Collage - Originalwerk: Von Kresspahl (talk) 12:41, 23 October 2009 (UTC) - Selbst fotografiert, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8226436

Die Begeis­terung der Bio­na­de­bürger für Mord und Totschlag

Von Wolfgang Prabel
1919/20 erschienen zahl­reiche begeis­terte Studien und Berichte über die Herr­schaft der Bol­sche­wiken in Russland. Nun ver­muten unsere Zeit­ge­nossen bestimmt, dass die deut­schen Herolde Lenins der deut­schen Arbei­ter­be­wegung nahe­standen. Mit­nichten. Ein Teil des lebens­re­for­me­ri­schen Bio­na­de­bür­gertums war regel­recht hingerissen.
Der anti­se­mi­tische Rechts­pro­fessor Axel von Freytagh-Loring­hoven ver­fasste 1919 eine „Geschichte der rus­si­schen Revo­lution, Erster Teil.“ Freytagh-Loring­hoven fasste die Revo­lution als von den Massen beherrschten Prozess auf, Lenin und seine Kom­missare waren nur Voll­strecker des Volks­willens, Götzen, die das Volk sich nach seinem Bilde geschaffen hätte. Obwohl er Vor­träge vor allem für die DNVP hielt, war sein Ansatz ein eher naiver. Aus den Reihen der Arbei­ter­klasse würden jene Par­tei­führer her­vor­gehen, die sich zum Sprecher des Klas­sen­in­ter­esses machten. Der Pro­fessor stand mit diesem Nach­ge­plapper der sowjet­rus­si­schen Pro­pa­ganda recht einsam da.
Ähnlich sah das Ver­hältnis Führer – Masse Harald von Hoer­schelmann. „Person und Gemein­schaft – Die Grund­pro­bleme des Bol­sche­wismus“ hieß seine eben­falls 1919 erschienen Studie. Schon nach wenigen Seiten verfiel Hoer­schelmann in den üblichen teu­to­ni­schen See­len­schwulst: Die Revo­lution sei „eine Umwälzung des innersten Wollens und Glaubens der Men­schen, um eine Umpflügung jenes den klaren Worten unzu­gäng­lichen Gefühls­bodens der mensch­lichen Seele“ und somit nichts anderes als die Voll­endung der von Nietzsche ver­kün­deten „Umwertung der Werte“. Als ethische Idee destil­lierte Hoer­schelmann das rus­sische Streben nach „Allheit“ heraus, des mensch­heit­lichen Urphä­nomens des Gemein­schafts­willens. Vieles ent­spreche uraltem ger­ma­ni­schem Emp­finden. Hoer­schelmanns Studie war eine Sammlung eli­ta­ris­ti­scher Phra­seo­logie, ange­wendet auf die Revo­lution Lenins und Trotzkis.
Das Frap­pie­rende war: Lenins und Trotzkis Revo­lution war elitär und wurde nicht vom Klas­sen­stand­punkt erklärt, auch nicht aus mate­ri­ellen Bedin­gungen der Betei­ligten, sondern aus See­len­kräften. Und nur darum gefiel sie den deut­schen Bil­dungs­bürgern. Eine demo­kra­tische Mas­sen­be­wegung aus mate­ri­ellen Motiven hätte eli­tären Ekel und Abscheu erregt. Man arbeitete sich gleich­zeitig an den Volks­schul­ab­sol­venten der SPD ab, die durch Wahlen an die Macht gekommen waren und die kon­kreten Lebens­be­din­gungen der gewerk­schaftlich orga­ni­sierten Arbeiter in den Groß­be­trieben gegenüber den übrigen Beschäf­tigten verbesserten.
Der Wirt­schafts­pro­fessor Werner Sombart hatte in die 7. Auflage seines Buches „Sozia­lismus und soziale Bewegung“ von 1919 ein aktu­elles Kapitel über den Bol­sche­wismus ein­gefügt. Erst durch die Pro­pa­ganda der Tat hätten die Bol­schewiki den Sozia­lismus zum Kern­problem der euro­päi­schen Kul­tur­menschheit gemacht. Sie hätten die Ideen des Sozia­lismus geläutert, indem sie ihn zum ent­schlos­senen Anti­ka­pi­ta­lismus umprägten und die Sowjet­ver­fassung als einen Damm in die anschwel­lende Flut des mecha­nis­ti­schen Demo­kra­tismus und Par­la­men­ta­rismus, dieser Aus­drucks­formen des ame­ri­ka­ni­schen Bür­gertums hin­ein­gebaut hätten. Durch den Bol­sche­wismus sei die dro­hende Trennung zwi­schen Sozia­lismus und Hero­ismus ver­mieden worden.
