Tägliche Veröffentlichungen zum Thema Mann, Frau und Gender — Teil 4
Für die Feministinnen war das Entkommen aus dieser Geschlechterzuweisung höchstes Ziel. Also hieß es: »Raus aus der weiblichen Rolle!« Und im Zweifelsfall setzte man die Worte »Rein in die männliche Rolle!« hinzu. Eine problematische Strategie, wie sich gezeigt hat. »Umerziehung« ist ein gefährliches Experiment, nicht nur, wenn es angesichts einer gewaltsamen Geschlechtsumwandlung auf die Spitze getrieben wird. Schon die Leugnung spezifischer Unterschiede kann dazu führen, dass Kindern psychische Gewalt angetan wird.
Melanie ist ein solcher Fall. Ihre Mutter war, wie sie selbst sagt, eine »Super-Emanze«. Sie lehnte es ab, den Vater ihres Kindes zu heiraten und zog mit Melanie wenige Wochen nach der Niederkunft in eine Wohngemeinschaft. Zunächst erlebte Melanie eine eher traurige Zeit in einer Krippe, weil ihre Mutter studierte und jobbte. Als sie dann in einen »Kinderladen« kam, das alternative Gegenmodell zum staatlichen oder konfessionellen Kindergarten, begann eine neue Phase für sie. Hier wurden die Kinder zwar ökologisch ernährt und »gewaltfrei« erzogen, aber auch mit anderen Theorien der Achtundsechziger-Bewegung konfrontiert. Dass die Jungen nicht Krieg spielen durften, mag man als gut gemeint hinnehmen. Besondere Aufmerksamkeit aber galt den Mädchen. Sie sollten bloß keine Weibchen werden.
Für Melanie bedeutete das Hosen statt Röcke, Autos statt Puppen, kurze Haare statt langer Locken. Alles wurde vermieden, was möglicherweise die weibliche Rolle verstärkt hätte. Melanie musste Fußball spielen, auch wenn sie keine Lust dazu hatte, und täglich wurde ihr erzählt, dass es die Hölle bedeute, eine Frau zu sein. »Ich erinnere mich noch genau, wie ich einmal mit meiner Mutter einkaufen ging«, erzählte sie mir. »Im Schaufenster sah ich ein pinkfarbenes Kleidchen mit Blümchenmuster und Rüschen. Völlig verzückt zeigte ich darauf: Genau das wollte ich haben! Aber meine Mutter wurde richtig wütend. Sie selber trug ja nur Jeans und T- Shirts, nie habe ich sie in einem Kostüm gesehen. Kleider seien einzig etwas für dämliche Zicken, sagte sie mir, als ich auf dem Blümchen-Outfit beharrte, so etwas käme auf keinen Fall in Frage!«
In der Pubertät rebellierte Melanie. Sie kaufte sich kurze Röcke und schminkte sich zum Entsetzen ihrer Mutter äußerst auffällig. Außerdem trug sie riesige Ohrringe und eine Menge klimpernder Ketten. Als sie mit hochhackigen Schuhen nach Hause kam, erhielt sie eine Ohrfeige, die erste und einzige ihres Lebens. »Du siehst jetzt so aus, wie die Männer uns immer haben wollten!«, beschimpfte die Mutter ihre Tochter. »Wundere dich nicht, wenn du vergewaltigt wirst!«
Es war nicht allein pubertärer Trotz, der Melanie ins andere Extrem fallen ließ. Zahlreiche wissenschaftliche Experimente haben belegt, wie unterschiedlich Mädchen und Jungen schon in frühen Jahren auf bestimmte visuelle Reize reagieren. Einjährige Mädchen schauen ihre Mütter viel länger an als gleichaltrige Buben. Und wenn man Kleinkindern unter drei Jahren Filme zeigt, so blicken Mädchen länger und intensiver Sequenzen an, die Gesichter im Mittelpunkt haben, während sich Jungen, wen wundert es, vornehmlich für Einstellungen mit Autos interessieren.
Jede Mutter erlebt, wie sich das bei ihren Kindern auswirkt: Man kann einem Jungen noch so viele Puppen schenken, er wird immer Bälle, Elektronik und Kampfspielzeug bevorzugen. Und auch dann; wenn man Mädchen täglich auf den Fußballplatz schickt, werden sie anschließend wieder lieber mit Puppen, Stoffen und Schmuck spielen. Der Versuch, diese Veranlagung durch erzieherische Maßnahmen zu ändern, schlägt so gut wie immer fehl, es sei denn, man verwechselt Erziehung mit Zwang.
Dennoch werden die Unterschiede weiter ignoriert, selbst von der Politik. Anders ist nicht zu erklären, dass heute in unseren Schulen immer stärker versucht wird, Mädchen und Jungen konsequent gleich zu behandeln. Die sogenannte Koedukation, also der gemeinsame Unterricht für Mädchen und Jungen, treibt dabei die seltsamsten Blüten: So müssen Jungen oft Kochen, Backen und Nähen lernen, obwohl sie sich dafür nicht im Geringsten begeistern können.
