UNSPECIFIED - JANUARY 26: Fidel Castro (1926-), Cuban politician and revolutionary, left, and Ernesto Rafael Guevara de la Serna, known as Che Guevara (Rosario, 1928-La Higuera, 1967), Argentine revolutionary, photograph. (Photo by DeAgostini/Getty Images)

60. Jah­restag der Revo­lution in Kuba: Von einem der reichsten Länder Latein­ame­rikas zu einem der ärmsten der Welt

Am 1. Januar jährte sich die Macht­über­nahme in Kuba durch Fidel Castro zum 60. Mal. Wie sollte man diese lange Zeit beur­teilen, ins­be­sondere aus der Per­spektive des Durch­schnitts­ku­baners? Die Tat­sache, dass Kuba zur Zeit von Castros Revo­lution eines der reichsten Länder Latein­ame­rikas war, und heute eines der ärmsten ist, sollte als Antwort im Grunde genügen. Aller­dings sind Kubaner um einiges gesünder, als man erwarten würde: Die Lebens­er­wartung ist recht hoch, und die Säug­lings­sterb­lichkeit recht niedrig für ein so armes Land. Die Alpha­be­ti­sie­rungsrate ist eben­falls relativ hoch im Ver­gleich zum Rest Lateinamerikas.
Dies sind die Gründe für sehr viel Lob, mit dem Gelehrte, Experten für öffent­liche Gesundheit und Poli­tiker Castros Regime über­häuft haben. Die Schuld für die offen­sicht­liche Armut des Landes wird dabei dem US-Han­dels­em­bargo gegeben. Manche schlagen sogar vor, wir sollten uns über­legen, wie wir Kubas Gesund­heits­system über­nehmen könnten, freilich ohne die Men­schen­rechts­ver­let­zungen des Regimes mit zu über­nehmen (also die Spreu vom Weizen zu trennen). Trotzdem gehen die Mei­nungen über Fidel Castro auseinander.
Das sollten sie aller­dings aus drei Gründen nicht. Erstens gibt es wis­sen­schaft­liche Beweise dafür, dass das Han­dels­em­bargo zwar nicht hilf­reich war, aber als Erklärung für Kubas relative Armut alleine nicht aus­reicht. Zweitens werden die Fähig­keiten des Regimes, für gesund­heit­liche Ver­bes­se­rungen zu sorgen, über­trieben. Drittens, und das ist am wich­tigsten, ist der Werk­zeug­kasten eines Dik­tators zwar durchaus geeignet, Gesund­heits­er­geb­nisse zu ver­bessern – dies aller­dings zu einem hohen Preis.
Wirt­schafts­wachstum in Kuba seit 1959
Die ober­fläch­liche Betrachtung öffentlich zugäng­licher Daten wie dem Ent­wick­lungs­index der Weltbank zeigt, dass kuba­nische Ein­kommen von 1959 bis in die Mitte der 90er, als Kuba in Folge des Zusam­men­bruchs der Sowjet­union in eine tiefe Rezession fiel, mehr oder weniger kon­stant geblieben sind. Seit den frühen 90ern gab es zwar etwas Wachstum, aller­dings liegt das Pro-Kopf-Ein­kommen unter dem latein­ame­ri­ka­ni­schen Durchschnitt.