In Wahrheit gingen Marx­scher Sozia­lismus und Som­bart­scher Hero­ismus lange Zeit getrennte Wege. Wie sollte ein mar­xis­ti­scher Sozia­lismus, der sich natur­ge­schichtlich durch die lang­atmige Reife der Pro­duk­tiv­kräfte ent­wi­ckelt, heroisch sein? Er ist so heroisch, wie die Reife der Kar­toffel auf dem Kar­tof­fel­acker. Irgendwann im Oktober muss die evo­lu­tionär gewachsene Kar­toffel revo­lu­tionär geerntet werden. Wer einmal Kar­toffeln geerntet hat, konnte sich sein Bild vom Hero­ismus und revo­lu­tio­nären Elan selber machen. Es war umge­kehrt, wie Sombart behauptete: Der Bol­sche­wismus war die erst­malige, jedoch sehr weit­ge­hende Ver­ei­nigung von Sozia­lismus und Hero­ismus, die Ver­ban­delung des Mar­xismus mit dem Zara­thustra, mit dem Kult der Tat, der Erde, des Bluts und des Füh­rertums, wobei Marxens Inten­tionen von den mate­ria­lis­ti­schen Füßen auf den idea­lis­ti­schen Kopf gestülpt wurden.
Ob Marxens Lehre eine brauchbare Theorie war, ist eine ganz andere Fra­ge­stellung, es war jeden­falls eine andere Lehre. Marxens Theorie hat aus ver­schie­denen Gründen nicht funk­tio­niert und war in ihrer tra­di­tio­nellen Aus­prägung ein Todes­kan­didat. Die Pro­duk­tiv­kräfte bei­spiels­weise ent­wi­ckelten sich in Deutschland stür­misch, die Maschinen wurden immer moderner, die Aus­bildung der Arbeiter immer besser, die Pro­du­zenten ersehnten jedoch keine bür­ger­lichen der Dampf­ma­schine ent­spre­chenden Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nisse, sondern die des Zunft­wesens. Das waren wirk­liche Wider­sprüche! Der Kor­po­ra­tismus, der Natio­nal­so­zia­lismus und der Bol­schwismus reagierten darauf, das war jedoch keine Wei­ter­ent­wicklung des Mar­xismus, sondern die Antwort auf sein gran­dioses Scheitern. Ent­weder Marx musste unter Aufgabe seines mecha­nis­ti­schen Ent­wick­lungs­dogmas „wei­ter­ver­folgt“ werden oder total negiert. Der Leni­nismus war keine Wei­ter­ent­wicklung des Mar­xismus, sondern seine Negierung in allen Grund­fragen. Das leninsche Primat der Politik über die Öko­nomie ist defi­nitiv „unmar­xis­tisch“, da unma­te­ria­lis­tisch und idealistisch.
Den deut­schen Intel­lek­tu­ellen, und nicht nur diesen, war das unbe­wusst klar. Viele sprachen und schrieben von einer neuen Mensch­heits­epoche, die von der Okto­ber­re­vo­lution ein­ge­leitet worden sei, wie zum Bei­spiel der kai­ser­liche Beamte Alfons Paquet oder der Expres­sionist Johannes R. Becher.
Der Thea­ter­kri­tiker Alfred Kerr war abge­stoßen und fas­zi­niert zugleich:
„Der Bol­sche­wismus ist ein Irrtum. Doch dieser Irrtum war der einzige geniale Gedanke des ver­sumpften Zeitalters.“
Alfons Gold­schmidt, Her­aus­geber der USPD-nahen Räte­zeitung pries das Aris­to­kra­tische, Füh­rer­hafte am Bol­sche­wismus. Adolf Gra­bowsky erwärmte sich für das akti­vis­tische, aris­to­kra­tische und anti­de­mo­kra­tische Element:
„Der Kon­ser­vative (…) will die Masse geführt haben, weil er nicht glaubt, dass die Massen von sich heraus eben alles Gute und Schöne selbst pro­du­zieren. Genauso denkt auch der Bol­sche­wismus.“ Die alte Sozi­al­de­mo­kratie habe ein klein­bür­gerlich-kapi­ta­lis­ti­sches Wesen gehabt, das von den Bol­schwisten bloß­ge­stellt worden sei.
Das DDP-Mit­glied Ernst Troeltsch hatte die Sache bereits in seinem Spektator-Brief vom 20. Februar 1919 auf den Punkt gebracht:
„Durch den Kom­mu­nismus (…) hin­durch zum Über­men­schentum aller Men­schen, zur Ver­nichtung der bür­ger­lichen Moral, das ist die Losung.“
Diese erträumte Anti­bür­ger­lichkeit wähnten Besucher Sowjet­russ­lands in Moskau zu finden.
