Von Wolfgang Prabel
1919/20 erschienen zahlreiche begeisterte Studien und Berichte über die Herrschaft der Bolschewiken in Russland. Nun vermuten unsere Zeitgenossen bestimmt, dass die deutschen Herolde Lenins der deutschen Arbeiterbewegung nahestanden. Mitnichten. Ein Teil des lebensreformerischen Bionadebürgertums war regelrecht hingerissen.
Der antisemitische Rechtsprofessor Axel von Freytagh-Loringhoven verfasste 1919 eine „Geschichte der russischen Revolution, Erster Teil.“ Freytagh-Loringhoven fasste die Revolution als von den Massen beherrschten Prozess auf, Lenin und seine Kommissare waren nur Vollstrecker des Volkswillens, Götzen, die das Volk sich nach seinem Bilde geschaffen hätte. Obwohl er Vorträge vor allem für die DNVP hielt, war sein Ansatz ein eher naiver. Aus den Reihen der Arbeiterklasse würden jene Parteiführer hervorgehen, die sich zum Sprecher des Klasseninteresses machten. Der Professor stand mit diesem Nachgeplapper der sowjetrussischen Propaganda recht einsam da.
Ähnlich sah das Verhältnis Führer – Masse Harald von Hoerschelmann. „Person und Gemeinschaft – Die Grundprobleme des Bolschewismus“ hieß seine ebenfalls 1919 erschienen Studie. Schon nach wenigen Seiten verfiel Hoerschelmann in den üblichen teutonischen Seelenschwulst: Die Revolution sei „eine Umwälzung des innersten Wollens und Glaubens der Menschen, um eine Umpflügung jenes den klaren Worten unzugänglichen Gefühlsbodens der menschlichen Seele“ und somit nichts anderes als die Vollendung der von Nietzsche verkündeten „Umwertung der Werte“. Als ethische Idee destillierte Hoerschelmann das russische Streben nach „Allheit“ heraus, des menschheitlichen Urphänomens des Gemeinschaftswillens. Vieles entspreche uraltem germanischem Empfinden. Hoerschelmanns Studie war eine Sammlung elitaristischer Phraseologie, angewendet auf die Revolution Lenins und Trotzkis.
Das Frappierende war: Lenins und Trotzkis Revolution war elitär und wurde nicht vom Klassenstandpunkt erklärt, auch nicht aus materiellen Bedingungen der Beteiligten, sondern aus Seelenkräften. Und nur darum gefiel sie den deutschen Bildungsbürgern. Eine demokratische Massenbewegung aus materiellen Motiven hätte elitären Ekel und Abscheu erregt. Man arbeitete sich gleichzeitig an den Volksschulabsolventen der SPD ab, die durch Wahlen an die Macht gekommen waren und die konkreten Lebensbedingungen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter in den Großbetrieben gegenüber den übrigen Beschäftigten verbesserten.
Der Wirtschaftsprofessor Werner Sombart hatte in die 7. Auflage seines Buches „Sozialismus und soziale Bewegung“ von 1919 ein aktuelles Kapitel über den Bolschewismus eingefügt. Erst durch die Propaganda der Tat hätten die Bolschewiki den Sozialismus zum Kernproblem der europäischen Kulturmenschheit gemacht. Sie hätten die Ideen des Sozialismus geläutert, indem sie ihn zum entschlossenen Antikapitalismus umprägten und die Sowjetverfassung als einen Damm in die anschwellende Flut des mechanistischen Demokratismus und Parlamentarismus, dieser Ausdrucksformen des amerikanischen Bürgertums hineingebaut hätten. Durch den Bolschewismus sei die drohende Trennung zwischen Sozialismus und Heroismus vermieden worden.