Bedenkt man nun, dass selbst zurück­hal­tende Ein­schät­zungen Kubas Wirt­schaft der 1950er als eine der reichsten Latein­ame­rikas sehen (even­tuell sogar reicher als die USA, falls man anderen Wirt­schafts­his­to­rikern ver­traut), sollte das aus­reichen, um zu zeigen, dass die Revo­lution nicht ohne Folgen geblieben ist. Aller­dings darf man die Gründe für die Sta­gnation auch nicht Castro allein zuschieben, denn sonst könnte man sagen, dass die oben genannten Tat­sachen zwar zutreffen, aber das Resultat von US-Hand­lungen und nicht kuba­ni­scher Politik sind.
Glück­li­cher­weise ent­wirren neueste For­schungen von Hugo Jales, Thomas Kang, Guil­herme Stein und Felipe Garcia Ribeiro, ver­öf­fent­licht in der Zeit­schrift The World Economy, die ver­schie­denen Ursachen. Sie zeigen, dass das Han­dels­em­bargo allein als Grund für Kubas wirt­schaft­liche Ent­wicklung seit 1959 nicht aus­reicht. Erstens zeigen sie keine nen­nens­werten Aus­wir­kungen des voll­stän­digen Embargos ab 1962 auf das Pro-Kopf-Ein­kommen, obwohl es Aus­wir­kungen des par­ti­ellen Embargos davor gegeben haben könnte.
Zweitens zeigen sie, dass die nega­tiven Aus­wir­kungen abge­federt wurden, als die Sowjet­union in den 1970er-Jahren anfing, das Regime zu sub­ven­tio­nieren (in dem sie ihm Zucker über den Welt­markt­preisen abkaufte). Zum Schluss ver­sucht die Studie, die Aus­wir­kungen zu ent­wirren, in dem sie das Ende der sowje­ti­schen Sub­ven­tionen beim Zusam­men­bruch der Sowjet­union berück­sichtigt und fest­stellt, dass das Embargo zwar Aus­wir­kungen hatte, diese aber kleiner waren als die der Revo­lution selbst.
Außerdem sollte man bedenken, dass die Schluss­fol­ge­rungen von Jales und seinen Kol­legen ver­mutlich unter­treiben, da sie die kuba­ni­schen Wirt­schafts­daten für bare Münze nehmen, während zahl­reiche Öko­nomen und Wirt­schafts­his­to­riker Zweifel bezüglich der Methoden äußern, mit denen einige der Daten gewonnen werden. Wenn die Daten feh­lerhaft sind, würde das ihren Schluss­fol­ge­rungen nur noch mehr Gewicht verleihen.
Die Gesund­heits­zahlen sind übertrieben
1959 war Kuba nicht nur eines der reichsten Länder Latein­ame­rikas, sondern auch eines der gesün­desten. Es herrschte eine hohe Lebens­er­wartung bei Geburt, und die Säug­lings­sterb­lichkeit war relativ niedrig. Demnach hatte Kuba schon eine sehr gute Aus­gangs­basis. Aller­dings haben viele For­scher auf bedeu­tende Unstim­mig­keiten bei den Zahlen zur Säug­lings­sterb­lichkeit hin­ge­wiesen. Sie haben gezeigt, dass Ärzte frühe Tode nach der Geburt (vor dem 7. Tag) oft als späte Fötustode (vor der Geburt) umklas­si­fi­zierten. Da späte Fötustode bei der Säug­lings­sterb­lichkeit nicht berück­sichtigt werden, frühe Tode nach der Geburt aber schon, wird so die Säug­lings­sterb­lichkeit künstlich gesenkt. Demo­gra­phie­ex­perten haben diese Umklas­si­fi­zierung in den 1970ern in der Sowjet­union eben­falls beob­achtet, als es scheinbar einen Anstieg der Säug­lings­sterb­lichkeit gab.
Diese Art der Umklas­si­fi­zierung hat auch Aus­wir­kungen auf die gemessene Lebens­er­wartung, da späte Fötustode bei der Berechnung der Lebens­er­wartung nicht berück­sichtigt werden. Ich zeige bei For­schungs­er­geb­nissen, die gerade zusammen mit Gilbert Berdine und Ben­jamin Powell in Health Policy & Planning ver­öf­fent­licht wurden, dass diese Methode in Kuba die Lebens­er­wartung für Männer zwi­schen 0,22 und 0,55 Jahren ver­ringert hat.
Außerdem üben Ärzte Druck auf Frauen aus, abzu­treiben (und treiben manchmal sogar gegen deren Willen ab), wenn sie glauben, es handele sich um Risi­ko­schwan­ger­schaften. Da kuba­nische Ärzte für schlechte Gesund­heits­er­geb­nisse bestraft werden, gibt es für sie starke Anreize für dieses Ver­halten. Das erklärt, warum Kuba eine der höchsten Abtrei­bungs­raten der Welt hat. Es ver­ändert auch die Lebens­er­war­tungs­werte. Wenn nur 5% der Abtrei­bungen in Kuba an Müttern voll­zogen werden, die damit nicht ein­ver­standen sind (eine niedrige Schätzung, wenn man eth­no­gra­fische Studien berück­sichtigt), um Geburten zu ver­hindern, die den Tod des Säug­lings nach sich ziehen, würde dies zu einer Senkung der männ­lichen Lebens­er­wartung zwi­schen 1,46 und 1,79 Jahren führen.
In der­selben For­schungs­arbeit zeige ich, dass Kubas relative Armut paradoxe Aus­wir­kungen auf die Gesundheit hat. So können sich Kubaner zum Bei­spiel keine Autos leisten (deren Import außerdem Beschrän­kungen unter­liegt). Darum fahren sie natürlich weniger mit dem Auto. Es erklärt auch, wieso die Auto­dichte in Kuba die geringste in ganz Latein­amerika ist. Weniger zu fahren bedeutet auch eine geringere Wahr­schein­lichkeit, bei Auto­un­fällen zu sterben. In Bra­silien, mit einer achtmal so hohen Auto­dichte wie in Kuba, kosten Auto­un­fälle 0,8 Jahre durch­schnitt­liche Lebens­er­wartung. Außerdem ratio­niert das kuba­nische Regime zahl­reiche Dinge, wie Salz und Ziga­retten. So ist die kuba­nische Gesundheit zum Teil Ergebnis der Armut und einer Politik, die direkt gar nichts mit Gesundheit zu tun hat.