„Gespräche mit den Führern Sowjet­russ­lands, auch mit Lenin per­sönlich, waren relativ leicht zu bekommen und gehörten fast zum Pro­gramm. Dabei ent­stand sehr schnell eine eigen­tüm­liche Atmo­sphäre der Ver­trautheit und Bewun­derung, gewürzt mit einer Prise Furcht. Noch immer lag um die füh­renden Bol­schwiki etwas Enig­ma­ti­sches, Legen­däres. Einmal in Moskau, bewegten sich die Besucher dann zwi­schen Metropol und Kreml erstaunlich leicht und unge­zwungen im Zirkel dieser jungen Macht, die noch ganz impro­vi­siert und unze­re­mo­niell wirkte und Züge eines bohè­me­haften Feld­lagers trug.“
Einer der ersten Gäste, Alfons Gold­schmidt, kroch den Bol­schewiki von Anfang an auf den Leim, leugnete den Terror, lobte das lustige Früh­lings­leben in Moskau im Mai 1920, sah die Über­windung der Pro­sti­tution (das älteste Gewerbe der Welt) als Beweis für die Besei­tigung der Sozi­al­fäule des Kapi­ta­lismus und schrieb begeistert:
„Die kom­mu­nis­ti­schen Frak­tionen, oft nur kleine Frak­tionen, beherr­schen die Fabriken. Nicht mit Terror, sondern mit Ziel­sau­berkeit, mit Arbeits­be­wusstsein (…) Es sind keine Gewalts­frak­tionen, doch es sind Dis­zi­pli­nier­frak­tionen. (…) Es sind Fra­go­zy­ten­frak­tionen. Sie sollen die schlechten Säfte auf­saugen, weg­fressen, vernichten…“
Gold­schmidt war sicher kein schrei­bender Mietling. Es ist wegen der Wahl seiner Fra­go­zy­ten­bilder jedoch leicht zu erkennen, dass er vom spät­kai­ser­lichen Wasch­zwang befallen und umge­trieben war. Seine Meta­phorik der erfor­der­lichen Säu­berung ent­spricht auf den ersten Blick den Impulsen der kriegs­be­geis­terten Bil­dungs­bürger im August 1914. Auch damals war kein Opfer zu groß, um die Rei­nigung der Welt zu erreichen. Die Frak­tio­nen­theorie bildet den Gedanken der Schaffung des Neuen Men­schen ab, die Elite wurde in linken Kreisen zunehmend als Avant­garde bezeichnet.
Der chao­tische Wel­ten­bummler Franz Jung, der sowohl bei seinem Ein­treffen in Russland, als auch bei seinem Fortgang die aben­teu­er­liche Variante der Flucht wählte – aus Deutschland floh er wegen dro­hender Straf­ver­folgung, aus Russland ebenso – war wie­derum ein Vir­touse auf der Kla­viatur des Idea­lismus, den er in Sowjet­russland überall zu orten glaubte.
„Das System der Räte, geboren aus (…) dem über­u­fernden, der Weite nach phan­tas­ti­schen und doch zur Nai­vität des reinen Glaubens kris­tal­li­sierten Revo­lu­tions-Gemein­sam­keits­willens des rus­si­schen Volkes, stellt die Ver­bindung, die Erlösung und die trei­bende Kraft der revo­lu­tio­nären Kraft der übrigen Welt dar.“
Zurück­ge­kehrt nach Deutschland resu­mierte er:
„Die breite Masse wird jetzt bear­beitet durch Pro­pa­ganda, durch Politik, durch Arbeits­zwang, durch Hunger. Hinter allem eine ver­schwindend kleine Zahl Ziel­klarer, die Ver­treter der Staats­gewalt, über­wiegend orts­fremd. (…) Mit fabel­hafter Tüch­tigkeit siebt die sozia­lis­tische Staats­ma­schine die Tüch­tigen von den Untüch­tigen, die Arbeiter von den Drohnen, die neuen Men­schen von den alten. Der Aus­schei­dungs­prozess ist ganz unge­heuer, man sieht die Men­schen geradezu fallen, zer­presst werden und verfaulen.“
Lenin und seine Volks­kom­missare wären Führer im wahrsten Sinne des Wortes, deren Rie­sen­ma­schine die Wider­stre­benden auto­ma­tisch zer­malmen würde. Dem großen Sterben der Völker Einhalt zu gebieten würden die bür­ger­lichen Klassen geopfert werden müssen.