Verstärkt wird das durch die Feminisierung der schulischen Erziehung. Sie befindet sich hierzulande überwiegend in Frauenhänden – der Anteil von Lehrerinnen in der Grundschule liegt bundesweit bei über 90 Prozent, in der Sekundarstufe I bei über 70 Prozent und auch im Gymnasium ist ein Anteil von 50 Prozent erreicht, bei steigender Tendenz.
Dies führt dazu, dass die speziellen Begabungen von Jungen und Mädchen aus dem Blickfeld geraten. Die weltweit durchgeführte PISA-Studie hat gezeigt, dass die schulischen Leistungen wesentlich besser ausfallen, wenn Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet werden. Der Grund: Die charakteristischen Unterschiede der Wahrnehmung, des Lernverhaltens und der Stressbewältigung können dadurch besser berücksichtigt werden.
Diejenigen, die unter der Koedukation und der Masse der weiblichen Erzieher eindeutig leiden, das sind die Jungen. Sie dürfen ihre geschlechtsbedingte, natürliche Aggressivität nicht ausleben, sondern sollen – statt der typischen Wettkampf- und Konkurrenzspiele immer hübsch harmonisch agieren, als sei die Welt ein Bambiland. Problematisch bei der Unterdrückung typisch männlicher Kampfmuster ist, dass die Jungen nicht die dazugehörige Versöhnung lernen und auch später als Erwachsene Schwierigkeiten damit haben.
Dass sich dieser unterdrückte Kampfgeist Ventile sucht, liegt auf der Hand. Und so nimmt es nicht wunder, dass gerade Jungen schlechtere Schulleistungen vorweisen, mit zunehmendem Alter überproportional verhaltensauffälliger und gewaltbereiter werden als Mädchen und Frauen. Die Kriminalitätsstatistik belegt es: Vom Verkehrsdelikt bis zum Raubmord, es gibt wesentlich mehr männliche Täter als weibliche.
Teil 5: Die Vermännlichung der Frau
Wichtige Erkenntnisse über die physiologischen Gründe von geschlechtsspezifischen Verhaltensunterschieden lieferten die Hormonforscher. Auch das Beispiel von Bruce/Brenda hatte gezeigt, dass keine Geschlechtsänderung möglich, war, dennoch vermutete man aber einen Zusammenhang zwischen Hormonhaushalt und Verhalten.
Eine seltene Krankheit in Indien brachte die Wissenschaftler auf die Spur. In einer Familie verwandelten sich aufgrund eines genetischen Defekts mehrere als Mädchen geborene Kinder während der Pubertät allmählich in Jungen. Durch die falsche Hormonsteuerung veränderten sie jedoch nicht nur ihr äußeres Erscheinungsbild. Als ihnen plötzlich Barthaare wuchsen, die Stimme brüchig wurde und der Busen sich zurückentwickelte, legten sie auch ihre weiblichen Verhaltensformen ab.
Aus der Zoologie wusste man schon länger, dass durch gezielte Hormongaben vorübergehende Verhaltensänderungen erzeugt werden können. Bei Tierversuchen hatte man zum Beispiel herausgefunden, dass eine regelmäßige Testosteronzufuhr bei Zebrafinkenweibchen zu einer deutlichen Umformung jener Hirnareale führte, die für den Gesang zuständig sind. Als das Testosteron abgesetzt wurde, bildeten sich diese Areale auf ihre Normalform zurück. Durch die Hormongaben konnte das Weibchen also »ähnlich« singen wie ihr männliches Pendant. Ein Männchen aber wurde es dadurch nicht.
Spannend wird es, wenn wir uns damit auseinandersetzen, dass Hormone auch der Grund dafür sind, dass selbst kleinere Mädchen und Jungen auf unterschiedliche Art und Weise aggressiv bei Stress reagieren. Testosteron, ein vorwiegend männliches Geschlechtshormon, sorgt dafür, dass das Verhalten bei Jungen eine deutlich provokativere Komponente erhält. Das männliche Konkurrenzverhalten muss man deshalb auch als Ausdruck eines entsprechend geschlechtsspezifischen Hormonspiegels begreifen.
Es ist aufschlussreich, sich einmal anzusehen, was Testosteron alles bewirkt. Es lässt Muskeln wachsen und macht stark, andererseits erhöht es die Konzentration von Cholesterinlipiden im Blut, weshalb Männer eher an Herz-und Gefäßerkrankungen leiden und auch nicht so lange leben wie Frauen. Die weiblichen Hormone, etwa Östrogene oder das Gelbkörperhormon, bieten Frauen dagegen einen gewissen Schutz: vor zu viel Blutfett und auch das wird wenigstens vermutet – vor anderen Krankheiten wie Autismus und Immunstörungen, die bei Männern in viel größerer Häufigkeit auftreten als bei Frauen.