In Wahrheit gingen Marxscher Sozialismus und Sombartscher Heroismus lange Zeit getrennte Wege. Wie sollte ein marxistischer Sozialismus, der sich naturgeschichtlich durch die langatmige Reife der Produktivkräfte entwickelt, heroisch sein? Er ist so heroisch, wie die Reife der Kartoffel auf dem Kartoffelacker. Irgendwann im Oktober muss die evolutionär gewachsene Kartoffel revolutionär geerntet werden. Wer einmal Kartoffeln geerntet hat, konnte sich sein Bild vom Heroismus und revolutionären Elan selber machen. Es war umgekehrt, wie Sombart behauptete: Der Bolschewismus war die erstmalige, jedoch sehr weitgehende Vereinigung von Sozialismus und Heroismus, die Verbandelung des Marxismus mit dem Zarathustra, mit dem Kult der Tat, der Erde, des Bluts und des Führertums, wobei Marxens Intentionen von den materialistischen Füßen auf den idealistischen Kopf gestülpt wurden.
Ob Marxens Lehre eine brauchbare Theorie war, ist eine ganz andere Fragestellung, es war jedenfalls eine andere Lehre. Marxens Theorie hat aus verschiedenen Gründen nicht funktioniert und war in ihrer traditionellen Ausprägung ein Todeskandidat. Die Produktivkräfte beispielsweise entwickelten sich in Deutschland stürmisch, die Maschinen wurden immer moderner, die Ausbildung der Arbeiter immer besser, die Produzenten ersehnten jedoch keine bürgerlichen der Dampfmaschine entsprechenden Produktionsverhältnisse, sondern die des Zunftwesens. Das waren wirkliche Widersprüche! Der Korporatismus, der Nationalsozialismus und der Bolschwismus reagierten darauf, das war jedoch keine Weiterentwicklung des Marxismus, sondern die Antwort auf sein grandioses Scheitern. Entweder Marx musste unter Aufgabe seines mechanistischen Entwicklungsdogmas „weiterverfolgt“ werden oder total negiert. Der Leninismus war keine Weiterentwicklung des Marxismus, sondern seine Negierung in allen Grundfragen. Das leninsche Primat der Politik über die Ökonomie ist definitiv „unmarxistisch“, da unmaterialistisch und idealistisch.
Den deutschen Intellektuellen, und nicht nur diesen, war das unbewusst klar. Viele sprachen und schrieben von einer neuen Menschheitsepoche, die von der Oktoberrevolution eingeleitet worden sei, wie zum Beispiel der kaiserliche Beamte Alfons Paquet oder der Expressionist Johannes R. Becher.
Der Theaterkritiker Alfred Kerr war abgestoßen und fasziniert zugleich:
„Der Bolschewismus ist ein Irrtum. Doch dieser Irrtum war der einzige geniale Gedanke des versumpften Zeitalters.“
Alfons Goldschmidt, Herausgeber der USPD-nahen Rätezeitung pries das Aristokratische, Führerhafte am Bolschewismus. Adolf Grabowsky erwärmte sich für das aktivistische, aristokratische und antidemokratische Element:
„Der Konservative (…) will die Masse geführt haben, weil er nicht glaubt, dass die Massen von sich heraus eben alles Gute und Schöne selbst produzieren. Genauso denkt auch der Bolschewismus.“ Die alte Sozialdemokratie habe ein kleinbürgerlich-kapitalistisches Wesen gehabt, das von den Bolschwisten bloßgestellt worden sei.
Das DDP-Mitglied Ernst Troeltsch hatte die Sache bereits in seinem Spektator-Brief vom 20. Februar 1919 auf den Punkt gebracht:
„Durch den Kommunismus (…) hindurch zum Übermenschentum aller Menschen, zur Vernichtung der bürgerlichen Moral, das ist die Losung.“
Diese erträumte Antibürgerlichkeit wähnten Besucher Sowjetrusslands in Moskau zu finden.