Der ganze Sermon hatte mit Marx­schem Sozia­lismus fast nichts zu tun, mit dem Abgrund unter dem Seil vom Tier zum Über­men­schen jedoch sehr viel. Umso mehr Indi­viduen in diesen Naum­burger und Wei­marer Abgrund des Zara­thustra stürzen, umso besser die Rei­ni­gungs­wirkung, umso besser die Zukunfts­ver­hei­ßungen; umso kleiner die Zahl der Aus­er­wählten Ziel­klaren, desto reiner das Mor­genrot, kann man aus all diesen Äuße­rungen her­aus­lesen. Der Leni­nismus und seine Glo­ri­fi­zierung war „bür­ger­liche Ideo­logie“ reinsten Wassers.
Auch der Schrft­steller und Dra­ma­tiker Arthur Holit­scher begeis­terte sich an der „Besorgung des Ent­setz­lichen, aber unum­gänglich Nötigen“.
„Es ist der Weg der Menschheit, den der rus­sische Mensch geht über den er die Menschheit vor­wärts­führt, der Weg geht über Trümmer und Not und Alp­traum zur Wie­der­geburt und zur Gemein­schaft der beseelten Vernunft.“
Der Jour­nalist August Heinrich Kober erklärte die Hun­ger­ka­ta­strophe der Jahre 1921/22, bei der ganze Land­striche ent­völkert wurden, eben­falls als Reinigungschance:
„…in Russland stirbt eine alte Welt ab, fallen tau­sende von Men­schen unserer Gene­ration als Dün­gerede für einen neuen Typus des euro­päi­schen Men­schen. Auch mit seinem Hunger kämpft das bol­sche­wis­tische Russland einen Kampf für die ganze Menschheit. Das Kreuz der neuen Erlösung erhebt sich über dem Osten.“
Er sah die Russen „Seelig in völ­liger Armut, innerlich reicher, – wahr­scheinlich – als irgend­eines der ver­brauchten West­völker.“ Der Hunger werde sich als natio­naler Gesund­brunnen erweisen, selten habe sich die Natur her­ab­ge­lassen, eine neue Lebens­haltung durch die ein­fache Abdros­selung großer Massen der wider­stre­benden Vor­ge­ne­ration zu unter­stützen, wie es hier jetzt in Russland der Hunger als Schutz­geist des Bol­schwismus tue. Hier beginne eine neue Gene­ration, gestählt durch Leben und Tod, atmend unter dem Zwange zum Wesent­lichen, ein neues Reich.
Der Illus­trator Ludwig Fah­renkrog malte „Neue Wege in die Zukunft“ (1920). Die Kinder ver­körpern die Zukunft. Der Weg dieser Kinder in die Zukunft ist mit den Toten­köpfen der Alten gepflastert.
Die Ideale der Jugend­be­wegung wurden in Russland gesucht, gefunden und gepriesen. Leo Mat­thias, Autor des Buchs „Genie und Wahnsinn in Russland – geistige Ele­mente des Aufbaus und Gefah­re­nel­mente des Zusam­men­bruchs“, ein wei­terer „fort­schritt­licher Intel­li­genzler“ sah in Karl Radek gar die Vorform des euro­päi­schen Übermenschen:
Mit Radek trete der anti­mo­ra­lische Mensch in die Helle des poli­ti­schen Geschehens. Ja, in seiner Person habe der Staatsmann des 20. Jahr­hun­derts seine Visi­ten­karte abge­geben. Denn die Moral Radeks sei eine aris­to­kra­tische Moral. (…) Es sei daher nur kon­se­quent, dass Radek sich gegen die Ver­leugnung des Füh­rer­prinzips aus­ge­sprochen hat.
Schließlich weilte auch Oberst Bauer, der Vater der Dolch­stoß­le­gende, in Russland und war anlässlich Lenins Begräbnis über­zeugt einem welt­his­to­ri­schen Ereignis bei­gewohnt zu haben. In seinem Rei­se­be­richt „Im Land der roten Zaren“ attes­tierte er der Tscheka, viel unschul­diges Blut neben Schul­digem ver­gossen zu haben, aber das Leben sei nun einmal Kampf, und am oberen Ende des Kampfs stehe die leib­liche Ver­nichtung des Gegners.
Die geistige Aben­teu­erlust der Bio­na­de­bürger aus den 20er-Jahren des 20. Jahr­hun­derts ist mit der Will­kom­mens­kultur auf­er­standen. Aktuell wird ein dik­ta­to­ri­sches System – der Islam – idea­li­siert und schöngedichtet.


Erst­ver­öf­fent­li­chung auf dem Blog des Autors Wolfgang Prabel www.prabelsblog.de
Lite­ratur: Gert Koenen, Der Rußland-Komplex, C.H. Beck