Wenn Frauen heute ein anstrengendes, auf Konkurrenz beruhendes Berufsleben bewältigen müssen, kann sich ihr Testosteronspiegel erhöhen, weil er offenbar hilft, die anstehenden Aufgaben besser zu bewältigen. Bekanntlich können weibliche Sportler durch Testosteronzugaben ihre Muskeln vergrößern und auf diese Weise ihre Leistung erhöhen. Zu Männern mutieren sie dadurch zwar nicht, der Preis dafür ist jedoch eine tiefere Stimme, Ansätze von Bartwuchs und eine Zurückbildung der weiblichen Brust. Aber auch ganz normale Frauen können an sich beobachten, wie sich schon schwache Veränderungen des Hormonspiegels, ausgelöst durch belastende Lebensumstände, bemerkbar machen. Biologen wissen heute recht genau, wie sich der Hormonhaushalt von Frauen verschiebt, die männliche Verhaltensweisen übernehmen.
Und wie eine solche Veränderung aussieht, bekam ich aus persönlicher Erfahrung zu spüren: Als die Ehe mit dem Vater meines Kindes zu Ende war und ich mich als alleinerziehende Mutter wiederfand, nahmen Stress/Überlebensängste und Existenzzweifel in mir überhand. Eine verständliche Reaktion, denn plötzlich sah ich mich in der Verantwortung für zwei Leben – meinem und dem noch viel schützenswerteren meines Kindes. Ein Jahr nach der Trennung fielen mir die Haare büschelweise aus, ein Umstand, der keiner Frau besonders große Freude bereitet. Ich sah bereits meine Arbeit beim Fernsehen gefährdet und ließ mich ärztlich untersuchen. Der Befund war eindeutig: Mein Hormonspiegel enthielt zu wenig Östrogene, also weibliche Hormone, dafür einen deutlichen Überschuss von Testosteron.
Dass ich gleichzeitig einige Kilo Gewicht verlor, mag an den Strapazen dieser anstrengenden Zeit gelegen haben, doch auch der Östrogenmangel spielte dabei eine entscheidende Rolle. Der Gewichtsverlust sorgte dafür, dass mein Körper einige weibliche Rundungen verlor, dass ich schmaler und knabenhafter wirkte. Ganz eindeutig war ich auf dem besten Wege, mich zu »vermännlichen«, ausgelöst durch eine Überforderung.
Diese Beobachtung machen immer mehr Ärzte. Die hormonellen Folgen bei der Übernahme männlicher Aufgaben mit all ihren Konflikten sind beispielsweise Hautärzten gut bekannt. Viele Frauen klagen neuerdings auch jenseits der Pubertät über Akne. Der Grund für diese »Spätakne« sind meist Hormonstörungen, die durch unbewältigten Stress ausgelöst werden. Die vermehrte Ausschüttung von männlichen Hormonen führt medizinisch gesehen zu einer stärkeren Verhornung der Haut, was Akne stark begünstigt. Es ist also buchstäblich so, dass Frauen »eine dickere Haut« bekommen, wenn sie unablässig großen Überanstrengungen ausgesetzt sind. Die Kosmetikindustrie hat übrigens längst reagiert und bietet zunehmend-Anti-Akne-Produkte an, die für Frauen über dreißig gedacht sind.
Dass sich auch die Mode auf solche körperlichen Veränderungen einstellen muss, kann ein Blick in Boutiquen bestätigen. Die typisch weiblichen Rundungen, wie sie Östrogene erzeugen, verschwinden, die sogenannte Sanduhr-Figur wird immer seltener. Daher muss bei den Schnitten der Kleidung berücksichtigt werden, dass die Hüften der Frauen allgemein schmaler geworden sind und die Oberweite kleiner – bei gleicher Konfektionsgröße.
Gleichzeitig veränderte sich das Schönheitsideal. Marilyn Monroe, das Sexsymbol der sechziger Jahre, trug noch Größe 42 (nach damaligen Maßstäben) heute ist es undenkbar, dass eine unserer jetzigen Film- oder Model-Ikonen mit dieser Kleidergröße Karriere gemacht hätte. Weibliche Formen sind verpönt, und die Supermodels machen uns vor, dass die perfekte Frau einzig aus Haut und Knochen besteht. Vor zwanzig Jahren wogen die Models übrigens 8 Prozent weniger als die Durchschnittsfrau, heute sind es schon 23 Prozent.
Wer all diese Dinge zu reinen Äußerlichkeiten erklärt, der verkennt, wie sehr die Orientierung an männlichen Rollen in den Seelenhaushalt und die körperliche Gesundheit von Frauen eingreift.
Auszug aus dem Bestseller Das Eva-Prinzip von Eva Herman, erschienen 2006