„Gespräche mit den Führern Sowjetrusslands, auch mit Lenin persönlich, waren relativ leicht zu bekommen und gehörten fast zum Programm. Dabei entstand sehr schnell eine eigentümliche Atmosphäre der Vertrautheit und Bewunderung, gewürzt mit einer Prise Furcht. Noch immer lag um die führenden Bolschwiki etwas Enigmatisches, Legendäres. Einmal in Moskau, bewegten sich die Besucher dann zwischen Metropol und Kreml erstaunlich leicht und ungezwungen im Zirkel dieser jungen Macht, die noch ganz improvisiert und unzeremoniell wirkte und Züge eines bohèmehaften Feldlagers trug.“
Einer der ersten Gäste, Alfons Goldschmidt, kroch den Bolschewiki von Anfang an auf den Leim, leugnete den Terror, lobte das lustige Frühlingsleben in Moskau im Mai 1920, sah die Überwindung der Prostitution (das älteste Gewerbe der Welt) als Beweis für die Beseitigung der Sozialfäule des Kapitalismus und schrieb begeistert:
„Die kommunistischen Fraktionen, oft nur kleine Fraktionen, beherrschen die Fabriken. Nicht mit Terror, sondern mit Zielsauberkeit, mit Arbeitsbewusstsein (…) Es sind keine Gewaltsfraktionen, doch es sind Disziplinierfraktionen. (…) Es sind Fragozytenfraktionen. Sie sollen die schlechten Säfte aufsaugen, wegfressen, vernichten…“
Goldschmidt war sicher kein schreibender Mietling. Es ist wegen der Wahl seiner Fragozytenbilder jedoch leicht zu erkennen, dass er vom spätkaiserlichen Waschzwang befallen und umgetrieben war. Seine Metaphorik der erforderlichen Säuberung entspricht auf den ersten Blick den Impulsen der kriegsbegeisterten Bildungsbürger im August 1914. Auch damals war kein Opfer zu groß, um die Reinigung der Welt zu erreichen. Die Fraktionentheorie bildet den Gedanken der Schaffung des Neuen Menschen ab, die Elite wurde in linken Kreisen zunehmend als Avantgarde bezeichnet.
Der chaotische Weltenbummler Franz Jung, der sowohl bei seinem Eintreffen in Russland, als auch bei seinem Fortgang die abenteuerliche Variante der Flucht wählte – aus Deutschland floh er wegen drohender Strafverfolgung, aus Russland ebenso – war wiederum ein Virtouse auf der Klaviatur des Idealismus, den er in Sowjetrussland überall zu orten glaubte.
„Das System der Räte, geboren aus (…) dem überufernden, der Weite nach phantastischen und doch zur Naivität des reinen Glaubens kristallisierten Revolutions-Gemeinsamkeitswillens des russischen Volkes, stellt die Verbindung, die Erlösung und die treibende Kraft der revolutionären Kraft der übrigen Welt dar.“
Zurückgekehrt nach Deutschland resumierte er:
„Die breite Masse wird jetzt bearbeitet durch Propaganda, durch Politik, durch Arbeitszwang, durch Hunger. Hinter allem eine verschwindend kleine Zahl Zielklarer, die Vertreter der Staatsgewalt, überwiegend ortsfremd. (…) Mit fabelhafter Tüchtigkeit siebt die sozialistische Staatsmaschine die Tüchtigen von den Untüchtigen, die Arbeiter von den Drohnen, die neuen Menschen von den alten. Der Ausscheidungsprozess ist ganz ungeheuer, man sieht die Menschen geradezu fallen, zerpresst werden und verfaulen.“
Lenin und seine Volkskommissare wären Führer im wahrsten Sinne des Wortes, deren Riesenmaschine die Widerstrebenden automatisch zermalmen würde. Dem großen Sterben der Völker Einhalt zu gebieten würden die bürgerlichen Klassen geopfert werden müssen.