Außerdem zeige ich zusammen mit Jamie Bologna Pavlik, dass die Säug­lings­sterb­lichkeit in den ersten 15 Jahren nach der Revo­lution ange­stiegen ist im Ver­gleich dazu, wie sie ohne die Revo­lution gewesen wäre. Nur wenigen fällt auf, dass die Ver­bes­se­rungen bei der Säug­lings­sterb­lichkeit erst nach 1970 ein­ge­setzt haben, und es davor eine lange Unter­bre­chung des Abwärts­trends bis ca. 1960 gab. Das heißt, dass es von 1960 bis 1970 eine Unter­bre­chung des Trends gab, den es in ver­gleich­baren Ländern nicht gab. Zwi­schen 1959 und 1974 starben wegen Castros Revo­lution 33.000 Kinder zusätzlich.
Zwang ist der Schlüssel
Trotzdem über­flügelt Kuba ver­gleichbare Länder, selbst unter Berück­sich­tigung der Ver­fäl­schung durch das Regime, und die anfäng­lichen nega­tiven Aus­wir­kungen der Revo­lution traten nach und nach in den Hin­ter­grund. Es ist wichtig, an dieser Stelle fest­zu­halten: Die meisten kom­mu­nis­ti­schen Länder schnitten beim Thema Gesundheit gut ab.
So stiegen in der Sowjet­union zum Bei­spiel Lebens­er­wartung und Kör­per­größe (ein Schlüs­sel­in­di­kator für gute Ernährung) bis in die 1970er. Russen ging es also besser als vor dem Ende des Zarismus. Die Alpha­be­ti­sie­rungsrate stieg eben­falls. Es gibt ver­gleichbare Anhalts­punkte für ost­eu­ro­päische Länder unter Sowjetherrschaft.
Warum ist das so? Weil die Herr­scher Anreize haben, die ent­spre­chenden Ergeb­nisse zu ver­bessern, da sie so ihre Macht sichern können. Erstens lässt sich Erziehung zur Indok­tri­nation benutzen, und wurde auch dafür benutzt. Sicherlich können heute mehr Kubaner lesen und schreiben als 1959, aber sie lesen Dinge, die den Macht­erhalt des Regimes sichern. Gleiches lässt sich über die Gesundheit sagen. Kuba­nische Ärzte sind auch Armee­an­ge­hörige, und es wird von ihnen erwartet, dass sie alles über ihre Pati­enten berichten. Also stehen sie bei der Infor­ma­ti­ons­be­schaffung für das Regime an vor­derster Front und tragen so wesentlich zu seinem Macht­erhalt bei. Die schwer­fäl­ligen Werk­zeuge, die Dik­ta­toren für ihren Macht­erhalt ein­setzen, ver­bessern zufällig auch die Gesundheit.
Außerdem betä­tigen sich Dik­ta­toren auch als Sozi­al­planer, und wie alle Sozi­al­planer sind sie sehr gut darin, ein­fache Pro­bleme zu lösen. Zum Bei­spiel sind sie sehr gut darin, einen ein­zigen Indi­kator zu ver­bessern (mit dem sie sich dann inter­na­tional brüsten), in dem sie unter Zwang Res­sourcen zu seiner Ver­bes­serung ein­setzen. Das hat natürlich seinen Preis.
Der Preis, den das Castro-Regime für seine Fokus­sierung auf die Ver­bes­serung der Säug­lings­sterb­lichkeit bezahlt, besteht in der Ver­schlech­terung anderer Gesund­heits­in­di­ka­toren. So hat Kuba zum Bei­spiel eine sehr hohe Müt­ter­sterb­lichkeit, und wenn man die Lebens­er­wartung in Bezug auf schwere Behin­de­rungen kor­ri­giert (schwere Behin­de­rungen Erwach­sener), erhält man deutlich andere Ergeb­nisse als die nicht kor­ri­gierten (für die das Über­leben der Kinder sehr wichtig ist).
Zusätzlich zahlt die Wirt­schaft einen hohen Preis, weil das Regime fast 11% des BIP für Gesund­heits­vor­sorge ausgibt. Fast 1% der arbei­tenden Bevöl­kerung sind Ärzte. Diese Res­sourcen stehen anderen Bereichen der Wirt­schaft natürlich nicht mehr zur Ver­fügung. Kein anderes Land in Latein­amerika leitet so viele Res­sourcen in den Gesund­heits­sektor – nicht einmal die Länder, die Kuba beim Thema Gesundheit übertreffen.
Fazit
Wenn man all das berück­sichtigt, fällt es schwer, zu einer posi­tiven Ein­schätzung des Lebens der Kubaner der letzen 60 Jahre zu gelangen. Hätte es in Kuba keine Revo­lution gegeben, wäre das Land heute gesünder und reicher. Die Ein­schrän­kungen des Lebens der Men­schen sind in Kuba nicht anders als unter jedem kom­mu­nis­ti­schen Regime, weshalb das kuba­nische Regime unsere Ver­achtung verdient.

Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Florian Senne. Der Ori­gi­nal­beitrag mit dem Titel Castro’s Revo­lution on Its 60th Anni­versary ist am 31.12.2018 auf der website der Foun­dation of Eco­nomic Edu­cation erschienen.

Vincent Geloso ist Gast­dozent für Wirt­schafts­wis­sen­schaften am Bates College. Er pro­mo­vierte in Wirt­schafts­ge­schichte an der London School of Economics.