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Türkei: Zehn­tau­sende werden wegen “Belei­digung” Erdoğans angeklagt

von Uzay Bulut

  • Seit der Wahl des tür­ki­schen Prä­si­denten Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2014 wurden 66.691 “Ermitt­lungen wegen Belei­digung” ein­ge­leitet, was zu bisher 12.305 Pro­zessen führte, und die “Zahlen sind im Steigen begriffen”. — Yaman Akdeniz, Pro­fessor für Juris­prudenz, Uni­ver­sität Bilgi, Istanbul.
  • Ahmet Sever, ein Sprecher des ehe­ma­ligen tür­ki­schen Prä­si­denten Abdullah Gül, hat ein Buch ver­fasst, in dem er schrieb: “Wir stehen vor einer Regierung, genauer gesagt vor einem Mann, der Bücher für gefähr­licher hält als Bomben”.
  • In der Zwi­schenzeit spielt Erdoğan wei­terhin ein Dop­pel­spiel mit dem Westen, als Teil seines jahr­zehn­te­langen Strebens, Mit­glied der Euro­päi­schen Union zu werden. Dieser Plan mag der Grund dafür sein, warum sein Jus­tiz­mi­nister im Dezember ange­kündigt hat, dass er eine neue Stra­tegie für eine Jus­tiz­reform vor­legen wird. Die EU sollte nicht auf diesen trans­pa­renten Trick her­ein­fallen. Statt­dessen sollte sie fordern, dass die tür­kische Regierung die Ver­folgung unschul­diger Men­schen ein­stellt — ein­schließlich der­je­nigen, deren ein­ziges “Ver­brechen” die Kritik an Erdoğan ist.

