarmt, iso­liert, gemieden. Na ja, viel­leicht hat es ja doch Vor­teile, klein und beweglich zu sein. Aber darüber spricht man nicht so gern in Brüssel oder den Redak­ti­ons­büros des Spiegels. Dort träumt man lieber vom „Saturn-Modell“ für die EU der Zukunft, bestehend aus drei Ringen*, die von außen nach innen immer fes­selnder werden und die man nur in eine Richtung durch­laufen kann: nach innen, wo es schön gleich­ge­schaltet und supra­na­tional zugeht. Und im inneren Ring der ewig anein­ander gefes­selten Aus­er­wählten gibt’s dann euro­päische Iden­tität, euro­päische Geschichts­schreibung, gemeinsame Medien und eine gemeinsame Zweit­sprache (!!). Das wäre, wenn es nach Mehr­heiten ginge, übrigens Deutsch, was man in Paris, Rom, Madrid und War­schau sicher gern hören wird. Im Grunde wird das Europa des „inneren Rings” also in etwa das, was sich die Zeugen Jehovas als Paradies vor­stellen, wo Lamm und Löwe gemeinsam vom Blatt­salat naschen und alle das­selbe Kraut rauchen, das schon heute Spiegel-Redak­teure abheben lässt. Aber so wird es nicht kommen, denke ich.

Ein Blick in die Kristallkugel

Ich habe immer bedauert, dass Groß­bri­tannien sich für den Brexit ent­schieden hat. Leider trägt gerade deutsche Politik ein gerüt­teltes Maß an Ver­ant­wortung für diese Ent­wicklung. Unser Land war es, das die Briten in Panik ver­setzte, ange­sichts der Men­schen­massen, die wir 2015/16 einfach so durchs Land laufen ließen und von denen nicht wenige gern „rüber gemacht“ hätten auf die Insel. Schon aus sprach­lichen Gründen. In Calais war bekanntlich End­station. Statt Selfies mit Flücht­lingen zu machen, hätte Merkel sich auf einer „Please stay“-Tour auf der Insel blicken lassen müssen, denn Deutschland und die wenigen anderen mer­kan­tilen Über­schuss­länder brauchen die Briten und ihre Stimmen in Brüssel. Doch wie das nun mal so ist mit Wahlen, sie können auch anders aus­gehen und nun hoffe ich, dass die Briten sich nicht geschlagen geben und nicht klein bei geben.
Allein schon um zu zeigen, dass es möglich ist, aus einem EU-Vertrag wieder aus­zu­steigen. Das Exempel wäre fatal, sollte Brüssel die Oberhand behalten, die Abschre­ckung perfekt. Schon jetzt ver­sucht man, wenn auch noch in Neben­sätzen, die „Irland-Frage“ wieder auf die Tages­ordnung zu bringen. Wenn Nord­irland und die Republik Irland sich in einem Refe­rendum zur Wie­der­ver­ei­nigung ent­schlössen, hätten die Briten schließlich kein Problem mit der Grenze und dem Kar­frei­tags­ab­kommen – es ist zwar aus­ge­schlossen, dass London in diesen ver­gif­teten Apfel beißen wird, aber an diese Adresse geht die ver­steckte Drohung ja auch nicht. Es gibt jedoch jede Menge andere sepa­ra­tis­tische Bestre­bungen in Europa und die Spanier (Kata­lanien), Ita­liener (Venetien) oder Belgier (Flä­mi­scher Norden) dürften die Nach­richt erhalten haben.

Die dunkle Seite der Alternativlosigkeit

Leider hat die Medaille „Alter­na­tiv­lo­sigkeit & Schick­sals­ge­mein­schaft“ zwei Seiten. Die eine ist, man kommt nur schwer heraus aus der EU, wenn man will. Die andere ist aber, dass man auch nicht hin­aus­kom­pli­men­tiert werden kann. Und wie in der EU so auch im Euro, wie wir gerade aus Rom erfahren, wo die neue Links-Rechts-Regierung die Brüs­seler Büro­kraten gerade am Nasenring durch die Finanz-Arena führt. Keine Schulden machen? Aber warum denn nicht! Die EZB druckt halt nach! Was wollt ihr schon dagegen tun? Uns Sub­ven­tionen streichen? Bitte sehr, dann drucken wir eben das Geld, was wir brauchen! Werft uns doch raus! Wie, das könnt ihr nicht? Schick­sals­ge­mein­schaft, stimmts? Gefällt euch der Begriff „Seil­schaft“ besser? Wenn in der Seil­schaft einem die Puste ausgeht und er auf seinem Rucksack Platz nimmt, wird es für die rest­lichen Klet­terer halt etwas anstren­gender. Aber wir lassen nie­manden aus! Nicht die die gehen wollen und auch die nicht, die nicht mehr gehen können. Schicksal eben. Oder der Fluch von Größe und man­gelnder Fle­xi­bi­lität, an dem letztlich alle Imperien zer­brachen und zer­brechen. Die echten wie die erträumten.
Ich bin sicher, der Brexit wird kommen und der beglei­tende „Deal“ wird anders aus­sehen als das, was gerade auf dem Tisch liegt und Mays Regierung zer­reißt. Sofern es über­haupt einen Deal geben wird, denn es ginge auch ganz ohne, wenn auch mit erheb­lichen Start­schwie­rig­keiten für die Zeit danach. Doch das beträfe schließlich auch wieder beide Seiten, die sich dann womöglich doch recht schnell auf einen „modus ope­randi“ ver­stän­digen müssten. Ein zweites Refe­rendum wird es nicht geben und wenn, würde es nicht anders aus­fallen, als das erste. Denn eines dürfte den Briten jetzt klar geworden sein: Freunde werden sie in Brüssel so schnell nicht mehr finden. Für die Büro­kraten dort stellen sie eher ein Mittel zur Abschre­ckung und Erpressung dar, als dass der klar arti­ku­lierter Wäh­ler­wille dort berück­sichtigt würde. Jetzt mit einem „Wir-haben-es-nicht-so-gemeint-Refe­rendum“ zurück an den EU-Tisch zu kriechen und die ganze Sache abzu­blasen, wissend, dass man damit eine bedin­gungslose Kapi­tu­lation unter­zeichnet und sich wider­standslos in die grö­ßen­wahn­sin­nigen Pläne der EU-Kom­mission ein­reiht… das sollte weit unter der Würde eines König­reiches von 66 Mil­lionen Bürgern sein, dass die Phase des eigenen Grö­ßen­wahns seit 50 Jahren hinter sich hat und heute noch an den Folgen zu knabbern hat.
* Was das Saturn-Modell taugt belegt schon die Tat­sache, dass es nicht drei, sondern über 100.000 Ringe um den Saturn gibt. Um die zu erkennen, muss man aller­dings „näher heran”, was zuge­ge­be­ner­maßen nicht die Stärke der EU ist, die die Dinge immer gern aus großer Höhe und Ent­fernung betrachtet. Die Dichte der Ringe des Saturn ent­spricht im Durch­schnitt etwa der von Kork, was aller­dings ein gutes Bild für die Sub­stanz ist, aus der solche EU-Pläne bestehen. Stellt sich noch die Frage nach dem Gra­vi­ta­ti­ons­zentrum, welches der Autor glatt unter­schlagen hat. Um was sollen sich die „EU-Ringe” auf ihren Bahnen drehen? Dabei kann es sich nur um den Pla­neten „EU-Kom­mission” handeln. Ein schönes Bild! Nur leider eher zen­tra­lis­tisch-auto­kra­tisch als irgendwie demo­kra­tisch oder föderal.