Der ganze Sermon hatte mit Marxschem Sozialismus fast nichts zu tun, mit dem Abgrund unter dem Seil vom Tier zum Übermenschen jedoch sehr viel. Umso mehr Individuen in diesen Naumburger und Weimarer Abgrund des Zarathustra stürzen, umso besser die Reinigungswirkung, umso besser die Zukunftsverheißungen; umso kleiner die Zahl der Auserwählten Zielklaren, desto reiner das Morgenrot, kann man aus all diesen Äußerungen herauslesen. Der Leninismus und seine Glorifizierung war „bürgerliche Ideologie“ reinsten Wassers.
Auch der Schrftsteller und Dramatiker Arthur Holitscher begeisterte sich an der „Besorgung des Entsetzlichen, aber unumgänglich Nötigen“.
„Es ist der Weg der Menschheit, den der russische Mensch geht über den er die Menschheit vorwärtsführt, der Weg geht über Trümmer und Not und Alptraum zur Wiedergeburt und zur Gemeinschaft der beseelten Vernunft.“
Der Journalist August Heinrich Kober erklärte die Hungerkatastrophe der Jahre 1921/22, bei der ganze Landstriche entvölkert wurden, ebenfalls als Reinigungschance:
„…in Russland stirbt eine alte Welt ab, fallen tausende von Menschen unserer Generation als Düngerede für einen neuen Typus des europäischen Menschen. Auch mit seinem Hunger kämpft das bolschewistische Russland einen Kampf für die ganze Menschheit. Das Kreuz der neuen Erlösung erhebt sich über dem Osten.“
Er sah die Russen „Seelig in völliger Armut, innerlich reicher, – wahrscheinlich – als irgendeines der verbrauchten Westvölker.“ Der Hunger werde sich als nationaler Gesundbrunnen erweisen, selten habe sich die Natur herabgelassen, eine neue Lebenshaltung durch die einfache Abdrosselung großer Massen der widerstrebenden Vorgeneration zu unterstützen, wie es hier jetzt in Russland der Hunger als Schutzgeist des Bolschwismus tue. Hier beginne eine neue Generation, gestählt durch Leben und Tod, atmend unter dem Zwange zum Wesentlichen, ein neues Reich.
Der Illustrator Ludwig Fahrenkrog malte „Neue Wege in die Zukunft“ (1920). Die Kinder verkörpern die Zukunft. Der Weg dieser Kinder in die Zukunft ist mit den Totenköpfen der Alten gepflastert.
Die Ideale der Jugendbewegung wurden in Russland gesucht, gefunden und gepriesen. Leo Matthias, Autor des Buchs „Genie und Wahnsinn in Russland – geistige Elemente des Aufbaus und Gefahrenelmente des Zusammenbruchs“, ein weiterer „fortschrittlicher Intelligenzler“ sah in Karl Radek gar die Vorform des europäischen Übermenschen:
Mit Radek trete der antimoralische Mensch in die Helle des politischen Geschehens. Ja, in seiner Person habe der Staatsmann des 20. Jahrhunderts seine Visitenkarte abgegeben. Denn die Moral Radeks sei eine aristokratische Moral. (…) Es sei daher nur konsequent, dass Radek sich gegen die Verleugnung des Führerprinzips ausgesprochen hat.
Schließlich weilte auch Oberst Bauer, der Vater der Dolchstoßlegende, in Russland und war anlässlich Lenins Begräbnis überzeugt einem welthistorischen Ereignis beigewohnt zu haben. In seinem Reisebericht „Im Land der roten Zaren“ attestierte er der Tscheka, viel unschuldiges Blut neben Schuldigem vergossen zu haben, aber das Leben sei nun einmal Kampf, und am oberen Ende des Kampfs stehe die leibliche Vernichtung des Gegners.
Die geistige Abenteuerlust der Bionadebürger aus den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts ist mit der Willkommenskultur auferstanden. Aktuell wird ein diktatorisches System – der Islam – idealisiert und schöngedichtet.
Erstveröffentlichung auf dem Blog des Autors Wolfgang Prabel www.prabelsblog.de
Literatur: Gert Koenen, Der Rußland-Komplex, C.H. Beck