Die Kri­mi­na­li­sierung der “Prä­si­den­ten­be­lei­digung” in der Türkei erreichte Anfang März einen neuen Tief­punkt, als sich ein Vater und eine Tochter in Ankara gegen­seitig vor­warfen, sich im Rahmen einer internen Fami­li­en­fehde an der straf­baren Handlung beteiligt zu haben.
Laut dem Pro­fessor der Juris­prudenz der Bilgi-Uni­ver­sität Istanbul, Yaman Akdeniz, wurden seit der Wahl des tür­ki­schen Prä­si­denten Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2014 66.691 “Ermitt­lungen wegen Belei­digung” ein­ge­leitet, was zu bisher 12.305 Pro­zessen führte, und die “Zahlen sind im Steigen begriffen”.
Özgür Aktütün, Vor­sit­zender des Vereins der Alumni-Sozio­logen, sagte der unab­hän­gigen tür­ki­schen Tages­zeitung BirGün, dass die Türkei zwar seit dem Osma­ni­schen Reich “eine Gesell­schaft von Infor­manten” sei, aber “was in letzter Zeit auf­fällt, ist der [zügellose] Einsatz von [Whist­le­b­lowing] in allen Fragen”.
“Prä­si­den­ten­be­lei­digung” ist ein Ver­brechen im Sinne von Artikel 299 des 1926 ver­ab­schie­deten tür­ki­schen Straf­ge­setz­buches. Wenn sie ver­ur­teilt werden, stehen Ange­klagte vor bis zu vier Jahren Gefängnis — und länger, wenn die Belei­digung öffentlich war.
Human Rights Watch (HRW) ver­ur­teilt diese Praxis. Im Oktober 2018 sagte Ben­jamin Ward, stell­ver­tre­tender Direktor für Europa und Zen­tral­asien von HRW:
“Tür­kische Gerichte haben in den letzten vier Jahren Tau­sende von Men­schen ver­ur­teilt, nur weil sie sich gegen den Prä­si­denten aus­ge­sprochen haben. Die Regierung sollte diese Ver­höhnung der Men­schen­rechte beenden und das Recht der Men­schen in der Türkei auf fried­liche, freie Mei­nungs­äu­ßerung respektieren.”
Dies war nicht das erste Mal, dass HRW die Regierung Erdoğan auf­for­derte, die Ver­folgung von Per­sonen wegen Prä­si­den­ten­be­lei­digung ein­zu­stellen. In einem Artikel aus dem Jahr 2015 zu diesem Thema schrieb HRW:
“Figuren der tür­kische Regierung behaupten regel­mäßig, dass belei­di­gende Worte keine Rede­freiheit sind. Gremien wie der Euro­parat, die Euro­päische Kom­mission, die Orga­ni­sation für Sicherheit und Zusam­men­arbeit in Europa sowie Men­schen­rechts­gruppen in der Türkei und inter­na­tional haben diese Position und die regel­mäßige Ein­schränkung der Mei­nungs­freiheit durch die Türkei wie­derholt kri­ti­siert. Der Euro­päische Gerichtshof für Men­schen­rechte (EMRK) hat wie­derholt Urteile gegen die Türkei erlassen, in denen er Ver­stöße gegen das nach Artikel 10 der Euro­päi­schen Kon­vention geschützte Recht auf freie Mei­nungs­äu­ßerung fest­ge­stellt hat…
“Seit Ende 2014 ver­folgen die Behörden mit Erlaubnis des Jus­tiz­mi­nisters eine Reihe solcher Fälle, auch gegen Kinder, und mehrere haben zu kurzen Zeiten der Unter­su­chungshaft geführt… In einigen Fällen han­delte es sich um münd­liche Äuße­rungen, in anderen um Kritik auf Social Media. In keinem Fall hat der Ange­klagte Gewalt ange­wendet oder dazu angestiftet.”
Es ist traurige Ironie, dass die “Prä­si­den­ten­be­lei­digung” eines der wenigen Themen ist, bei denen es in der Türkei keine staat­liche Dis­kri­mi­nierung auf­grund sozio­öko­no­mi­scher, geschlechts­spe­zi­fi­scher oder eth­ni­scher Aspekte gibt. Tat­sächlich wurden Men­schen aller Gesell­schafts­schichten wegen dieser angeb­lichen Straftat unter­sucht oder ver­folgt, ein­schließlich Gym­na­si­asten. Zwei Jugend­liche wurden kurz­zeitig fest­ge­nommen und 2015 vor Gericht gestellt, nachdem sie bei­spiels­weise in ihren Reden und Slogans während einer Ver­an­staltung in Konya “den Prä­si­denten beleidigt” hatten.
Der Chef der wich­tigsten Oppo­si­ti­ons­partei, CHP, im tür­ki­schen Par­lament, der CEO der Bank HSBC Turkei, der Nach­rich­ten­sprecher der tür­ki­schen Fox News, zwei berühmte Schau­spieler, ein ehe­ma­liger Richter und ein 78-jäh­riger Bürgersind alles Bei­spiele für Per­sonen, die wegen “Belei­digung Erdoğans” verhört, ver­folgt, ver­klagt oder ins Gefängnis geworfen wurden.
Andere, die für diese Straftat bestraft wurden, sind der ehe­malige Ko-Prä­sident der oppo­si­tio­nellen Demo­kra­ti­schen Volks­partei (HDP), der eine 18-monatige Haft­strafe verbüßt, ein wei­teres HDP-Mit­glied, das letztes Jahr seines Par­la­ments­mandats ent­hoben wurde, und Ahmet Sever, ein Sprecher des ehe­ma­ligen tür­ki­schen Prä­si­denten Abdullah Gül, der ein Buch ver­fasst hat, in dem er schrieb: “Wir stehen vor einer Regierung oder, genauer gesagt, vor einem Mann, der Bücher für gefähr­licher hält als Bomben”.
Die Benutzung von Artikel 299 durch Erdoğan als Ein­schüch­te­rungs­taktik kann sehr effektiv sein: Wenn pro­mi­nente Per­sön­lich­keiten wie Sever vor Gericht landen, weil sie es gewagt haben, die Regierung zu kri­ti­sieren, welche Chance haben dann Durch­schnitts­bürger, sich für ihr Recht auf Mei­nungs­äu­ßerung zu wehren? Wenn Erdoğan jedoch glaubt, dass das Schweigen seines Volkes eine Mög­lichkeit ist, einen Wür­ge­griff auf seine fast absolute Macht zu halten, dann berück­sichtigt er viel­leicht nicht die Tat­sache, dass immer mehr Türken frus­triert und wütend sind.
In der Zwi­schenzeit, während Erdoğan wei­terhin jeden inhaf­tiert, der sich seiner Herr­schaft wider­setzt, spielt er ein Dop­pel­spiel mit dem Westen, als Teil seines jahr­zehn­te­langen Strebens, Mit­glied der Euro­päi­schen Union zu werden. Dieser Plan mag der Grund dafür sein, warum sein Jus­tiz­mi­nister im Dezember ange­kündigt hat, dass er eine neue Stra­tegie für eine Jus­tiz­reform vor­legen wird. Die EU sollte nicht auf diesen trans­pa­renten Trick her­ein­fallen. Statt­dessen sollte sie fordern, dass die tür­kische Regierung die Ver­folgung unschul­diger Men­schenein­stellt — ein­schließlich der­je­nigen, deren ein­ziges “Ver­brechen” die Kritik an Erdoğan ist.


Quelle: Gatestone Institute